❥ Chapter 14

Lyas POV

Schulwoche Nummer eins habe ich irgendwie überstanden und nun steht mir Schulwoche Nummer zwei bevor. Alle sagen, es würde irgendwann leichter werden, aber das bezweifle ich. Die zweite Woche beginnt nämlich noch schlimmer als die erste.

Schweißgebadet wache ich aus einem Albtraum auf. Schon wieder. Und wieder habe ich Nick blutüberströnt und tot in seiner Badewanne gefunden. Doch diesmal war es nicht nur das, was ich gesehen habe. Es kam noch viel mehr dazu. In der nächsten Traumsequenz war ich in der Schule und saß gemeinsam mit Maddie, Jonah und Alec in der Mensa. Dann stand Nick plötzlich neben mir.

"Euch geht's wohl gut ohne mich, was? Wie ich sehe, habt ihr auch schon Ersatz gefunden." Er deutete auf Alec.

"Nein, so ist das nicht", erwiderte ich mit Entsetzen und drehe mich zu ihm.

"Ach, was. War ja klar, dass ihr mich nicht vermissen würdet." Seine Stimme hatte seine Mischung aus Wut, Verletzlichkeit und Verachtung in sich. So habe ich ihn noch nie reden hören.

"Nein, das stimmt nicht, Nick", schrie ich ihn mit Tränen in den Augen an.

"Oh doch. Aber das ist okay, denn es ist sowieso schon längst zu spät, Lya." Nicks Stimme war von Kälte umhüllt. Er drehte sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Ich sprang auf und rannte ihm hinterher. "Warte, Nick! Bitte geh nicht!", flehte ich ihn unter Tränen an, doch er ging, ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzudrehen. Ich wiederholte meine Rufe lauter und verzweifelter, doch er war verschwunden und ich lag alleine und zusammengekauert auf dem Flur.

Das war mit Abstand der schlimmste Albtraum, den ich bisher hatte. Ich setze mich auf und streiche mir mit den Händen übers Gesicht. Wann hat das endlich ein Ende? Ich halte das nicht mehr aus. Vielleicht sollte ich wirklich mal Ernst machen mit der Therapie und Mrs Jensen von diesen Träumen erzählen, bevor sie noch schlimmer werden.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich in 10 Minuten aufstehen muss, also bleibe ich im Bett sitzen und starre in die Dunkelheit. Ob Nick das wirklich denken würde, wenn er uns jetzt sehen würde? Dass auch Alec in meinem Traum vorkam, ignoriere ich. Obwohl... Nick hätte mich niemals alleingelassen. Aber genau das hat er getan... Gott, mein Kopf schmerzt von den vielen Fragen. Warum musste er sich das Leben nehmen und damit so viele andere Leben in Stücke reißen?

Weil mich dieses ganze Nachdenken noch wahnsinnig macht, stehe ich noch vor meinem Wecker auf und mache mich bereit für die Schule.

Viel zu früh gehe ich in die Küche und sehe Dad am Tisch sitzen. Überrascht sieht er zu mir. "Guten Morgen, Lya. Ich habe nicht erwartet, dich heute morgen zu sehen."

Ich setze mich neben ihn. "Ich war früher wach, also bin ich schonmal aufgestanden."

Er mustert mich kurz, doch sein Handyalarm klingelt. Er steht auf und stellt seine Tasse in das Waschbecken. "Okay. Ich muss leider schon los, aber deine Mom kommt jeden Moment runter. Bis heute Abend." Dad nimmt seine Jacke und Tasche und verschwindet durch dir Haustür.

In diesem Moment höre ich Schritte die Treppe herunterkommen und sehe Mom um die Ecke kommen. Auch sie ist überrascht mich zu sehen, bemekt aber sofort, dass etwas nicht stimmt. "Guten Mogen, Schatz. Warum bist du schon auf? Was ist passiert?" , fragt sie sanft und kommt auf mich zu. Das ist der Moment, indem ich komplett zusammenbreche und sie mich in den Arm nimmt. Ich weine und das diesmal nicht leise, sondern laut. Mir ist egal, dass es noch früh ist. Ich kann es nicht mehr in mir halten. Ich schluchze und lasse den ganzen Schmerz raus, den ich seit Monaten unterdrücke. Mom steht einfach bei mir und hält mich. Sie lässt mich weinen, bis ich das letzte bisschen Flüssigkeit, das noch in mir war, ausgeweint habe und mich langsam von ihr löse.

