| 59. SILENT NIGHT

[ ACT TWO. STRANGE LANDS ]
[ CHAPTER FIFTY NINE. SILENT NIGHT ]

▬▬▬▬

KALIA BORCELANE

▬▬▬▬

❝THE DEAD ARE GONE AND THE LIVING ARE HUNGRY.❞

▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬

DIE STRAẞEN DES KAPITOLS WAREN DÜSTER UND VERLASSEN.

Der Mond schien hell am Himmel, halbvoll warf er seine Schatten auf ein paar Kapitolbewohner, die sich betrunken aneinanderklammerten.

In der Ferne hörte man das Schlagen von Pferdehufen auf dem Asphalt widerhallen, die leisen Stimmen einzelner Menschen in der sturmverwehten Nacht.

Ansonsten herrschte einsame Stille, kein Laut war zu hören - nur vereinzelt leuchteten die blitzenden Scheinwerfer silberner Limousinen, die sich des Nachts ihren Weg durch die verschneiten Straßen bahnten, in der Dunkelheit auf.

Eine Kutsche, von zwei schwarzen Pferden gezogen, schwebte geisterhaft durch den noblen Teil des Kapitolviertels. Ihr kugelförmiger Bau - funkelndes, dunkles Gestein, veredelt durch reines Kristallglas, strahlte selbst zwischen all dem Reichtum der Bewohner eine besondere Note des Wohlstands aus.

Zu beiden Seiten des Boulevards erstreckten sich prachtvolle Wohnhäuser, ein paar Fenster hell erleuchtet, trotz der späten Stunde.

Ein paar kugelrunde Straßenlaternen erhellten Gehsteige und Gassen, während der Schnee unablässig zu Boden fiel, in kleinen Wattewölkchen auf dem frostigen Weiß landete.

Kalia schlang sich die Arme um die Mitte, vergrub ihr Gesicht in dem weichen Umhang aus Kunstfell, den sie erhalten hatte, kaum, dass sie das Badezimmer der Krankenstation hatte verlassen dürfen.

Im Innern der Kutsche war es kalt - Kalia sah, wie sich ihr Atem in der Luft verteilte, kleine Nebelwölkchen in der Dunkelheit. Schneeflocken wirbelten ihr ins Gesicht, schmolzen auf ihrer Haut, ihrer Kleidung. 

Zehn Minuten später, erhob sich Cassandra von der purpurnen Sitzbank, und ließ die Fensterscheiben nach oben fahren.

Nun brauchte sie weder die dicke schwarze Stoffhose, noch den hellblauen Wollpullover, um sich vor der winterlichen Kälte zu schützen - doch nichts konnte die Kälte aufhalten, die sich in ihrem Innersten ausbreitete, schleichend, unaufhörlich.

Sie fürchtete sich.

Ihre Hände zitterten, und ihr Körper fühlte sich taub an, beinahe stumpf, von der eisigen Welt dort draußen verzehrt, während ihr Herz in ihrem Brustkorb auf und ab hüpfte.

Kalias Blick glitt zu Cassandra, die nachdenklich aus dem Fenster starrte, den Sturm weißer Flocken beobachtend. Etwas schien sie zu beunruhigen.

Kalia traute sich nicht, das andere Mädchen zu fragen, um was es sich dabei handeln mochte - sie glaubte nicht einmal, dass es sie überhaupt interessieren würde.

Vielleicht war es aber auch ihr neu entdeckter Stolz, der Trotz, diese kindische Art von Widerstand, die sie dazu veranlasste, sich möglichst kühl zu verhalten.

( Vielleicht hätte sie besser gefragt. )

Mit einem Ruck kam die Kutsche zum Stehen - plötzlich, unvorbereitet, und Cassandra sah auf.

Das Trommeln der Hufe auf dem vereisten Asphalt verstummte - Schritte wurden laut, dann öffnete der Fahrer die Kutschentür.

Eine Eisbrise wehte hinein, zerzauste Kalias sorgfältig gewelltes Haar, riss an ihrer Kleidung, ihren Nerven, ihrem Herzen.

Cassandra schenkte Kalia ein schmales Lächeln, betrachtete sie mit einer Mischung aus kaum verholenem Spott und sorgfältig versteckter Furcht.

»Wir sind da.«

DER SCHNEE KNIRSCHTE UNTER IHREN STIEFELN, FEINE EISKRISTALLE AUF WATTIG WEIEM GRUND.

