22 | Castor
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c a s t o r
november 2032
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„Ich will unser Baby bloß einmal in meinen Armen halten dürfen, Lottie. Bloß ein einziges Mal."
„Das wirst du, okay? Ich werde ihn schon aus mir herausbekommen, zur Not schneiden sie mich einfach offen."
„Das ist nicht witzig."
„Du bist es auch nie, aber trotzdem lache ich über deine Witze, Sternenjunge."
Es war einer der Tage, an denen Charlotte Styles nicht zur Arbeit musste und zuhause im Bett liegen bleiben konnte, bis die Sonne ihre Augenlider zu sehr kitzelte. An diesen Tagen kuschelte sie sich unter die Bettdecke und schloss die Augen, während sie von den vergangenen Zeiten träumte. Von Konzerthallen und Küssen und ihrem Sternenjungen. Immer wieder ihrem Sternenjungen.
An diesen Tagen schwebten die Erinnerungen vor ihren Augenlidern vorbei, wurden in frische Farbe getaucht und verschwanden dann doch wieder, sobald sie die Augen öffnete. Doch auch wenn sie wieder vergangen waren, wenn sie bereits wieder endgültig wach in der Realität angekommen war, war es mittlerweile in Ordnung in diesem Leben. Sie vermisste ihren Sternenjungen, würde ihn immer vermissen, aber sie hatte gelernt, ohne ihn zu leben. Eine Weile zumindest, bis sie ihn dann irgendwann wieder sehen würde.
An diesen Tagen riss kein Wecker sie zu unlauterer Stunde aus dem Schlaf, weil sie einen Fototermin hatte oder irgendeinen Künstler auf Tour begleiten musste. An diesen Tagen nahm sie sich die Zeit, um Noahs Lieblingsessen zu kochen, weil sie das Strahlen in seinen Augen liebte, wenn er nichtsahnend von der Schule nach Hause kam und seine favorisierten Speisen in der Küche entdeckte. An diesen Tagen telefonierte sie mit ihrer Mutter und mit Anne, erzählte ihnen von ihrem Leben und saugte die Geschichten in sich auf, die die beiden mit ihr teilten, während sie sich eine Weile lang wieder wie ein Kind fühlte.
Charlotte liebte diese Tage.
Es hatte lange gedauert, bis sie dorthin gekommen war. Bis die Stille ihr nicht mehr wie der größte Feind vorkam und sie nur daran erinnerte, dass all die Ruhe mit Harrys Worten gefühlt sein sollten. Nun war die Stille nicht mehr das Monster, sondern nur eine Zeit der Entspannung, bis Noah sie durcheinanderwirbelte.
Natürlich vermisste sie ihren Sternenjungen dennoch, jeden Tage, jede Stunde, jede Minute. Aber Vermissen war nicht schlimm, erinnerte es doch nur daran, wie viel Liebe sie in ihrem Herzen trug. Erinnerungen waren willkommen, solange man nicht weiter in der Vergangenheit lebte und es schaffte, in die Zukunft zu schauen.
Charlottes Zukunft war ein Junge mit wilden, braunen Locken und grünen Augen, die den seines Vaters so ähnlich sahen. Mit einem Grübchen auf der linken Wange und einem etwas kleineren auf der rechten. Mit Träumen und Wünschen, Hoffnungen und Ängsten.
Noah war es, der sie am Leben hielt und sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens.
Selbst in diesem Moment, als er mit viel zu viel Krach in den Flur geeilt kam und eine Spur Matsche durch das ganze Haus trug.
„Schuhe aus, Mister Styles!", rief Charlotte warnend und setze einen strengen Blick auf, der ihr selbst nach Jahren noch falsch auf ihren Gesichtszügen vorkam. „Ich habe heute Morgen gewischt."
„Tut mir leid", entschuldigte sich der Zwölfjährige und stellte seine Schuhe feinsäuberlich ins Regal.