"Wie wär's: Ich mache uns einen Kakao, wir setzen uns auf die Couch und reden", schlägt sie mit ruhiger Stimme vor. Mit pochenden Augen schaue ich sie an und kann den Schmerz in ihren Augen sehen. Ich nicke und sie geht zum Kühlschrank, um eine Packung Milch rauszuohlen, mit der sie als nächstes das Pulver aus dem Schrank zusammenmischt.
Mit zwei Tassen Kakao gehen wir Arm in Arm ins Wohnzimmer und setzen uns nebeneinander auf die Couch.

"Also... möchtest du mir erzählen, was passiert ist?", fragt sie sanft und sieht mich dabei an. Meinen Blick habe ich starr auf den Kakao vor mir gerichtet. Möchte ich das?
"Du hattest wieder einen Albtraum, oder?", spricht sie die Wörter aus, die ich nicht herausbekomme.

"Ja", murmle ich, meinen Blick immer noch von ihr abgewendet.

Sie legt ihren Arm um mich. "Erzähl mir davon, Schatz. Ich bin da und höre dir zu."
Und ich erzähle es ihr. Von dem toten Nick in der blutüberströmten Badewanne, bishin zur Schulmensa und seinem Weggehen. Die Erwähnung von Alec lasse ich jedoch aus. Die ganze Zeit über hört Mom zu und streicht mir über den Rücken, sobald ich wieder anfange zu weinen. Noch nie fiel es mir so schwer, Worte aus meinem Mund zu bekommen. Doch als sie endlich raus sind, fühle ich mich ein Stück befreiter.

"Es ist okay, Schatz. Ich will dir nichts vormachen und sagen, dass es schnell vorbei geht, aber es wird besser. Vertrau mir." In ihrer Stimme spiegelt sich wider, wie sehr sie mit mir leidet.

"Und wie?", ich sehe sie an. "Wie soll ich diese Bilder vergessen? Ich kann es einfach nicht. Wie konnte er mir das nur antun, Mom? Ich hasse ihn." Wütend schlage ich auf das neben mir liegende Kissen. "Ich hasse ihn so sehr!" Meine Stimmer bricht und ich fange wieder an zu weinen.

"Tschüss, Mom. Bis heute Abend", verabschiedet sich Tessa und fliegt schnell durch die Tür.

"Okay Lya, hör zu. Ich rufe gleich in der Schule an und und melde dich für heute krank. So kann ich dich nicht hinschicken. Nimm dir heute ein bisschen Auszeit und morgen gehst du dann wieder, okay? Sofern es morgen etwas besser sein sollte."

Mehr als ein Nicken bekomme ich nicht hin, doch das reicht ihr als Antwort. Ich bin froh, dass Mom so nachsichtig mit mir ist und einfach da ist.

"Soll ich Mrs Jensen anrufen?", fragt sie.

"Nein, bitte nicht. Ich mache das am Donnerstag selbst. Ich schaffe das schon." Mit einen angestregten Lächeln versuche ich sie zu überzeugen. Ich möchte nicht, dass sie wieder mit ihr redet. Sie ist meine Therapeutin und wenn ich möchte, dass es besser wird, muss ich mit ihr reden und das nicht noch über eine dritte Person laufen lassen.

"Gut, aber wenn etwas ist, sag uns bitte bescheid, ja? Du bist uns wichtig, Lya."
Die Worte hallen in mir nach. Nick war mir auch immer wichtig und ist es noch, aber er hat nie etwas gesagt. Und ich habe ihm nie das gesagt, was Mom mir gerade gesagt hat. Dabei dachte ich, dass es eigentlich klar sei. Wer weiß, vielleicht hätten diese Worte etwas verändert. Verdammt, warum haben wir nie über sowas gesprochen?

Ein Klingeln an der Haustür reißt mich aus den Gedanken. "Maddie."

"Ich mache das schon." Mom steht auf und geht zur Tür.

Da ich wissen möchte, was sie ihr sagen wird, stelle ich mich verdeckt in den Türrahmen des Wohnwimmers.

"Hallo, Maddie. Tut mir leid, Lya geht es heute nicht so gut."

"Oh.. okay. Das kommt sie wohl heute nicht mit, oder?" Da ich keine Antwort höre, nickt Mom wohl nur.