Ein schmiedeeisernes Gartentor, das kaum bis zur Hüfte reichte, wurde knarrend zurückgeschoben. Stumm marschierte Cassandra hindurch, führte sie durch den verschneiten Vorgarten eines Apartmentkomplexes.

Die Nacht war kalt und klar, der Himmel sturmverhangen, Mond und Sterne von dunklen Wolken bedeckt.

Das Anwesen, auf das Cassandra zusteuerte, war weiß - ein schneeweißes Gebäude, sorgfältig verputzt, mit zwei länglichen Säulen, die die zweite Etage stützten, einer kurzen, gepflasterten Auffahrt, und einem pechschwarzen Ziegeldach.

Dieses Haus scheint von mehreren Familien bewohnt zu werden, schoss es Kalia durch den Kopf, denn sie bemerkte die Reihe identisch wirkender Türen zu beiden Seiten des Wohnbereichs, in welchen Cassandra sie geführt hatte. Nur durch einen halbhohen, schneeweißen Lattenzaun wurde dieser Abschnitt von dem des nächsten Bewohners abgegrenzt.

Scheinbar mühelos bahnte sich Cassandra ihren Weg durch den verschneiten Vorgarten.

Noch immer fielen Flocken vom Himmel, unbeeindruckt, unaufhörlich. Von irgendwoher - vielleicht aus der Wohnung nebenan - ertönte Musik, die sanften Klänge eines Pianos, melancholisch, nachdenklich. Ein paar Kinder rannten lachend den Boulevard hinunter, riefen einander etwas zu, und warfen mit Schneebällen um sich.

Kalia seufzte, und beeilte sich, mit Cassandra Schritt zu halten.

Irgendjemand hatte die kleinen Bäumchen des Gartens liebevoll mit warmweißen Lichterketten dekoriert - sie gaben Kalia ein tröstliches Gefühl, ein Hauch des Willkommens, den sie nicht verleugnen konnte.

Schließlich machte das schwarzhaarige Mädchen vor der Eingangstür des Wohnbereichs halt.

Es klapperte laut, als Cassandra die Post aus dem pechschwarz lackierten Briefkasten nahm - ein Stapel Zeitschriften, und ein dickes Buch, in schimmerndes Samtpapier eingewickelt.

Dann zog Cassandra einen Kristallglasschlüssel aus der Tasche ihres babyblauen Mantels und steckte diesen in eine Vorrichtung inmitten des Türknaufs.

Lautlos und unheilvoll schwang die massive Tür zur Seite - Kalia erhaschte eben noch einen Blick auf zwei goldfarbene Lettern - 2032 - bevor Cassandras Arm sie vorwärtsschob.

Zögernd betrat Kalia das Haus, machte einen Schritt nach vorn, auf funkelnden schwarzen Marmor. Hinter ihr trat Cassandra ebenfalls ein - dann schloss sich die Tür, und Stille kehrte ein.

SIE SPRACHEN NICHT.

Das einzige Geräusch, das man in der Dunkelheit wahrnehmen konnte, waren Kalias hektische Atemzüge, ihr Herz, das wie verrückt in ihrer Brust schlug, schneller, immer schneller -

Alles war dunkel. Dunkel, und kalt, und fremd -

Ein paar Meter vor ihr, links, führten zwei kleine Stufen zu einem Plateau, wohl einer Art Wohnzimmer. Sie sah die schwarzen Umrisse des Mobiliars, schwach beleuchtet vom Mondlicht, das durch die deckenhohen, kirchenähnlichen Fenster hineinfiel, sah den Schnee, der leise zu Boden rieselte, die zierlichen Bäume unter einer neuen Schicht Weiß verbarg.

»Wo sind wir?«, traute sie sich zu fragen, ihre Stimme kaum mehr als ein ersticktes Flüstern.

»Daheim«, war alles, was Cassandra erwiderte, bevor sie ihre Schuhe abstreifte und den Schlüssel in eine Schale neben der Tür fallen ließ.

( Daheim. )

Kalia runzelte die Stirn.

Hatte dieses Mädchen denn vor, hierzubleiben? Hatte man ihr nicht bloß aufgetragen, sie an ihren neuen Wohnsitz zu eskortieren? Wieso -

»Oh, aber mach dir keine Sorgen. Mein Vater ist vor dem Morgengrauen nicht Zuhause.«

Die Welt verstummte. Kalias Herz drohtestillzustehen, eingefroren, begraben unter Schnee und Eis.