Noahs Winterjacke folgte und danach zog er sich die schwarze Wollmütze von den Ohren, die in der Novemberkälte, die momentan in England herrschte, wirklich angebracht war. Schnee in ihrer momentanen Heimat war selten, doch der Wetterdienst hatte für die nächsten Tage Schneefall vorausgesagt und die Kinder warteten alle schon sehnsüchtig auf die ersten Flocken.
„Wo ist Willow?", fragte Charlotte, während sie ihrem Sohn die Mütze abnahm und diese über die Heizung hängte, die bereits von einem Paar Handschuhe sowie ihrer eigenen Kopfbedeckung bewohnt war.
Eigentlich hatte das Mädchen mit den Sternenaugen den ganzen Vormittag zuhause verbringen wollen, dann aber war Adam aufgetaucht und hatte sie zu einem Spaziergang überredet. Mit roten Wagen, kalten Händen und einem warmen Herzen war sie dann kurz vor ihrem Sohn wieder nach Hause gekommen.
„Nicht hier."
Stirnrunzelnd sah Charlotte ihren Sohn an. „Habt ihr euch gestritten?"
„Nein, haben wir nicht."
„Wieso ist Willow dann nicht hier?"
Noah stöhnte genervt. „Weil wir nicht jede Sekunde aufeinander kleben, Mum. Wir sind nicht Dad und du, okay? Also hör auf, so zu tun, als wären wir es."
„Das meinte ich doch gar nicht", murmelte Charlotte.
„Tut mir leid", sagte Noah hastig, als er die Wolken in ihrem Blick bemerkte. „Ich meinte es auch nicht so."
Das Mädchen mit den Sternenaugen wuschelte ihm durch die Locken, was ihn normalerweise zurückzucken ließ, doch heute ertrug Noah Styles es heldenhaft.
„Schon gut, Großer. Komm, geh eben Hände waschen und dann gibt es Mittagessen."
„Was gibt es denn?", rief der Zwölfjährige, bereits auf dem Weg ins Gästebad in der Nähe des Flures. „Ich hab nämlich wirklich Hunger."
Charlotte lachte. „Du bist momentan dauernd hungrig. Es gibt Spaghetti Bolognese."
Rauschendes Wasser ertönte, dann wurde der Hahn wieder abgedreht und Hände mit dem hellgrauen Tuch trockengerieben. Als Noah schließlich zu seiner Mutter in die Küche kam, hatte diese ihnen bereits zwei Teller aufgetischt.
Eigentlich besaßen die Styles ebenfalls ein ganzes Esszimmer, aber wenn sie unter sich waren, wurde dieses so gut wie nie benutzt. Stattdessen quetschten sie sich lieber an den kleinen Holztisch in der Küche, auf zwei wackelnde Stühle, die schon seit Ewigkeiten ihrem Schicksal trotzten. Sie waren mittlerweile bereits mehrere Jahrzehnte alt, stammten noch aus Charlottes erster Wohnung, in der sie nicht lange geblieben war, bevor sie ein gemeinsames Zuhause mit ihrem Sternenjungen teilte. Ihre erste Wohnung verschwand, aber die Stühle blieben.
Harry hatte sie mit den klappernden Möbeln gerne aufgezogen, doch insgeheim hatte er sie ebenso sehr geliebt wie Charlotte es tat, erinnerten sie doch an ein einfaches Leben, eines, das sie vielleicht gehabt hätten, wäre er nicht über alle Bühnen der Welt geflogen. Ein Leben, das er dennoch mit ihr haben wollte, in den Momenten, in denen es nur er und sie gewesen waren. Keine Band, keine Fans, kein Ruhm. Bloß der Sternenjunge und sein Mädchen mit den Sternenaugen.
Also hatten sie sich auf die knatschenden Stühle gezwängt und dieses Leben gelebt, waren gemeinsam erwachsen geworden und hatten einen Hauch Normalität genossen.
„Hattest du einen schönen Schultag?"
Er schüttelte den Kopf. „So funktioniert Schule nicht."