"Okay, sagen Sie ihr gute Besserung von mir." In Maddies Stimme kann ich Besorgnis heraushören.

"Mache ich."

"Ist es denn was ernstes?", platzt es ihr heraus. "Tut mir leid, ich mache mir bloß Sorgen."

"Nein, das ist veständlich. Es ist alles soweit in Ordnung." Mom senkt ihre Stimme. "Ich glaube die letzte Woche war etwas viel für sie." Nun ist auch ihre Stimme voller Sorge.

"Verstehe... Aber sie hat sich wacker geschlagen, muss ich sagen. Sie ist eine wirklich starke Person, Mrs Healey", sagt meine beste Freundin und versucht meine Mom zu bestärken.

Das reicht mir und ich setze mich wieder auf die Couch und schalte den Fernseher an. Ich bekomme so gut wie nichts von dem mit, was läuft, weil ich zu sehr mit meinen Gedanken beschäftgit bin.

"Ich rufe dann jetzt mal in der Schule an und danach auf meiner Arbeit, damit ich heute bei dir sein kann."

"Was?" Mein Kopf schnellt herum zu Mom. "Nein, das musst du nicht. Ich gehe gleich sowieso in mein Zimmer und bleibe da auch den restlichen Tag. Du musst also nicht hier bleiben. Ich habe alles, was ich brauche. Ehrlich Mom, du musst nicht auf mich aufpassen." Ich habe sie wirklich sehr lieb, aber ich kann es heute wirklich nicht gebrauchen, dass sie um mich herumschwirrt und mich mit ihrem besorgten Blick anschaut.

Sie sieht mich mit verengten Augen an und dieser Blick schreit förmlich ihr Misstrauen mir gegenüber. "Auf keinen Fall, Lyana." Jetzt wird's ernst. Denn wenn die eigene Mutter deinen vollen Namen auspricht, bedeutet das nie etwas gutes. "Du hattest eben einen Zusammenbruch und jetzt soll ich dich auch noch den Tag über alleine lassen?", fragt sie ironisch. "Das ist doch wohl nicht dein Ernst! Ich will auf keinen Fall, dass ich dich als nächstes leblos hier vorfinde", sagt sie barsch.

Ich sehe sie nur an und in ihren Augen kann ich die Ernsthaftigkeit und auch eine Spur von Angst erkennen. Seit Nick sich das Leben genommen hat, lebt Mom in ständiger Angst, dass ich mir auch etwas antun würde, obwohl ich dachte, dass sie ihre Angst mittlerweile abgelegt hätte. Doch wie es scheint, ist sie davon noch sehr weit entfernt.

"Mom, ich werde mir nichts antun, wie oft soll ich das noch sagen?"

"Vielleicht bis ich auch das Gefühl habe, dass es dir auch wirklich besser geht. Wir hätten dich besser..." Sie verstummt.

"Ihr hättet mich besser was, Mom? In die Klapse geschickt?", beende ich aufgebracht ihren Satz.

"Lya!", ruft Mom entsetzt aus.

"Nein, schon gut. Ich gehe in mein Zimmer." Vorher stelle ich meine Tasse in die Spüle zu der meines Dads und gehe dann schnurstraks in mein Zimmer.

*

Von lauten Geräuschen werde ich wach und erkenne die Stimmen meiner Eltern, die mal wieder miteinander diskutieren.

"Du hast sie heute morgen auch nicht so fertig erlebt wie ich, John. Vielleicht hätten wir sie doch den Sommer über wohin schicken sollen, damit sie etwas Abstand von allem gewinnen kann", höre ich Moms Stimme gedämpft durch meine Zimmertür.

"Du weißt aber auch, dass dies das Letzte war, was sie hätte tun wollen. Sie wollte nirgens hin und wir konnten ihr auch nicht noch mehr wegnehmen, als sie sowieso schon verloren hat, Schatz", antwortet Dad. In manchen Dingen hat er mich schon immer besser verstanden als Mom.

"Ich weiß. Aber ich weiß nicht, wie lange ich sie so noch sehen kann. Das kann doch nicht ewig so weitergehen." In Moms Stimme kann ich ganz deutlich die Verzweiflung hören, mit der sie mir heute morgen in die Augen gesehen hat.