»Was?«

Cassandra lachte freudlos und hängte ihren Wintermantel an einen Haken, direkt neben der Tür.

( Keine Antwort. )

Kalia blinzelte.

( Sie - sie hat mich von Anfang an begleitet. Auf der Krankenstation des Trainingscenters, auf dem Weg zur Kutsche, während der Fahrt - Kalia hatte geglaubt, dies wäre ihr Auftrag gewesen, doch jetzt ... Sie hat die Post geholt. Sie hat gewusst, wohin sie laufen muss - zu welchem Haus, welcher Tür, inmitten von dichtem Schnee und weißem Stein - Sie hat einen Schlüssel benutzt - keine Codekarte, um die Tür zu öffnen ... Ihr Mantel - Sie weiß, wo sich die Garderobe befindet. Dies ist ihr Zuhause. Und ihr Vater - )

»Was - was meinst du damit - dein Vater wird nicht vor dem Morgenzurück sein?«

Ihre Stimme klang schwach, zittrig, und Cassandra schenkte ihr in der Dunkelheit ein kleines Lächeln. Im kalten Glanz des Mondes, und dem warmen Schein der Lichterbäume wirkte es düster, unheimlich geradezu.

»Ich meinte genau das, was ich gesagt habe. Dies ist mein Zuhause. Und jetzt - wird es auch deines sein.«

»Dein Vater ... dein Vater hat für mich bezahlt?«

»Ich hatte vergessen, es zu erwähnen, oder?«, fragte Cassandra abwesend, während sie den Stapel Post auf einer Kommode neben der Tür platzierte.

»Ähm, ja?«

Cassandra schüttelte den Kopf, wandte sich von den Zeitschriften ab, die sie bis eben sortiert hatte, und machte ein paar Schritte in das Haus hinein. Geistesabwesend spielten ihre Finger mit einem silbernen Armband, das sie um ihr Handgelenk geschlungen hatte.

»Nun, es hätte ohnehin keinen Unterschied gemacht. Dennoch wärst du mitgekommen - nicht nur, weil du keine Wahl gehabt hättest, sondern auch, weil ein kleiner Teil, irgendwo in dir drin, dankbar ist für diese Chance. Diese zweite Chance. Du wärst mitgekommen, weil ein Teil von dir denkt, dass es das Richtige ist - das Mindeste, nachdem du nicht gestorben bist, wie all die anderen. Dein Pflichtgefühl ist eine deiner wertvollsten Eigenschaften - abgesehen von der Tatsache, dass du gut bist, zu gut - und mitfühlend, und ehrlich, und selbstlos. Du bist ... gut, Kalia, herzensgut. Du könntest niemandem weh tun.«

»Du kennst mich nicht«, flüsterte Kalia, während sie an die Wand des Flurs zurückwich, wild den Kopf schüttelnd. »Du weißt nicht, was ich empfinde, was ich denke, also maße dir nicht an, darüber zu urteilen, wie ich handeln würde.«

Cassandra zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Ihre dicken Flauschsocken machten keinerlei Geräusche auf dem dunklen Marmorfußboden, als sie kurz vor Kalias Gestalt zum Stehen kam.

»Ich weiß, du kannst mich höchstwahrscheinlich nicht ausstehen - und das kann ich dir nicht mal verübeln. Du weißt nicht, wie das ist - hier zu leben, in diesem Haus - was es aus dir macht. Aber keine Sorge«, meinte sie, und machte einen Schritt zurück, ließ ihren Blick über die Möbel schweifen, die man in der Dunkelheit kaum identifizieren konnte. »Du wirst es erfahren.«

Mit diesen Worten schlängelte sie sich an Kalia vorbei, und machte einen Schritt nach rechts, hinein in einen schmalen, kaum beleuchteten Korridor.

( Sie schien keinerlei Gedanken daran zu verschwenden, dass Kalia vorhaben könnte, zu fliehen - doch diese hatte das Einrasten der Schlösser gehört, kaum, dass die Tür wieder zur Seite gefahren war. Sie war nicht so dumm, darauf zuzulaufen, am Knauf zu rütteln, zu betteln, dass man sie befreien würde. Sie war hier gefangen - und dessen war sie sich vollkommen bewusst. )

»Du solltest nicht trödeln«, rief Cassandra von vorn, ihre Gestalt schwach erleuchtet in der Dunkelheit des Anwesens. »Vor allem nicht hier.«

Da war etwas in ihrem Ton - etwas, das Kalia einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Hastig schüttelte sie den Kopf, und beeilte sich, Cassandra in die Finsternis zu folgen.