„Hattest du einen schlechten Schultag, Großer?", fragte Charlotte augenverdrehend.
Noah ließ langsam seine Gabel auf den Teller senken, auf den er sich vorhin so gierig gestürzt und die Nudeln inhaliert hatte, als wären sie seine Henkersmahlzeit.
„Bitte nenn mich nicht so, Mum. Das habe ich dir doch jetzt wirklich oft genug gesagt", grummelte er. „Das ist so langsam wirklich peinlich."
„Momentan ist doch ohnehin alles peinlich, was ich mache", entgegnete Charlotte, die sich nur schwer ein Grinsen verkneifen konnte. Sie erinnerte sich an ihre eigenen Teenagerjahre, in denen Harry und sie kaum mit ihren Eltern am Esstisch hatten sitzen wollen.
„Das stimmt doch gar nicht, Mum", protestierte Noah und legte ein astreines Augenrollen an den Tag, so perfekt, dass sich seine Mutter fragte, ob er dies heimlich jeden Abend vor dem Spiegel übte.
Charlotte lächelte. „Doch, das stimmt. Aber das ist schon okay."
Der Zwölfjährige drehte seine Spaghetti auf die Gabel, was er wirklich gut konnte, seitdem er es sich im Italienurlaub diesen Sommer von Louis hatte zeigen lassen. Willow war zu ungeduldig gewesen, um es zu lernen, aber Noah hatte den Worten seines Onkels geduldig gelauscht.
„Du wirst mir noch zu einem richtigen Italiener", kommentierte Charlotte.
Noah lachte. „Glaubst du, dass die Spanier auch irgendwelche Essensgewohnheiten haben, die wir lernen könnten?"
„Sicherlich."
Noah und Willow zählten bereits ungeduldig die Tage, bis sie endlich Louis auf Tour begleiten konnten, die den Sänger momentan durch die Welt führte. Die kleine Aubrey würde mit Eleanor zuhause bleiben, Charlotte würde arbeiten müssen, aber für Noah und Willow würde es in zwei Wochen für ein langes Wochenende nach Spanien gehen.
„Lou hat übrigens vorhin angerufen und gefragt, ob du vielleicht mit ihm zusammen ein Lied bei einem der Konzerte singen möchtest", erzählte das Mädchen mit den Sternenaugen.
Noah biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht."
„Liegt es daran, dass du dich mit Willow gestritten hast?"
„Mum, wir haben uns nicht gestritten!"
„Okay, okay." Abwehrend hob Charlotte die Hände in die Luft. „Was ist es dann?"
„Ich weiß nicht, ob ich gut genug dafür bin", murmelte Noah leise.
„Bist du", entgegnete sie vollkommen überzeugt.
Er rollte mit den Augen. „Du bist meine Mutter. Du musst das sagen."
„Ich bin aber nicht die einzige, die das sagt. Louis würde dich nicht fragen, wenn er nicht an dich glauben würde", erinnerte Charlotte ihn. „Ich dachte, es ist dein Traum, irgendwann einmal Sänger zu werden?"
„Ist es auch", bestätigte Noah.
Dabei brauchte er die Worte eigentlich gar nicht über seine Lippen zu bringen, bedachte man, dass er jeden Tag stundenlang auf seiner Gitarre herumklimperte und übte, bis ihm die Finger wund wurden. Dabei war er ebenfalls mit einer wunderschönen Stimme gesegnet, momentan noch kindlich hoch, was sich jedoch bald ändern würde. Charlotte wartete bereits jetzt gespannt darauf, ob er sich beim Singen irgendwann wie sein Vater anhören würde.
„Es ist deine Entscheidung, Gro- Noah."
Noah drehte ein paar Sekunden nachdenklich die Gabel in seiner Hand, bevor er schließlich nickte. „Ich mach's."
Charlotte lächelte. „Dann kannst du Lou gleich anrufen und mit ihm durchsprechen, welches Lied du singen willst, okay?"