"Das wird es nicht. Es wird schon wieder. Sie ist in Therapie und durch die Schule hat sie wieder eine Routine, der sie folgen kann. Maddie ist auch noch da und hilft ihr, wo sie kann. Sie ist nicht alleine, Schatz." Mit seiner ruhigen Stimme versucht er Mom gut zuzureden. Ob er wirklich das glaubt, was er sagt, weiß ich nicht genau, aber es scheint zu wirken.

Ein Schluchzen ist zu hören und mein Magen zieht sich zusammen. Ich wollte meinen Eltern nie eine große Last sein und jetzt weint Mom wegen mir. Sofort steigt das Gewicht der Schuldgefühle in mir.

"Ich habe einfach nur Angst um sie. Ich habe Angst, eines Tages in ihr Zimmer zu gehen und sie tot auf dem Boden zu finden. Das würde ich nicht ertragen."

Tränen steigen mir in die Augen. Warum denkt sie, ich würde mir etwas antun, nur weil Nick es getan hat?

"Ich doch auch nicht, Elle. Aber wir tun alles für sie, was wir können, aber wir können sie nicht dazu zwingen, mit uns zu reden. Wenn sie bereit dazu ist, wird sie schon auf uns zukommen. Sie zu zwingen ist nicht der richtige Weg. So stoßen wir sie nur noch weiter von uns weg." Dad war schon immer der Rationaldenkenste der beiden. Vielleicht ergänzen sie sich deshalb auch so gut.

Klar, nur weil ich von einem Traum erzählt habe, ist es noch nicht vorbei. Bisher habe ich ihnen noch nicht einmal erzählt, was damals genau passiert ist. Sie wissen nur das, was Mrs Clarke ihnen erzählt hat, aber nicht das, was ich dabei gefühlt habe.

*

Am Dienstagmorgen gehe ich wieder mit Maddie zur Schule. Sie fragt nicht genauer nach, warum ich gestern nicht in der Schule war, sondern erzählt mir, was ich verpasst habe. "Eigentlich hast du gestern nicht wirklich viel verpasst. Der Unterricht war wie immer und wir haben zu größten Teil nur Wiederholungen und Übungen gemacht. Hausaufgaben hatten wir keine auf, aber das habe ich dir ja gestern noch geschrieben."

"Okay", antworte ich kurz angebunden. Heute fühle ich mich noch weniger kommunikativ als sowieso schon, da meine Gedanken immer noch an dem gestrigen Gespräch zwischen meinen Eltern hängen.

In der Schule angekommen klingelt es auch schon und wir verabschieden uns, da ich nun Psychologie habe und Maddie Mathe.

Angelehnt an einer Wand neben dem Raum warte ich auf unseren Lehrer.

"Hey" , begrüßt Alec mich und lehnt sich mir gegenüber ebenfalls an die Wand.

"Hi", grüße ich ihn ebenfalls und schaue kurz auf.

"Geht's dir wieder besser?", fragt er ehrlich interesiert.

"Ja", versuche ich so gut es geht überzegend zu klingen und er scheint es mir zu gauben.

"Das ist gut." Verwirrt ziehe ich meine Augenbrauen zusammen und sehe wieder zu ihm auf, doch diesmal halte ich seinen Blick und suche nach Anzeichen, ob das ironisch gemeint war oder nicht, doch es ist nichts zu erkennen. "Wieso?", frage ich schließlich nach.

Er lächelt verwirrt und legt seinen Kopf leicht schief. "Na ja, fragt man sowas nicht immer, wenn jemand krank war? Ist doch gut, wenn man wieder schnell gesund wird."

"Stimmt." Natürlich. Gott, ist das peinlich. Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden und senke meinen Blick. Was habe ich denn gedacht? Das ist nunmal Höflichkeit und ganz normal. Na ja, sollte es zumindest sein. Alle, die mir sonst diese Frage stellen, haben immer nur andere Dinge im Sinn, aber Alec weiß nichts von Nick und denkt vermutlich, ich hätte mir vielleicht nur den Magen verdorben oder sowas. Und da wird mir eins klar: Alec weiß nichts. Er ist absolut ahnungslos und das beruhigt mich irgendwie. Für ihn bin ich wie ein leeres Blatt und nicht die beste Freundin des toten Jungen.

In diesem Moment kommt auch schon Mr Davis und schließt den Raum auf, damit wir den Unterricht beginnen können.

"Ist es in Ordnung, wenn ich mich wieder neben dich setze, Lya?", fragt Alec mich mit gesenkter Stimme.