DIE LICHTER DES KERZENLEUCHTERS FLACKERTEN UNHEILVOLL.

Der helle Schein warf tiefe Schatten auf die Böden - allesamt schwarz, aus funkelndem Marmor, verziert mit silbrigen Punkten, als würde man einen von Sternen übersäten Nachthimmel entlanglaufen.

Die Wände unterschieden sich derweil voneinander - manchmal waren sie aus blankem Stein - manchmal wurden sie von edlen Tapeten und kunstvollen Bordüren verhüllt - oft waren sie aus rohem, fein geschliffenem Fels, vielfarbig und wunderschön - aber auch kalt und unnahbar.

Der Kerzenleuchter, den Cassandras Finger umklammerten, beleuchtete hübsche, stilvolle Wohnräume, allesamt offen und weitläufig, veredelt mit modernem Mobiliar.

Schweigend führte sie Kalia durch schmale Flure - breite Treppen hinauf und wieder hinunter - und über das schimmernde Parkett weiter Säle.

Das Apartment war erschreckend groß, seine Räume verworren und unauffindbar, verloren in einem Labyrinth aus zahlreichen Treppen und bloßem Stein - Kalia bezweifelte, dass sie sich jemals hier zurechtfinden würde.

Inzwischen befanden sie sich auf der Westseite des Anwesens, im ersten Stock.

Cassandras Schritte vervielfältigten sich - wurden deutlich zügiger, kaum, dass sie die unzähligen Stufen der engen Stiegen passiert hatten - eilig zwängte sie sich an dunklen Kommoden vorbei - Kalia konnte kaum noch mit ihr Schritt halten -

Da. Ein Licht. Es flackerte - ein kalter, eisblauer Schein, über einer der vielen Ebenholztüren.

Kalia blieb stehen.

In keinem anderen Korridor hatte sie bisher eine Lichtquelle entdeckt. Nur Cassandras Kerzenleuchter hatte ihnen geholfen, sich in der Finsternis zurechtzufinden -

»Was tust du denn? Komm, weiter!«, hörte sie Cassandras Stimme, ein panisches Flüstern in der Dunkelheit.

Kalia schüttelte den Kopf, riss sich von dem seltsam flackernden Licht los, und machte einen Schritt nach vorn, suchte nach dem hellen Schein des Kerzenleuchters, suchte nach Cassandra.

Kaum hatte sie sich auch nur einen Zentimeter entfernt, erlosch das Licht mit einem unheilvollen Zischen und Finsternis überkam sie.

Kalia stockte der Atem.

( Nein. Nein, nein, nein - )

( Dieses Haus - dieser Flur - Wo war sie? Wo war Cassandra? Was - )

Plötzlich, ein Geräusch.

Ein Schaben. Dann - ein Knarren.

Kalia hielt den Atem an.

Das Knarren wurde lauter, und ein Pochen ertönte, direkt hinter einer der Türen.

»C-Cassandra?«

Keine Antwort.

( Was geschieht hier? )

Das Knarren verstummte.

Tapfer machte Kalia einen Schritt nach vorn, spürte, wie ihr Herz bei dieser Bewegung zu rasen anfing.

Überall war Dunkelheit.

Etwas rumpelte zu Boden.

Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihre rechte Seite, ein Wimmern entfloh ihren Lippen. Sie war gegen etwas gestoßen - wahrscheinlich eine der zahlreichen Kommoden, die man in diesem Flur vorfand.

Den dumpfen Schmerz beiseite schiebend, machte sie einen weiteren Schritt nach vorn, hoffte, alsbald den hellen Schein des Kerzenleuchters zu sehen zu bekommen - vielleicht dort - hinter einer Ecke? Vielleicht hatte der Flur eine Biegung gemacht - vielleicht war das der Grund, wieso sie Cassandra nirgendwo entdecken konnte!

( Ein Teil von ihr dachte daran, einfach umzukehren, und aus dem Haus zu fliehen, jetzt wo Cassandra sie allem Anschein nach in der Dunkelheit verloren hatte. Die Türen wären verschlossen, aber vielleicht könnte sie - )

Plötzlich vernahm sie ein Geräusch - ein Rascheln in der Dunkelheit, kaum zwei Schritte entfernt.