„Okay", entgegnete der Zwölfjährige mit strahlenden Augen.
„Und ich bringe Willow dazu, dich bloß bei deinem Auftritt zu filmen und es mir direkt zu schicken."
„Du musst sie später anrufen, sie ist gerade mit ein paar Freundinnen shoppen", erklärte Noah und füllte sich seinen zweiten Teller Spaghetti Bolognese auf. „Deswegen ist sie auch nicht hier."
Charlotte seufzte erleichtert, weil sie sich wirklich Sorgen gemacht hatte, dass ihr Sohn sich mit seiner besten Freundin gestritten hätte. Die beiden blieben nie lange aufeinander sauer, aber in den Stunden und Tagen, in denen sie nicht miteinander redeten, waren sie beide stets unausstehlich.
„Und du wolltest nicht mit shoppen gehen?", erkundigte sich das Mädchen mit den Sternenaugen.
Noah starrte sie an, als wäre sie verrückt geworden. „Wer geht denn bitte freiwillig shoppen?"
„Willow zum Beispiel?", merkte Charlotte an.
„Das werde ich auch nie verstehen. Wahrscheinlich ist das so ein Mädchending.
Das Mädchen mit den Sternenaugen lachte. „Dein Vater ist auch wirklich gerne shoppen gegangen."
„Wirklich?"
„Wirklich", bestätigte sie. „Hazza konnte stundenlang durch irgendwelche Geschäfte schlendern. So lange, dass es selbst mir irgendwann zu viel geworden ist."
„Du bist aber auch nicht gerade die Geduld in Person", merkte Noah trocken an.
Charlotte grinste. „Damit hast du recht. Aber ich habe es für deinen Dad trotzdem oft genug ertragen."
„Weil du ihn geliebt hast?"
„Weil ich ihn geliebt habe", lächelte sie.
Noah biss sich auf die Unterlippe. „Mum?"
„Ja?"
Er schwieg einen Moment, dann einen weiteren, bevor sich Worte über seine Lippen stahlen, Worte, die alles verändern konnten und doch eigentlich nichts Greifbares waren.
„Ich glaube... Ich glaube, ich mag Betty."
„Die Betty aus deiner Klasse?", erkundigte sich Charlotte.
„Ja, genau die", murmelte Noah mit roten Wangen. „Ich glaube, ich mag sie echt. Mehr als eine Freundin, weißt du? Irgendwie mehr."
„Das ist doch schön", lächelte seine Mutter.
„Ich glaube, ich will sie küssen", sagte der Zwölfjährige und sah sie unsicher an. „Hältst du das für eine blöde Idee?"
„Ich halte das für eine ganz wunderbare Idee", erwiderte Charlotte. „Solange du sicher bist, dass Betty das auch möchte. Man darf nie jemanden einfach küssen, weil man es selbst will. Es ist wichtig, dass der andere damit einverstanden ist, okay?"
„Natürlich, Mum! Das würde ich doch auch sonst nicht machen. Aber ich glaube, Betty will das auch."
Das Mädchen mit den Sternenaugen schenkte ihm ein Lächeln. „Das ist doch super."
„Aber ich traue mich irgendwie nicht so ganz."
Sie nickte. „Jemanden zu küssen, ist immer aufregend und erfordert Mut. Besonders beim ersten Mal. Aber meistens ist es das auch wert."
Nachdenklich nippte Noah Styles an seinem Glas, so langsam, dass der Orangensaft stetig gegen seine Lippen streifte und eine orangene Spur auf seinem Gesicht hinterließ. Charlotte jedoch sagte nichts, weil sie ihren Sohn kannte und wusste, dass er immer ein wenig Zeit brauchte, um seine Gedanken zu sortieren. Er war bedacht, wo Harry stürmisch gewesen war, nachdenklich, wo sie sprach, ohne sich Gedanken zu machen. Das Gegenteil von ihr und ihrem Sternenjungen und dennoch ein Teil von ihnen beiden.
