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w e g a

dezember 2021

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„Wenn ich weg bin, egal wo auf der Welt, dann sieh einfach hoch zum Himmel, okay? Egal wo wir uns auch befinden, wir werden immer das gleiche sehen, Lottie."

Sterben stand nicht auf Charlottes To-Do-Liste. Trotzdem fühlte sie sich jeden Morgen nach dem Aufwachen eine Sekunde so, als hätte ein Teil ihres Herzens es dennoch getan, ganz unfreiwillig und mit einem gewaltigen Knall, als Harry sie zurückließ.

Auch an diesem fünfundzwanzigsten Dezember, Monate nach der eigentlichen Stille, blinzelte das Mädchen mit den Sternenaugen einige Sekunden lang verwirrt, bis Noahs ruhiger Atem sie in die Wirklichkeit zurückriss.

Die schweren Vorhänge vor den fensterhohen Scheiben waren geschlossen, doch auch wenn sie geöffnet wären, hätte das nichts an der Schwärze in dem Raum geändert. Denn draußen erstrahlte der Mond noch hoch am Himmel, majestätisch und ehrfurchtserregend kämpfte er um seinen Platz in der Welt, bevor er schließlich der Sonne würde weichen müssen. Es war seine ständige Schlacht, täglich bis in alle Ewigkeit.

Charlotte hatte das Gefühl, dass sich ihr Kampf zurück ins Leben ebenfalls so verhalten würde. Immer wieder riss sie Harrys Verlust in den Abgrund und immer wieder kämpfte sie sich zurück, für Noah und auch für sich selbst.

Heute war es besonders schwer, ihren Atem zu beruhigen und Harrys flehende, vom Schmerz verzerrten Gesichtszüge zu vergessen, die in ihren Träumen omnipräsent gewesen waren in den vergangenen Stunden der Nacht.

Um sich zurück in die Gegenwart zu zwingen, streichelte Charlotte sanft durch die Locken ihres Sohnes, der sich an ihren Oberkörper kuschelte und an seinem Finger lutschte. Sie merkte, wie ihr Atem endlich ruhiger wurde und gab Noah einen federleichten Kuss auf die Stirn.

Als sie die Augen erneut schließen wollte, weil der Mond längst noch am Himmelszelt türmte und sie noch einige Stunden in die Welt der Träume flüchten musste, auch wenn sich alles in ihr dagegen wehrte, ertönte ein leichtes Klopfen. Es hörte sich hohl an, unregelmäßig und dennoch war die schiere Willenskraft dahinter nicht zu überhören.

Die Nacht hatte Charlotte Styles noch so sehr in ihren Fängen, dass sie einen Augenblick und zwei weitere Fingerknochen, die gegen die weißlackierte Holztür krachten, brauchte, bis sie sich gähnend in Richtung des Lautes bewegte.

Langsam öffnete sie die Tür und wollte sie wieder schließen, als sie niemanden entdecken konnte.

„Lolo, nicht!"

Charlottes Blick glitt in Richtung Fußboden, nur um strahlendblauen Kinderaugen zu begegnen.

„Hallo Willow. Kannst du nicht mehr schlafen?"

„Weihnachten", entgegnete das kleine Mädchen strahlend, als wäre damit alles Wichtige gesagt.

Ein helles Lachen entwischte der Älteren, wobei sie versuchte, die Töne bloß leise in die Luft fliegen zu lassen, um Noah nicht zu wecken.

Dieser Gedanke erwies sich jedoch schon wenige Sekunden später als überflüssig, denn als ihr Blick zurück ins Gästezimmer wanderte, hatte sich Willow bereits an ihr vorbeigestohlen. Das hellblonde Mädchen hüpfte mitsamt ihrem Schlafsack vergnügt auf der Matratze des King Betts, während Noah mit müden Augen zu ihr hinauf starrte.

Wütend, weil er um wertvolle Träume gebracht wurde, wirkte der Junge mit den grünen Augen jedoch keinesfalls. Das tat er nie, wenn es um Willow ging. Stattdessen mischte sich bloß eine Spur Neugierde in seinen verschlafenen Blick.