Kalia hielt inne. Eine Hand an ihre Seite gepresst, starrte sie in die Finsternis, voller Furcht.

Erneut raschelte es.

Vor ihr, hinter ihr, neben ihr - Sie hatte keine Ahnung.

Nur eins wusste sie - Sie war nicht allein.

( Und Cassandra würde keine Spielchen mit mir spielen. )

Kaum hatte sie das erkannt, machte sie einen verzweifelten Satz nach vorn, scherte sich nicht darum, dass man sie hier festhalten, in einen Käfig sperren würde -

Da war etwas. Etwas an ihrem Handgelenk - eine Berührung, so federleicht, dass sie es kaum bemerkte.

( Nicht vor ihr. Hinter ihr - unter der flackernden Lampe, in der Dunkelheit, direkt vor der Tür. )

Kalia entfuhr ein Schrei, und sie taumelte zurück, ihre Füße stolperten übereinander, sie spürte, wie sie erneut gegen etwas fiel - gegen jemanden. Panisch versuchte sie sich aus dem eisernen Griff zu befreien, der auf einmal ihr Handgelenk umklammerte -

Und plötzlich war da eine Stimme, eine Hand auf ihrem Rücken, Finger in ihrem Haar.

»Hallo, Schwesterherz«, murmelte jemand, dicht an ihrem Ohr, und Kalia glaubte, in Ohnmacht fallen zu müssen. »Schon zurück?«

LICHT DURCHDRANG DIE DUNKELHEIT.

( Der Kerzenleuchter. )

In seinem Schein - warm, tröstlich, sicher - entdeckte Kalia Cassandras Gesicht - ernst und kalt und fremd.

»Lass sie los«, flüsterte das Mädchen, ihre Stimme kaum mehr als ein Wispern.

Die Sekunden verstrichen.

Dann, ein dunkles Lachen, bevor sich der Griff lockerte.

Zitternd stolperte Kalia nach vorn, taumelte auf Cassandra zu, klammerte sich an ihr fest, verkroch sich hinter ihrem Rücken, dem schützenden Schein des Kerzenhalters.

»Verdammt«, fluchte Cassandra. »War das nötig, ja?«

Kalia konnte nicht erkennen, mit wem Cassandra sprach - sie hatte geglaubt, sie wären allein - und doch war jemand hier, jemand, der sie daran gehindert hatte, sich zu befreien - Und sie traute sich kaum, hinter Cassandra hervorzuschleichen, und nachzusehen, um wen es sich dabei handelte.

»Hast du das Licht ausgemacht?«, fragte Cassandra, unwirsch, mit harter Stimme.

Noch immer keine Antwort.

Tapfer fasste sich Kalia ein Herz, und lugte zwischen Cassandras Schulterblättern hervor.

Da war ein Junge - ein Junge mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen, das Gesicht halb von Schatten verborgen, flackernder Kerzenschein auf goldenem Haar.

Er schenkte ihr einen kurzen Blick, und Kalia zuckte zusammen, verkroch sich erneut hinter Cassandras Rücken.

Fort war ihre Entschlossenheit - vergraben unter Schnee und Eis, Mauern aus Stein, Stufen und Lichtern - verschwunden war ihr Trotz, ihr Hass, die brennende Wut -

Sie hatte sie gewarnt. Cassandra - sie hatte sie gewarnt - gewarnt, nicht stehenzubleiben.

( Wieso hatte sie nicht zugehört? )

»Ist sie das? Das Mädchen, das Vater gekauft hat?«

Kalia spürte, wie Cassandra nickte.

»Tja, ihr einen Schrecken einzujagen, scheint kinderleicht zu sein. Ich bin sicher, wir werden eine Menge Spaß zusammen haben.«

»Lass die Spielchen, Ever«, meinte Cassandra, ihre Stimme klang genervt. Doch da war noch etwas anderes - sorgsam versteckte Furcht. »Das ist kein Witz.«

»Vielleicht habe ich es ja auch nicht witzig gemeint?«

»Oh bitte - wir wissen beide, was passiert, wenn du ihr etwas antust.«

Davon wohl nicht allzu beeindruckt, zuckte der Junge - Ever - mit den Schultern.

»Da ich mich ja sonst so an seine Regeln halte«, murmelte er ironisch.

Obwohl Kalia sich größtenteils hinter Cassandras hoher Gestalt verkrochen hatte, so spürte sie, wie die Spannung, die seit Evers Erscheinen in der Luft lag, kaum merklich zunahm.