„Mum? Erzählst du mir von deinem ersten Kuss?", fragte der Zwölfjährige schließlich, als sie bereits aufgegessen hatten.
Eigentlich sollte er bereits seine Hausaufgaben erledigen, aber stattdessen hatte er bloß Löcher in die Luft gestarrt.
„Ich weiß etwas noch besseres", meinte Charlotte. „Dein Dad hat einen Brief extra für diesen Moment geschrieben und wenn du schnell deine Hausaufgaben machst, dann können wir ihn noch vorm Fußballtraining lesen."
Als hätten ihre Worte ihm einen Energiestoß gegeben, raste Noah geradezu durch seine Mathehausaufgaben und klappte dann knallend sein Buch zu. „Fertig, Mum."
Lachend stellte sie die Spülmaschine an und nickte dann in die Richtung ihres Sohnes. „Warte kurz, dann hole ich den Brief."
Mit diesen Worten ging sie ins Wohnzimmer herüber, auf die Kiste zu, die immer noch ein wenig wie Magie wirkte. Dabei war es gar nicht der Karton selbst, sondern Harrys Worte auf den Briefen, die der wahre Zauber waren.
Charlotte musste nicht lange suchen, bis sie letztendlich den richtigen Brief für den heutigen Tag fand, weil die Kiste immer leerer wurde. Als sie sah, wie wenig Umschläge sich nur noch in dem Karton befanden, musste sie kurz schlucken. Dann jedoch zwang sie wieder ein Lächeln ins Gesicht, denn heute sollte kein trauriger Tag sein.
„Komm ins Wohnzimmer, Noah", rief sie und setzte sich dann aufs Sofa.
Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis der Zwölfjährige sich neben sie fallen ließ. „Liest du mir vor?"
„Wenn du möchtest?"
„Ja, bitte. Es ist irgendwie schöner, Dads Worte laut zu hören", meinte er.
Ein Lächeln legte sich auf Charlottes Lippen. „Na dann wollen wir mal sehen, was Hazza alles zu sagen hat."
Lieber Noah,
Wenn du diesen Brief öffnest, dann musst du schon sehr erwachsen sein. Wahnsinn, wie schnell die Zeit vergeht. Ich hoffe, dass du trotz allem nicht vergisst, deine Mum ab und an zu umarmen. Denn das kann sie bestimmt wirklich gebrauchen. Ich kann es nicht mehr, aber du kannst es für mich tun. Doch das ist ja eigentlich gar nicht das Thema und ich wette, dass du viel lieber etwas anderes hören möchtest.
Dieser Brief hier ist für deinen ersten Kuss gedacht, weswegen ich schätze, dass du bereits älter bist als Zehn. Elf vielleicht? Zwölf? Dreizehn? Vielleicht auch bereits Siebzehn? Daran wäre auch nichts falsches, denn es gibt bei all diesen Erfahrungen keine Altersgrenze. Viel wichtiger ist es, dass du bereit dazu bist.
Ich hatte meinen ersten Kuss mit deiner Mum und
„Ich hatte meinen ersten Kuss mit deinem Dad und –"
„Aber ich dachte, ihr seid gar nicht zusammen gewesen am Anfang, sondern erst viel später", unterbrach Noah stirnrunzelnd.
„Waren wir auch nicht", bestätigte Charlotte. „Aber dein Dad und ich haben unseren ersten Kuss trotzdem zusammen gehabt, weil wir Angst hatten, sonst etwas falsch zu machen. So eine Art Praxiskuss."
„Und? Ist der Kuss gut gewesen?", fragte der Zwölfjährige neugierig.
Es brachte sie gleichzeitig innerlich zum Lachen und zum Weinen, denn sie kannte kaum ein Kind, die mehr über die Liebesbeziehung ihrer Eltern erfahren wollte. Die meisten verzogen geekelt das Gesicht, sobald ihre Eltern sich auch nur in den Arm nahmen.