„Geschenke", teilte das kleine Mädchen Noah grinsend mit und ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen. Mit so viel Schwung, dass sie beide einige Millimeter in die Höhe flogen. „Ganz viele Geschenke."

Mit sanften Schritten glitt Charlotte zurück in das Gästezimmer, das im Laufe der letzten Monate irgendwie zu ihrem zweiten Zuhause geworden war. All die Nächte, in denen die Welt zu viel wurde, hatte sie sich hier her geflüchtet. All die Stunden, in denen Harry zu sehr in ihrem eigenen Haus präsent war, während er es doch in Wirklichkeit nie wieder sein würde. Die Stille schmerzte manchmal mehr als alles andere, weswegen dieses Gästezimmer sie mit Leben erfüllte.

Noahs Weinen der ersten Wochen hielt der Raum in seinen Wänden sowie die neugierigen Blicke Willows, die das Neugeborene damals kaum fixieren konnten, war sie doch selbst noch ein Baby. Aber irgendwie hatte Noah sie immer schon fasziniert.

„Wie wäre es, wenn wir alle noch ein wenig schlafen?" Charlottes sanfte Stimme flog durch das Zimmer und wurde zu einer weiteren Erinnerung, die in diesen vier Wänden nie wieder erlöschen würde. „Die Geschenke sind später auch noch da."

Willow setzte sich empört auf und sah die Ältere an, als hätte sie gerade vorgeschlagen, dass man ein Eis auch morgen essen könnte, wenn man es bereits in der Hand hielt.

„Nein, Lolo. Ich will Geschenke", ließ sie mit heller Stimme verlauten. Im Gegensatz zu Noah liebte das blonde Mädchen nichts mehr, als Worte mit Überzeugung über ihre Lippen zu fliegen lassen. Es war wieder einer der wenigen Augenblicke, in den Charlotte bewusst auffiel, dass sie einige Monate älter war als ihr Sohn.

„Was ist mit dir, Großer?", murmelte sie und strich Noah sanft über die noch vom Schlafen geröteten Wangen. „Wollen wir noch ein wenig Kuscheln?"

Doch ihr Sohn schüttelte müde den Kopf, natürlich tat er das. Denn was Willow Tomlinson wollte, wurde direkt auch zu seinem Wunsch. Normalerweise brachte dies das Mädchen mit den Sternenaugen zum Lächeln, heute jedoch bedauerte sie bloß, dass ihr wichtige Stunden Schlaf fehlen würden.

Jeder Tag mit Kind war eine Herausforderung, jeder Tag mit beiden umso mehr und jede vierundzwanzig Stunden, in denen die Kleinen zu wenig Schlaf bekamen, ließen Charlotte, Louis und Eleanor regelmäßig auf dem Zahnfleisch laufen.

„Also gut, dann lasst uns in den Tag starten."

Seufzend gestand Charlotte sich ihre Niederlage ein, denn wie so oft hatten die unschuldigen Augen den Kampf gewonnen, und hob die beiden auf ihre Arme, jedes Kind auf einen, bevor sie barfuß mit ihnen durch den Flur stapfte.

Willow erzählte vergnügt eine Geschichte, ihre helle Stimme ein Segen in den kalten Wänden, während Noah auf Charlottes anderen Arm gegen ihre Schulter lehnte und schon fast wieder in der Welt der Träume versunken war.

Der Holzboden fühlte sich warm unter ihren Füßen an, was sie zweifellos der Fußbodenheizung verdankte, auf die Eleanor beim Einzug bestanden hatte. In diesen frühen Morgenstunden dieses eigentlich so kalten Dezembertages konnte Charlotte ihrer Freundin deswegen nicht genug danken.

Vor der geschlossenen Tür des Masterschlafzimmers angekommen, wurden ihre Schritte langsamer, bis das Mädchen mit den Sternenaugen schließlich gänzlich zum Stehen kam. Noah sah mit verschlafenem Blick zu ihr auf, während Willow hektisch auf ihren Armen zappelte, weil es ihr nicht schnell genug ging.