»Ich würde dir vorschlagen, auf dein Zimmer zu verschwinden, Ever. Vater kommt bald zurück, und dann wird sich hier einiges ändern.«

Ever entfuhr ein spöttisches Lachen - er hatte offenbar seine Zweifel, was Cassandras Drohung betraf. Sein Blick huschte blitzschnell zwischen Kalia und seiner geschlossenen Zimmertür hin und her -

Dann nickte er gelangweilt.

»Sicher. Gute Nacht, Schwesterchen.«

Ever wandte sich um, schlenderte gleichmütig auf sein Zimmer zu - bevor er sich umdrehte, und noch einmal zurückblickte.

Mühelos machten seine Augen Kalias Gesicht in der Dunkelheit aus.

»Oh ja, und - Willkommen daheim - Kalia.«

Er lächelte spöttisch, die Lichter des Kerzenleuchters flackerten hell, dann -

Eine Tür fiel ins Schloss.

Kalia fuhr zusammen.

Stille kehrte ein.

Cassandra stieß die Luft aus, ein Laut irgendwo zwischen Erleichterung und Frustration.

»Komm mit«, befahl sie, ihre Stimme resigniert, nicht länger flüsternd oder gar vorsichtig. »Dein Zimmer ist gleich dort drüben. Ich muss dir wohl nicht mehr sagen, dass es besser wäre, wenn du nah bei mir bleibst.«

CASSANDRA ÖFFNETE DIE TÜR UND KALIA TRAT EIN.

Kurz sah sie sich um - ihr neues Zimmer war groß, größer noch als das, das sie im Trainingscenter bewohnt hatte.

Die Wände waren mit cremefarbener Tapete verkleidet, der Teppich lavendelfarben und flauschig. Die Möbel bestanden aus einem glänzenden, weiß lackierten Material, versehen mit goldenen Messingknöpfen. Ein Bett thronte in der linken Ecke des Raumes, bedeckt von einer dunkelblauen Überdecke, ausstaffiert mit makellos weißen Kissen, verziert von violetten Sternen und silbernen Fäden.

»Gefällt es dir?«, fragte Cassandra, und platzierte sorgfältig einen Stapel Kleidung auf dem Bett.

»Macht das einen Unterschied?«

»Nein«, gab das schwarzhaarige Mädchen zu.

»Es ist in Ordnung«, gab Kalia widerstrebend zurück, ließ sich vorsichtig auf die weiche Bettdecke sinken. Alles fühlte sich teuer an, edel -

( Ich passe hier nicht her. )

»Möchtest du reden?«

Kalia sah auf.

»Reden? Worüber?«

Cassandra zuckte unbeholfen mit den Schultern, machte sich nun daran, die Kleidung auseinanderzufalten. »Ich - ich weiß nicht.«

Sie schwiegen.

Irgendwann wandte Kalia den Kopf.

»Dein Bruder-«

»Stiefbruder«, presste Cassandra mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und du tätest gut daran, dich vor ihm in Acht zu nehmen.«

( Ah. So viel also zum Angebot, darüber zu reden. )

»Keine Sorge«, gab sie mit kühler Stimme zurück. »Ich habe auch nicht vor, mich mit einem von euch allzu sehr anzufreunden.«

Sie tat weitaus mutiger, als sie sich fühlte - die seltsame Begegnung auf dem Flur bereitete ihr nach wie vor Magenschmerzen, sorgte dafür, dass ihr Atem sich beschleunigte, und ihr Herz zu rasen anfing.

»Nun, das ist wahrscheinlich eine weise Ansicht«, meinte Cassandra nickend. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob du das in Kürze immer noch so sehen wirst.«

»Was soll das denn heißen?«, gab Kalia defensiv zurück, ihr Tonfall ungewohnt angriffslustig.

( Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich ... verurteilt. Warum? Sie hatte doch absolut nichts falsch gemacht. )

Cassandra warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, und ein Schatten huschte über ihr blasses Gesicht. Dann wandte sie sich ab, und nestelte an der Nachttischlampe herum, einer kleinen Kugel mit Kristallummantelung, aus der ein helles, warmes Licht drang.

»Ever - er weiß genau, wie er kriegt, was er will«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte.

Kalia zog die Augenbrauen zusammen.

( Was sollte das nun wieder heißen? Und vor allem - was hatte es mit ihr zu tun? )

Erschöpft fiel ihr Körper in die aufgestellten Kissen.