Noah Styles jedoch hörte diesen Geschichten stets gespannt zu, versuchte, so viele Details wie möglich über seinen Vater und dessen Leben zu erfahren. Denn er war darauf angewiesen, sie von anderen zu hören, hatte er doch selbst gar keine Erinnerungen an Harry.
„Nein, der Kuss war wirklich nicht gut", lächelte Charlotte, während sie an diesen Nachmittag vor all den Jahren zurückdachte. „Aber irgendwie dann doch."
„Das ergibt keinen Sinn."
„Warte erst einmal ab, was dein Dad dazu schreibt, okay? Ich glaube, er wird das erklären."
„Okay."
Ich hatte meinen ersten Kuss mit deiner Mum und wir sind dabei wahrscheinlich ungefähr so alt gewesen wie heute. Es hat geregnet an diesem Tag, an dem ich meinen ersten Kuss bekommen sollte und wir sind zu mir nach Hause gerannt, lachend, weil die Tropfen unsere Haare durchnässten und man wundervoll durch die Pfützen springen konnte.
Als wir bei mir zuhause angekommen sind, hat deine Oma Anne uns die Haare mit einem Handtuch trockengerubbelt und uns dann in trockene Kleidung gesteckt. Deine Mum hat ohnehin andauernd bei mir übernachtet, weswegen sie auch ein paar Klamotten bei mir im Zimmer hatte.
„Wie oft hast du denn bei Daddy übernachtet?", fragte Noah gespielt unschuldig.
Charlotte lachte, weil sie genau wusste, worauf er hinauswollte. „Meistens am Wochenende. Also frag erst gar nicht, ob Willow öfter hier übernachten kann. Das ist nur am Wochenende erlaubt und das weißt du auch."
Nachdem wir wieder trocken waren, haben wir Hausaufgaben gemacht und dann haben wir uns irgendwann darüber unterhalten, dass dieses Mädchen in unserer Klasse schon total viele Küsse gehabt hatte. Daraufhin habe ich vorgeschlagen, dass deine Mum und ich doch einfach unseren ersten Kuss zusammen haben sollten. Wir hatten wirklich total Panik, etwas falsch zu machen und ich dachte, dass ein erster Kuss mit meiner besten Freundin vielleicht nicht ganz so schwer wäre.
Trotzdem habe ich total schwitzige Hände gehabt, als ich deine Mum das erste Mal geküsst habe, Noah. Ich glaube, das hat sie auch gemerkt, aber sie ist nett genug gewesen, es mir nicht zu sagen.
Charlotte blickte überrascht auf den Brief herunter, weil sie das tatsächlich nicht gewusst hatte. Sie war viel zu sehr mit ihrem eigenen klopfenden Herzen beschäftigt gewesen, als das sie gemerkt hätte, dass Harry vor Panik geschwitzt hatte. Es überraschte sie, wie unterschiedlich und doch gleich ihre Erinnerungen an diesen Tag waren.
Als wir uns dann geküsst haben, haben die Lippen deiner Mum nach Erdbeeren geschmeckt. Das weiß ich noch so genau, weil ich in diesem Augenblick gedacht habe, dass Küssen wirklich toll ist, wenn man dann immer Erdbeergeschmack bekommt. Natürlich ist das nicht so, sondern es lag nur daran, dass deine Oma Anne uns vor unserem ersten Kuss ein paar Stücke Erdbeerkuchen hochgebracht hatte. Aber in diesem Moment hat mich der Gedanke echt beschäftigt.
Deine Mum und ich hatten bei unserem ersten Kuss übrigens überhaupt keine Ahnung, was wir machten. Bei unserem ersten Versuch haben wir uns fast den Kopf gestoßen.
Wir haben wirklich so viel falsch gemacht bei unserem ersten Kuss. Aber weißt du was, Noah? Es war dennoch irgendwie ein wunderbarer Kuss, weil wir uns geliebt haben. Also hab keine Angst davor, dass dein erster Kuss nicht großartig wird. Solange du das Mädchen gern hast, wird es trotzdem eine schöne Erinnerung werden.