Charlotte biss sich unsicher auf die Unterlippe, denn es fühlte sich merkwürdig an, Louis und Eleanor mitten in der Nacht zu stören.

Bevor sie jedoch auch nur einen weiteren Atemzug nehmen konnte, hatte Willow bereits wie selbstverständlich gegen die Tür geschlagen.

Drei Mal wich die Luft angestrengt durch ihre Lungen und dann öffnete sich der Eingang so lautlos, das er von Geisterhand hätte bewegt werden können.

„Geschenke, Mummy", strahlte Willow, sobald Eleanor verschlafen in dem Türrahmen erschien.

Das braune Haar, das ihr bloß nur noch bis auf die Schulter reichte, seitdem ihre Tochter es lustig gefunden hatte, ein wenig Friseur zu spielen, stand wirr in alle Richtungen ab und dennoch tat es der Schönheit der Einunddreißigjährigen keinen Abbruch.

„Sie stand vorhin einfach vor unserer Zimmertür", erklärte Charlotte grinsend.

Eleanor schüttelte ungläubig den Kopf und stupste sanft gegen Willows Nase. „Hast du es schon wieder geschafft mit deinem Schlafsack aus dem Gitterbett zu entkommen?"

Die Kleine nickte stolz und begann in Charlottes Armen zu zappeln. Diese vermutete, dass sie zu ihrer Mutter wollte, doch dort folgte das gleiche Spiel, bis sie schließlich aus dem Schlafsack befreit durch den Flur hüpfte.

„Lou, aufstehen! Unser Monster will ihre Geschenke", rief Eleanor lachend ins Schlafzimmer, aus dem bloß ein Grummeln als Antwort kam.

Willow stürzte sich quietschend auf ihren Dad, der sich verschlafen aus der Bettdecke kämpfte und sich dann von ihr in den Flur ziehen ließ.

„Womit genau haben wir so eine aufgedrehte Tochter verdient?", murmelte Louis Eleanor zu, bevor er ihr einen Kuss gab. „Sieh dir doch mal Noah an, der schläft noch halb."

„Nein, nicht schlafen", murmelte der Lockenschopf, der sich müde an Charlottes Schulter kuschelte. Eine seiner kleinen Hände hatte sich in dem Schlafanzugoberteil seiner Mutter vergraben, als könnte er so den Schlaf besiegen.

„Wundert dich das wirklich, Lou?", entgegnete Eleanor lachend, während sie alle der aufgedrehten Willow folgten. „Sie kommt eben nach ihrem Dad."

Louis verschränkte grinsend die Arme vor dem Oberkörper, an dem er ein zerknittertes T-Shirt trug. „Ich war als Kind überhaupt nicht so."

Ein Lachen löste sich aus Charlottes Kehle, während sie zu dem Mann herübersah, der in den letzten Monaten zu ihrem Retter geworden war. „Garantiert warst du das. Du hast damit nämlich nie aufgehört."

Eleanor stimmte grinsend mit ein, während Louis lächelnd zu seiner Tochter herübersah, die sie aus großen blauen Augen anflehte, sich doch bitte zu beeilen.

„Das wird dann ja eine super entspannte Zukunft, wenn Willow wirklich nach mir kommt", murmelte Louis sarkastisch und fuhr sich müde durch die Haare. „Wirklich ganz entspannend."

Als wollte Willow ihrem Vater beweisen, dass er nicht richtiger liegen könnte, lief sie mit vollem Schwung gegen den Türrahmen des Wohnzimmers. Das Glucksen in ihrer Kehle verstummte und stattdessen war ein herzzerreißendes Schluchzen zu hören, dass selbst Noah besorgt den Kopf heben ließ.

„Nichts passiert, Süße", murmelte Eleanor beruhigend und hob ihre Tochter hastig in ihre Arme. „Gleich ist alles wieder gut. Das ist nur ein Kratzer."

„Bloß ein Kratzer. Wie bei einem Abenteuer", versuchte Louis sie zu beruhigen.