Müdigkeit und Schwindel überkamen sie jäh, ihre Augenlider flatterten träge, und ihre Glieder fühlten sich mit einem Mal tonnenschwer an.

»Ich werde dich jetzt allein lassen«, beschloss Cassandra und schenkte ihr einen warnenden Blick. »Mach dich bettfertig, versuch, etwas zu schlafen. Dieses Anwesen ist mit der neusten Technologie des Kapitols ausgestattet - es hat also keinen Sinn zu fliehen, falls du das vorhattest.«

Kalias Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. Trotzig wandte sie ihren Kopf in Richtung Fenster, starrte stur auf die Schneeflocken, die frei und leichtlebig zu Boden rieselten, außerhalb der Mauern dieses neuen Gefängnisses. Nun, da Cassandras Stiefbruder sich nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, kehrte ihre Wut, ihr Widerstand langsam zurück.

»Kalia?«

»Ich werde nicht versuchen, zu fliehen.«

Ihre Stimme klang flach, resigniert - nichtsdestotrotz kalt wie Eis.

»Gut.«

Sekunden verstrichen, dann -

Die Tür fiel ins Schloss.

Ein zischendes Sirren, und Kalia wusste, sie brauchte nicht aufzustehen, nicht nachzusehen - wieder einmal war sie gefangen.

Sie seufzte, schlang verloren die Arme um die Beine, und ließ ihren Kopf auf ihre Knie sinken.

EINE MISCHUNG AUS FLIEDER UND VANILLE ZOG DURCH DAS ZIMMER, ALS KALIA AUS DEM BADEZIMMER TRAT.

Noch immer waren ihre Gedanken wirr, ungeordnet, und ihre Erinnerungen verschwommen - zu viele Eindrücke waren binnen weniger Stunden auf sie eingestürmt, und die Schmerzmittel drohten mehr und mehr abzuklingen. Weder das weiche Baumwollnachthemd, noch das hübsche Zimmer, konnten daran etwas ändern.

Kalia seufzte, vergrub die nackten Zehen in dem lavendelfarbenen Flauschteppich unter ihren Füßen, steuerte auf die reich gepolsterte Fensterbank zu, und zog ihren Körper nach oben, schlang die Arme um die Knie, hüllte ihre Beine in eine weiße Fleecedecke.

Ein seltsames Gefühl des Friedens überkam sie, als ihr Blick durch das spärlich beleuchtete Zimmer glitt. Die Stille, der Schnee, und der Schein der elektrischen Lichter - flackernde Kerzen, täuschend echt, auf sämtlichen Möbeln verteilt - erzeugten eine ungeahnte Wärme in ihrem Innersten, die sie einhüllte - die ihr Herz mit Liebe füllte, und sie unbewusst lächeln ließ.

Stumm strichen ihre Finger über das kalte Glas der Fensterscheibe.

Draußen war es dunkel.

Alles war friedlich und ruhig und perfekt - die prachtvollen Gärten, unter einer dicken Schneedecke begraben, das dichte Weiß auf Straßen, Zäunen und Dächern, neblige Rauchschwaden, die aus den Schornsteinen strömten, der warme Schein der Lichterketten, die die kleinen Bäumchen schmückten -

Ein Schrei zerriss die Stille.

Kalia fuhr zusammen.

Ihr erschöpfter Körper verlor den Halt, sie spürte, wie sie von der Fensterbank rutschte, wie sich ihre nackten Beine in der Fleecedecke verfingen, und sie schmerzhaft auf dem weichen Teppich ihres neuen Zimmers aufkam.

Ein Zischen entkam ihren Lippen.

Erneut wurden ihre Knie von einem Brennen durchzuckt, welches alsbald als dumpfes Pochen zurückblieb, der Schmerz leicht gemildert, durch die vielen Medikamente, die sie innerhalb kürzester Zeit erhalten hatte.

Stille.

Aber da war ein Schrei gewesen - oder nicht? Ein panisches Heulen, ein Laut voller Furcht - es hatte sich angehört, als ob -

Oder hatte sie sich vielleicht getäuscht? War dies nur eine Einbildung, eine seltsame Fantasie? Eine Halluzination, hervorgerufen durch eines der Schmerzmittel -

Nein, dachte sie, und ihre Gedanken stürzten übereinander.

Nein, denn jetzt waren da Schritte - Schritte auf dem Flur.