"Ähm.. ja, klar", antworte ich. Der Platz ist ja sowieso frei.

"Cool, danke."

*

Nach den ersten paar Stunden ist Mittagspause. In der Mensa sehe ich mich nach Maddie um und entdecke sie an einem Tisch sitzen... mit Jonah. Ich halte kurz inne. Ich war doch nur einen Tag nicht hier und schon sitzen die beiden wieder zusammen. Einerseits bin ich überrascht, die beiden so vertraut miteinander zu sehen, andererseits aber auch nicht. Mir war klar, dass Maddie und Jonah nicht allzu lange voneinader getrennt sein könnten. Dafür mögen die beiden sich einfach zu sehr. Sie unterhalten sich vertraut und lachen miteinander. Es freut mich, die beiden so unbeschwert zu sehen, dass es mir leid tut, die beiden unterbrechen zu müssen.

Ich gehe auf sie zu und lasse mich auf einen Stuhl gegenüber von ihnen fallen. "Hey."

Sie schrecken auf und drehen sich in meine Richtung. "Hi", sagen sie wie im Chor. Eine Röte steigt beiden ins Gesicht und Maddie und Jonah wirken ertappt, als hätte ich sie gerade bei etwas verbotenem erwischt.

"Wir mussten nur kurz etwas besprechen", versucht Maddie sich zu rechtfertigen.

"Okay." Ich werde noch genug Gelegenheiten haben, mit ihr darüber zu reden und ich bezweifle, dass ihr das noch peinlicher sein könnte, als es gerade sowieso schon ist.

Sie steht auf. "Gut, also dann hätten wir das ja geklärt."

"Ja", entgegnet Jonah versucht neutral, als hätten sie gerade einen Handel abgeschlossen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht Maddie mich auffordernd an und bedeutet mir, mit ihr zu gehen.

An einen freien Tisch, etwas weiter weg, setzen wir uns hin und ich warte auf eine Antwort auf die unausgesprochene Frage zwischen uns.
"Was ist? Wir mussten nur kurz was besprechen, das war's", versucht sie sich zu wieder verteidgen.

"Wie du meinst", antworte ich schulterzuckend. Ich kann mir bereits denken, was es war, aber ich möchte sie nicht dazu drängen, es mir zu sagen. Das macht sie bei mir schließlich auch nie. Irgendwann wird sie es mir schon erzählen. Wahrscheinlich braucht sie selbt erst Zeit.

Der restliche Schultag verläuft ereignislos, genau wie der darauffolgende.

*

"Hallo, Lyana", begrüßt Mrs Jensen mich, als sie sich auf ihren Sessel mir gegenüber niederlässt.

"Hallo", murmle ich.

"Wie geht es dir?", fragt sie, ihren Stift bereithaltend zum Mitschreiben.

"Ähm.. nicht besonders gut", antworte ich ehrlich. Nervös knete ich meine Hände im Schoß.

"Wieso?"

"Ich, also, seit einiger Zeit habe ich immer wieder Albträume", versuche ich die Worte auszuspucken.

"Okay. Wovon handeln sie?", fragt sie erneut.
"Eigentlich ist es immer derselbe", gebe ich zu und senke den Blick auf meine Hände.

Mrs Jensen nickt leicht und macht sich kurz Notizen. "Möchtest du mir davon erzählen?", fragt sie nun wieder ihren Blick auf mich gerichtet.

Ich spüre mein Herz schneller schlagen und meine Hände schwitzen. Fühlt es sich so an zu sterben? frage ich mich unwillkürlich. Ich versuche den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken und putze meine Hände an der Hose ab.

"Ja", versuche ich vergeblich stark und überzeugt zu klingen. "Also, immer wieder habe ich diesen Traum, dass ich", meine Stimme zittert, "in Nicks Badezimmer reinkomme und ihn blutend in der Badewanne liegen sehe." Meine Stimme bricht und vereinzelt Tränen rollen über meine Wangen. Ich versuche sie mit meinem Ärmel wegzuwischen. Mrs Jensen schiebt mir eine Taschentücherpackung zu und ich nehme mir eins heraus, bevor ich weiterspreche. "Ich kann seine leblosen Augen sehen und seine aufgeschnittenen Arme, wie er regungslos in der Badewanne liegt. Alles ist dunkelrot und ich kriege keine Luft mehr. Ich stehe da, kann mich nicht bewegen und sehe meinem besten Freund zu, wie er vor meinen Augen verblutet." Mittlerweile habe ich mir ein zweites Taschentuch genommen und kann kein Schluchzen mehr unterdrücken.