„Glaubst du das auch, Mum? Das mein erster Kuss nur gut werden kann, wenn ich das Mädchen gerne habe?", fragte Noah zögerlich.
„Auf jeden Fall", lächelte Charlotte. „Solange man sich gern hat, muss nichts perfekt sein. Manchmal ist es sogar viel besser, wenn nicht alles glatt läuft. Also brauchst du wirklich keine Angst zu haben."
Noah sprang nickend vom Sofa hoch. „Ist es okay, wenn ich vorm Training noch zu Willow gehe? Wir gehen dann gemeinsam zum Fußball."
„Na klar", stimmte sie zu. „Aber vergiss deine Sporttasche nicht."
„Werde ich nicht", rief Noah, während er sich bereits in seine Schuhe zwängte. Dann schnappte er sich seine Sportsachen sowie seinen Haustürschlüssel und verabschiedete sich von seiner Mutter, bevor er die Tür lauthals ins Schloss zog.
Das Charlotte ihm irritiert hinterher sah, merkte der Junge bereits nicht mehr, denn er war bereits joggend in Richtung des Hauses der Tomlinsons unterwegs. Als er dort aufschlug, sein Atem Kreise in die Luft malend, seine Hände bereits total verfroren, weil er seine Handschuhe vergessen hatte, betätigte er die Türklingel und wartete ungeduldig, bis endlich geöffnet wurde.
„Nona", quietschte Aubrey begeistert und schlang ihre Arme um sein Bein.
„Hey, Kleine", lachte Noah und wuschelt ihr einmal durch die hellblonden Haare, die denen von Willow so ähnlich sahen. Im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester besaß Aubrey jedoch braune Augen anstatt den durchdringenden blauen.
„Wer ist denn an der Tür?", rief Eleanor und trat dann eine Sekunde später in den Hausflur. Als sie Noah erblickte, lächelte sie. „Na, was machst du denn hier? Willow ist noch gar nicht da."
Der Junge räusperte sich. „Ist es okay, wenn ich in ihrem Zimmer auf sie warte?"
„Klar doch. Du wohnst ohnehin schon halb hier", lachte Eleanor.
Er schlüpfte aus den Schuhen und eilte dann die hölzerne Treppe hinauf, wobei er Aubrey zurief, dass er später nach dem Training mit ihr spielen würde, weil die Kleine in Tränen ausbrach, sobald er nach oben verschwand. Aubrey Tomlinson vergötterte Noah in solchem Maße, dass ihre Eltern ihn stets damit aufzogen, dass sie ihn irgendwann einmal heiraten würde.
In Willows Zimmer angekommen, ließ er sich auf das Bett fallen und wartete dann darauf, dass seine beste Freundin endlich von ihrem Shoppingtrip zurückkam. Dabei klopften seine Finger eine leichte Melodie entgegen das Metallgitter des Bettes, das sich bereits seit Ewigkeiten in diesem Zimmer befand. Noah konnte sich an keine Zeit erinnern, in dem Willows Raum nicht aussah wie eine Rennstrecke. Während sein eigenes Zimmer voller Sterne war, hatte seine beste Freundin darauf bestanden, dass ihre Eltern ihr pinkes Prinzessinnenreich in eine Autorennbahn verwandelten. Mit Vergnügen waren sie dem nachgekommen, sodass Noah nun auf einen aus Reifen gebauten Schreibtisch starrte. Sein Onkel Lou hatte diesen ursprünglich bauen wollen, war aber handwerklich so unbegabt, dass Liam das schließlich hatte übernehmen müssen.
Der Junge wartete zehn Minuten, dann weitere zwanzig, bis sich die Tür schließlich öffnete und Willow hineintrat. Sie wirkte nicht im Mindesten überrascht, Noah auf ihrem Bett sitzen zu sehen.
„Hey", meinte sie einfach, während sie die Zimmertür schloss.
„Küss mich", entgegnete Noah, ohne weitere Worte an Höflichkeiten zu verschenken.