Charlotte folgte den beiden deutlich langsamer, während sie besorgt ihre Augen über Willows Gesicht gleiten ließ. Vorsichtig hob sie die Haare an der Kopfseite an, die dem Türrahmen zum Opfer gefallen war und seufzte erleichtert, als wirklich keine sichtbare Wunde zu sehen war.

Man sollte meinen, dass sie sich in den Jahren, in denen es für Harry an den meisten Tage nur noch bergab ging, an Krankheiten und Blut gewöhnt hatte, aber die Wahrheit war, dass sie sich vor der roten Flüssigkeit immer noch so sehr fürchtete wie mit fünf, als ihr Sternenjunge vom Baum gefallen und sich den Arm aufgerissen hatte.

„Alles gut, Willow. Das gibt eine schöne Beule, aber das ist doch ganz cool, oder?", versuchte Charlotte das immer noch weinende Mädchen aufzumuntern.

Ihre Worte zeigten Wirkung, was wahrscheinlich keinen der Anwesenden wirklich so sehr überraschte, wie man erwartet hätte. Statt Tränen stand der Kleinen nun ein begeistertes Funkeln in den Augen.

„Eine Beule?", fragte sie mit heller Stimme und sah dann stolz zu Noah herüber, der skeptisch über die Schulter seiner Mutter in ihre Richtung lugte. „Willow hat eine Beule, Noah."

Grüne Augen trafen auf blaue und für einen Moment fühlte sich Charlotte zurückgeworfen in eine andere Zeit, in denen nicht Noah und Willow, sondern sie und Harry diesen verschwörerischen Blick wechselten. Es traf sie mitten ins Herz, bevor das Messer nur noch weiter in die Fasern gedreht wurde. Alles zerfetzend und dennoch schaffte es nichts, niemals, den Schmerz der Trauer gänzlich heraus zu schneiden.

„Wie wäre es, wenn wir jetzt die Geschenke auspacken?", schlug Eleanor mit sanfter Stimme vor und zauberte Charlotte somit wieder in die Gegenwart.

Das Mädchen mit den Sternenaugen schüttelte kurz den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden und sah dann mit einem bemühten Lächeln zu Noah. „Das ist eine gute Idee von Tante Ellie, oder?"

Ihr Sohn nickte müde, noch nicht ganz sicher, was ihn überhaupt erwarten würde.

Sobald sie ins Wohnzimmer traten, waren Willows Schmerzen wie von Wunderhand direkt verschwunden, sobald ihr Blick auf den riesigen Geschenkeberg vor dem Weihnachtsbaum fiel.

Wie Louis bereits vermutet hatte, hatte seine Freundin die Kugeln noch einmal perfektionistischer angeordnet, aber mit einem Lächeln bemerkte Charlotte, dass der Stern immer noch ganz oben an der Spitze thronte.

„Vorsicht, Schatz", rief der Junge aus Doncaster eilig, als Willow erneut zu viel Schwung nahm und fast in die Tanne krachte.

„Alles heile, Daddy", kicherte sie, nachdem sie auf den Boden plumpste.

Mit einem Lächeln und Kopfschütteln gleichzeitig, als könnte der Ältere sich nicht ganz entscheiden, was er von der Situation hielt, setzte er sich neben Willow.

„Du kannst nicht einfach alles aufreißen, Süße", meinte Eleanor belustigt, als ihre Tochter sich auch sogleich auf das erste Geschenk stürzte, das ihre Augen aufnahmen. „Die Hälfte gehört Noah."

Das von ihren Lippen zu hören, schien dem Kleinen auf Charlottes Augen endlich die Müdigkeit aus den Knochen zu treiben, denn nun beugte er sich mit großen Augen in Richtung der Präsente.

Das Mädchen mit den Sternenaugen setzte sich zu Familie Tomlinson auf den Boden, bevor sie Noah auf ihren Schoß zog.

„Meins?" Willows helle Stimme ließ den Raum aufleuchten, während sie ihrem Vater ein Geschenk hinstreckte, damit er den Namen auf dem Etikett entziffern konnte.