Mrs Jensen schreibt fleißig mit und lässt mir kurz Ruhe, um mich wieder etwas zu beruhigen. "Seit wann hast du diese Träume?", fragt sie ruhig.

"Ich weiß nicht genau. Mitte Juni oder so hat es angefangen."

"Wann hat er sich umgebracht?"

"Am 10. Mai", schießt es ohne zu zögern aus mir heraus. Ich muss nicht lange überlegen. Leider kann ich mich noch allzu gut an diesen Tag erinnern, an dem sich alles änderte. Ich schließe die Augen und versuche ruhig ein- und wieder auszuatmen. Das war das erste Mal, dass ich seinen Todestag laut ausgesprochen habe.

"Und du hast ihn gefunden, stimmt das?"

Ich kriege kein Wort raus und nicke nur, während ich mir ein drittes Taschentuch nehme. Verdammt, in den letzten Tagen fühle ich mich wie ein Wasserfall.

"Ist es viellicht so passiert, wie in deinem Traum?" Schon wieder schafft sie es, genau die richtigen Frage zu stellen, um mir eine Antwort zu entlocken, die von mir aus nicht schaffe, auszusprechen.

"Ja", flüstere ich.

"Verstehe. Nach traumatischen Ereignissen sind wiederkehrende Albträume ein häufiges Auftretensmerkmal." Mrs Jensen sieht konzentriert auf ihren Block vor sich und schreibt weiter. Ich habe keine Ahnung, was sich gerade in ihren Gedanken anspielen könnte.

"Was hat sich seitdem geändert? Abgesehen davon, dass Nick nicht mehr da ist?"

"Na ja, manchmal denke ich, ich sehe ihn, doch dann ist es nur jemand, der ihm ähnlich sieht und das bringt mich komplett durcheinander."

Meine Therapeutin nickt. "Deine Mutter hat mir vor unserem ersten Termin erzält, dass du dich sehr verändert hättest, nachdem das geschehen ist."

Ich zucke unschuldig mit den Schultern. "Vielleicht."

"Sie sagte mir, du hättest dich immer mehr zurückgezogen und Leute gemieden."

"Ich brauchte nunmal etwas Abstand von allem. Das war extrem viel für mich", verteidige ich mich.

"Natürlich, aber das ist jetzt schon einige Zeit her und du bist imer noch sehr verschlossen was Nicks Tod betrifft." Mein Magen zieht sich zusammen. Diese zwei Wörter in einem Satz zu hören wird nie einfacher. "Lyana, ich verurteile dich nicht und ich möchte dir wirklich helfen. Ich weiß, dass es Zeit braucht, aber wenn du noch länger damit wartest, wird es nicht besser." Mrs Jensen legt ihren Block und den Stift auf den zwischen uns stehenden Tisch und lehnt sich nach vorn.

"Ich weiß, aber seitdem ist einfach alles anders. Es fühlt sich an, als wäre ein Teil von mir mit Nick gestorben. Er hat nicht nur sich, sondern auch etwas in mir umgebracht. Und ja, ich weiß das hört sich dramatisch an, aber genau so fühle ich mich. Außerdem habe ich mich schon gebessert. Ich gehe zur Schule und verbringe auch Zeit mit Freunden." Sie sieht mich skeptsich an. "Okay, bisher haben wir uns einmal getroffen, aber ich habe nicht abesagt, also ist das doch ein Fortschritt, oder?"

"Ja, das schon, aber du musst dranbleiben, Lyana. Vertrau dich den anderen an, sie sind für dich da", äußert Mrs Jensen eindringlich, ich wende meine Blick ab. "Gemeinsames Trauern ist besser als einsames Trauern." Sie lässt mir eine kurze Denkpause und ich versuche ihre Worte runterzuschlucken.
"Dann sind wir für heute durch, aber eine Aufgabe hätte ich noch an dich: Vertrau dich den anderen an und nächsten Donnerstag erzählst du mir, wie es gelaufen ist, okay?"

"Ja", erwidere ich kleinlaut. Keine Ahnung, wie ich das hinkriegen soll.

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