Seine beste Freundin starrte ihn an, als würde er nackt durch die Fußgängerzone Londons rennen. „Bitte?"
„Ich mag Betty und ich würde sie wirklich gerne küssen", spulte er ohne Pause herunter. „Aber ich will nichts falsch machen bei meinem ersten Kuss und deswegen brauche ich einen Praxiskuss mit dir."
Willow schnaubte, während sie sich neben ihm auf das Bett fallen ließ. „Die Idee ist vollkommen bescheuert, Noah. Außerdem hatte ich meinen ersten Kuss schon. Das weißt du doch."
„Aber ich hatte meinen noch nicht", murmelte er. „Und ich brauche wirklich deine Hilfe. Bitte, ich will mich nicht blamieren, wenn ich Betty küsse. Ich mag sie echt gerne."
„Du bekommst das schon hin", meinte Willow aufmunternd.
Noah zuckte mit den Achseln und ließ sich seufzend nach hinten auf die Matratze fallen. „Und wenn nicht? Was ist, wenn Betty mich auslacht, weil ich beim Küssen so schlecht bin?"
„Dann hat sie dich nicht verdient", erwiderte sie mit funkelnden Augen, die genau aussagten, dass sie Bethany umbringen würde, sollte sie es auch nur wagen, ihrem besten Freund wehzutun. „Ich würde dich dafür nie auslachen."
Triumphierend sah Noah sie an. „Und das ist genau der Grund, warum ich meinen ersten Kuss mit dir haben will. Komm schon, bitte."
„Das würde aber doch gar nicht wirklich zählen", meinte sie. „Du magst mich nicht auf diese Weise, Noah. Das ist eine ganz andere Situation."
„Aber ich liebe dich als meine beste Freundin. Das sollte doch ausreichen."
Seufzend sah Willow ihn an. „Bist du sicher, dass du das willst?"
„Ja", grinste Noah und setzte sich dann wieder auf, um sie ansehe zu können. „Ich will das wirklich. Bitte."
„Also gut", murmelte Willow augenverdrehend. „Aber sag hinterher nicht, dass du deinen ersten Kuss lieber mit jemand anderem gehabt hättest."
„Das würde ich nie sagen", versicherte er mit ernsthafter Stimme. „Ich würde es nicht einmal denken."
Ein kleines Lächeln legte sich auf Willows Lippen. „Dann los."
„Was?"
„Küss mich", grinste sie.
Noah starrte sie an, als wüsste er nicht, wie er überhaupt in diese Situation geraten war. Seine Handflächen begannen zu schwitzen, so sehr, dass er sie heimlich an der Bettdecke abwischte und in diesem Augenblick verstand er genau, wie sein Vater sich bei seinem ersten Kuss gefühlt hatte.
„Das ist doch der Sinn des Ganzen hier, oder?", merkte Willow an.
Er räusperte sich. „Ja."
„Na, dann los."
„Ich traue mich nicht", murmelte er mit roten Wangen.
„Soll ich es machen?"
„Ja, bitte."
Willow lächelte und beugte sich dann in seine Richtung. Kurz bevor sich ihre Lippen trafen, stoppte sie und sah ihm einen Augenblick lang in die Augen. Einen Augenblick lang war es still in diesem Zimmer, bloß ihr stockender Atem war zu hören, bloß ihre funkelnden Augen zu sehen. Dann legten sich ihre Lippen aufeinander.
Und während sie sich küssten, verstand Noah das erste Mal, wie Liebe sich anfühlen konnte.
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Hallo ihr Lieben,
Noah hatte nun also seinen erste Kuss. Nicht ganz mit dem Mädchen, mit dem er eigentlich ausgehen will, aber wahrscheinlich doch keine so schlechte Idee ;)
Übrigens, erinnert ihr euch noch an euren ersten Kuss?
Wie immer vielen Dank fürs Voten und vor allem fürs Kommentieren!
Bis zum nächsten Mal!
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