Dieser schüttelte den Kopf. „Nein, nicht deins."

„Deins, Noah", lächelte Willow und reichte das Geschenk an ihren Freund weiter, der es mühsam mit seinen kleinen Kinderhänden entgegen nahm.

„Danke, Süße." Mit einem Lächeln streichelte Charlotte ihr durch die blonden Haare.

Willow grinste, bevor sie sich auf das nächste Geschenk stürzte.

Amüsiert sah das Mädchen mit den Sternenaugen ihr zu, bevor ihr Blick zu ihrem Sohn herüberglitt, der bereits mühsam mit dem Geschenkpapier seiner Überraschung kämpfte.

Noah hatte nicht genug Kraft, so sehr er sich auch bemühte, er konnte das Papier nicht wirklich zerreißen.

Eine Sekunde lang blitzte eine Erinnerung in Charlotte auf, wie Harry verzweifelt versuchte, seine Hände nach seinem Neugeborenen auszustrecken und es dennoch nicht schaffte. Sie biss sich in die Wange, um die Gedanken zu vertreiben und zwang sich Noah zuliebe ein Lächeln auf die Lippen.

„Ich helfe dir, Großer. Lass Mummy den Anfang machen und dann kannst du weiter reißen, okay?", murmelte sie.

Während ihre Finger sich sanft in das Papier bohrten und es in Fäden riss, sah Noah ihr aus großen Augen zu.

„Hier, jetzt bist du dran."

Vorsichtig half Charlotte ihm dabei, das Geschenk auszupacken und hätte kein breiteres Lächeln im Gesicht haben können, als Noah schließlich mit strahlenden Augen zu ihr hochschaute.

„Was hast du denn da?", murmelte sie grinsend, woraufhin er ihr begeistert das Spielzeugauto entgegenstreckte.

„Tüta, Tüta", rief er mit quietschender Freude. „Tüta, Mummy."

„Ein Feuerwehrauto, hm?", entgegnete Charlotte. „Da hat der Weihnachtsmann aber genau das Richtige ausgesucht."

Eleanor zwinkerte ihr amüsiert zu, bevor sie eilig Richtung Willow stürzte, die so sehr die neue Actionfigur zwischen ihren Fingern fixierte, dass sie den Weihnachtsbaum übersah.

Die nächste Stunde war mit begeisterten Kinderaugen und lächelnden Erwachsenengesichtern erfüllt, während immer mehr Überraschungen den Weg in die Freiheit fanden. Die frühe Stunde geriet in Vergessenheit und stattdessen genossen alle Anwesenden bloß, gemeinsam voller Freude in diesen Weihnachtstag starten zu können.

„Hier ist noch etwas für dich, Großer", murmelte Charlotte schließlich, nachdem alle Geschenke bereits lange ausgepackt und bewundert worden waren. „Das ist nicht vom Weihnachtsmann, sondern von Daddy."

Sie zog einen Umschlag hervor, den sie vor einigen Tagen sorgfältig aus der Kiste gefischt hatte, die auf einem Ehrenplatz in ihrem Wohnzimmer zuhause thronte. Direkt neben all den Pokalen und Preise, die Harry im Laufe seines viel zu kurzen Lebens eingestrichen hatte.

Noah fixierte den Brief mit großen Augen, als könnte er sich zwar vage daran erinnern, vor Monaten bereits einen ähnlichen das erste Mal zu Gesicht bekommen zu haben, jedoch mit den Worten nicht viel anzufangen wusste.

„Der ist von deinem Daddy. Für uns beide", flüsterte Charlotte ihrem Sohn zu. „Sollen wir ihn lesen?"

Der Kleine klatschte in die Hände, als reichte die Freude in der Stimme seiner Mutter alleine, um auch ihn für diesen Plan zu begeistern.