Die Zähne zusammenbeißend, rappelte Kalia sich vom Boden auf. Hastig löschte sie die Lichter und warf sich aufs Bett, zog die Decke über ihren zitternden Körper, hielt den Atem an.

Ein Knacken.

Ein Knarren.

Die Schritte kamen näher.

Spielte Cassandra ihr einen Streich? Oder war es Ever? Wollte er ihr erneut einen Schrecken einjagen? ( Etwas sagte ihr jedoch, dass es diesmal wohl kaum bei einem harmlosen Streich geblieben wäre. )

Noch näher.

( War dies vielleicht Cassandras Vater - der doch früher nach Hause zurückgekehrt war, der sie nun aufsuchen wollte, der - )

Urplötzlich kamen die Schritte vor ihrer Zimmertür zum Stehen.

Für einen kurzen Moment herrschte einsame Stille.

Dann hörte sie ein Kratzen, ein Trommeln, als würde jemand über den Türrahmen streichen, langsam, drohend, über den Marmor, entlang der Verzierungen.

Kalia wimmerte.

Stille.

Dann - weitere Schritte, leiser diesmal.

Sie entfernten sich, verklangen mehr und mehr ...

Kein Laut war nun noch zu hören.

Erleichtert stieß Kalia die Luft aus.

Mit einem Mal fühlte sie sich unendlich erschöpft, beinah zerschlagen. Ihre Augenlider flatterten, ihr Herzschlag verlangsamte sich, sie spürte Müdigkeit in sich aufwallen, und ein ziehendes Gefühl, das sich in ihrem Rücken ausbreitete. Der Nebel drohte in ihr Unterbewusstsein zurückzukehren.

Sie hatte stark bezweifelt, in dieser Nacht überhaupt ein Auge zuzubekommen - nach wie vor tobte ein Sturm in ihrem Geist - Eindrücke, Ereignisse, die sich überschlugen und übereinanderfielen - dunkle Flure, ein schwacher Kerzenschein - eine Hand in ihrem Haar, ein dunkles Lachen - ein ohrenbetäubender Schrei, Cassandras spöttisches Lächeln, die warnenden Schritte vor ihrer Tür - Doch ehe sie es sich versah, fielen ihre Lider zu, und ihr Geist sank in einen friedvollen Dämmerzustand.

EIN OFFENSTEHENDES FENSTER, NUR ZWEI RÄUME ENTFERNT, STRAHLTE EIN HELLES LICHT IN DIE NACHT HINAUS. Ungehindert wirbelten die Schneeflocken zu Boden, fielen und fielen - bedeckten langsam aber sicher den Umriss eines menschlichen Körpers, direkt unter dem offenen Fenster.

▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬

( author's note: )

Hᴀʟʟᴏ, ɪʜʀ Lɪᴇʙᴇɴ!

ich wünsche euch einen wunderschönen ersten dezember! das haus ist weihnachtlich geschmückt, der adventskalender aufgebaut & morgen ist schon der erste advent - die weihnachtszeit ist einfach die schönste zeit des jahres!

ich hoffe, euch hat kapitel neunundfünfzig gefallen - mit cato & clove wird es dann erst im januar weitergehen - die nächsten zwei updates beinhalten ein kleines weihnachtsspecial & einen kurzen ausblick auf kalias weiteres leben im kapitol.

wie immer möchte ich an dieser stelle all jenen danken, die mich seit halloween fleißig unterstützt haben - vielen herzlichen dank an tensbabygirl, moonlight_werwolf, starryeyedturtle, Iycanthropuns, Cathayia, S_P_Q_R_16, BlackGirlNumber1, July112 und TheDarkTemptation. ich wünsche euch nun noch einen wundervollen abend, einen schönen ersten advent & eine zauberhafte vorweihnachtszeit!

➤ dieses kapitel ist für TheDarkTemptation. alles, alles liebe zum geburtstag, mausi! ich hoffe, dir hat dieses kapitel gefallen - du musst es nicht lesen, ehrlich - ich meine, ich bin sicher, es hat dir gefallen - aber zurück zum thema. danke, dass du immer für mich da bist, mich aufbaust & mir zuhörst! dieses jahr war vielleicht ein bisschen stressig - aber ich bin froh, dass wir so viel spaß zusammen hatten & so viele tolle sachen gemeinsam erleben konnten! ich hab dich lieb!

happy birthday! ich liebe dich <3

▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top