„Wir wollten ohnehin gerade in die Küche und das Frühstück vorbereiten", meinte Eleanor vergnügt und schob ihre Tochter sowie Freund aus dem Raum, die ihr nicht gänzlich begeistert Folge leisteten. Louis wirkte einfach unendlich verloren im warmen Licht der Weihnachtsbeleuchtung, seitdem er den Brief gesehen hatte, während Willow hastig ihren neuen Superman hinter sich herzog, um ihn bloß nicht zurücklassen zu müssen.

„Danke, Ellie", rief Charlotte ihr hinterher, woraufhin diese sich noch einmal im Türrahmen umdrehte und ihr ein Lächeln schenkte. „Lasst euch Zeit. Das Essen läuft nicht weg."

Leise schloss die Einunddreißigjährige die Tür hinter sich.

Zurück blieben das Mädchen mit den Sternenaugen und der Junge, der sie manchmal so sehr an seinen Vater erinnerte, dass sie nicht anders konnte, als ein breites Lächeln im Gesicht zu tragen.

Gemeinsam kuschelten sie sich aufs Sofa, bevor Charlottes Finger sanft den Umschlag öffneten. Wie auch schon bei dem ersten Brief begrüßten sie Harrys ordentliche Handschrift, sein Geschenk der Worte, die ihnen niemand wieder nehmen könnte.

Doch bevor ihre Lippen die ersten Sätze in die Freiheit entlassen konnten, damit diese für Noah kein Geheimnis mehr blieben, rutschte mit einem leisen Rascheln ein Foto aus dem Umschlag.

Charlotte lächelte mit Tränen in den Augen, während sie ihrem Sohn das Bild hinhielt, der mit einem kleinen Finger auf ihr abgedrucktes Gesicht tatschte.

„Mummy."

„Ja, das ist Mummy, Großer", murmelte das Mädchen mit den Sternenaugen. „Und der Junge neben Mummy dort ist dein Daddy."

Das Foto musste Jahre alt sein, sie wusste nicht einmal mehr, dass es existierte, doch es zeigte sie beide wie sie bei Mary Hoechlin mit blinkenden Weihnachtsmützen vor dem geschmückten Tannenbaum standen und um die Wette grinsen. Während der Harry auf dem Foto begeistert strahlte, wirkte die abgelichtete Charlotte eher amüsiert über seine Aufregung. Doch Weihnachten war sein Lieblingsfest gewesen und ihm zuliebe hatten sie die Tage immer zu etwas ganz Besonderem gemacht. Harrys Haarschnitt nach zu urteilen, war das Foto kurz nach Beginn ihrer High Schoolzeit entstanden. Lange vor ihrem ersten Kuss und Ewigkeiten, bevor ein gemeinsames Leben im romantischen Sinne überhaupt in ihren Gedanken eine Möglichkeit gewesen war. Auf diesem Bild waren sie bloß beste Freunde und dennoch könnte nichts bedeutungsvoller sein. War es doch ihre Freundschaft, die sie immer zusammengehalten hatte, wenn ihre Liebe sie manchmal auseinander bringen wollte.

„Dadda", probierte Noah das Wort aus und wiederholte es dann sogleich, während er nun auf Harrys Gesicht tatschte. „Dadda."

„Ja, das ist dein Daddy", flüsterte Charlotte mit glänzenden Augen. „Das ist an Weihnachten, siehst du? Dahinten ist auch ein Weihnachtsbaum wie bei uns gerade."

Eine Weile starrten sie beide stumm auf das Bild, das zwei Personen abbildete, die sich mehr als alles andere geliebt hatten, bevor das Schicksal ihre Leben mit einem Knall zum Explodieren gebracht hatte. Ihre Liebe jedoch, die würde nie verschwinden, solange Charlottes Herz noch in ihrer Brust hob und solange Noah auch nur eine weitere Erinnerung an seinen Dad geschenkt bekommen könnte.

„Wollen wir schauen, was dein Daddy uns zu sagen hat?", fragte sie schließlich.

Noah umklammerte das Foto immer noch in seinen Händen, als ihre Finger sanft die beschriebenen Seiten auseinanderfalteten.

Einmal holte sie Luft, dann wurden die Worte des Sternenjungens zum Leben erweckt.

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