Kurzgeschichte: Ich liebe dich ewig.
Was ein verdammtes Sauwetter.
Draußen regnet es in Strömen. Windböen zerren an den letzten Blättern der Bäume, draußen auf der Straße, die sich noch verzweifelt an die dürren Äste klammern. Der Regen fällt beinahe senkrecht zur Straße. Autos rasen vorbei. Ihre Rücklichter verschwimmen zu Prismen roter Regentropfen, die an der Fensterscheibe neben mir herunterlaufen. Regenschirme werden geschlossen, weil der Wind sie umbläst. Menschen suchen Unterschlupf in den Läden entlang der Einkaufsstraße. Das kleine Glöckchen des Cafés, in dem ich sitze, bimmelt beinahe ununterbrochen. Ich kann mich kaum auf mein Buch konzentrieren.
Bereits zum vierten Mal lese ich den gleichen Absatz, aber ich verstehe noch immer nicht, was die Protagonisten zu ihrem Begleiter sagt.
Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee und beobachte das Unwetter draußen. Vor sechs werde ich wohl nicht mehr nach Hause kommen. Hoffentlich zerstört mein Kater Kasimir währenddessen nicht meine komplette Wohnung. Das letzte Mal, als er den Fernseher von der Wand herunter gezogen, meinen kompletten Kleiderschrank auseinander genommen und seine Krallen in alle weichen Oberflächen gebohrt hat, hat mir bereits gereicht. Ganz zu schweigen von seiner vulgären Art sich mit Fäkalien im Wohnzimmer zu beschweren. Die Flecken krieg ich zu meinen Lebzeiten nicht mehr aus dem Teppich.
Ich seufze. Wenigstens ist er eine Hauskatze und deswegen nicht bei diesem Sturm draußen. Das würde mir viel mehr Sorgen bereiten, als eine chaotische Wohnung.
Aus dem Augenwinkel sehe ich einen weißen Fleck. Es ist eine Serviette, die auf der Kante meines kleinen Tisches liegt. Eine Frau läuft mit schnellen Schritten von mir weg. Ich sehe nur ihren grünen, löchrigen Parka. Sie geht auf den Ausgang zu, die Glocke klingelt. Wer verlässt bei diesem Wetter freiwillig ein sicheres und trockenes Gebäude?
Die Frau läuft draußen vor der Fensterfront vorbei. Sie muss sich gegen den Wind lehnen. Ihre Kapuze wird ihr vom Kopf geweht und ihre Haare flattern ihr in sekundenschnelle nass um den Kopf. Ich kriege schon Ohrenschmerzen, wenn ich sie nur ansehe. Auf einmal bleibt sie stehen und schaut mich an. Ihr Gesicht ist im Wasser, dass gegen die Scheibe trommelt, in Fragmente zersprungen. Ihre Lippen bewegen sich und ein braunes Auge blickt mich eindringlich an. Sie beginnt zu gestikulieren. Ich wende mich von ihr ab. Mich gruselt es ein bisschen.
Sie klopft an die Scheibe.
Ich wende ihr den Rücken zu. Bitte, verschwinde einfach, flehe ich sie in Gedanken an. Mein Blick fällt auf die Serviette. Ohne es wirklich zu registrieren, lese ich den krakeligen Satz, der darauf steht.
Verschwinde von hier, solange Du es noch kannst.
Das Klopfen in meinem Rücken stoppt.
Meine Finger krampfen sich um die Tasse. Ich verschütte Kaffee. Warum verschütte ich Kaffee? Ich sehe auf meine Finger. Meine Hände zittern wie die Blätter draußen im Sturm. Mein Herz wird immer schneller, mein Sichtfeld immer kleiner. In meinen Ohren rauscht das Blut und plötzlich wird alles andere dumpf.
Scheiße. Bitte keine Panikattacke.
Ich versuche meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich bin okay. Ich bin okay. Ich kann atmen. Ich muss nur meine Lungen leeren. Langsam atmen. Bis acht zählen und einatmen. Bis vier und ausatmen. Wo ist diese verdammte Wasserflasche?
Zitternd lasse ich meinen Kaffee los. Ich wühle in meiner Handtasche. Atmen. Atmen. Mein Finger schließen sich um das kühle Plastik. Zitternd schraube ich den Deckel ab und nehme ein paar Züge. Ausatmen. Einatmen. Trinken. Ausatmen. Einatmen. Trinken. Ich bin okay.
Plötzlich erhellt ein Blitz die Fensterfront des Cafés. Beinahe zeitgleich donnert es so laut, dass ich aus dem Stuhl hochfahre. Die Wasserflasche fällt mir aus der Hand und schlägt auf dem Boden auf.
Atmen. Atmen.
Mein Herz will mir aus der Brust galoppieren, so schnell schlägt es. Ich will ihm hinterherrennen, kann mich aber keinen Zentimeter bewegen. Draußen heult der Sturm auf, der Regen schlägt gegen das zitternde Fenster.
Ein weiterer Blitz, noch ein Donnergrollen. Diesmal sogar noch lauter. Meine Beine geben unter mir nach. Mein Hosenboden wird nass. Meine Zähne schlagen aufeinander und ich beiße mir vor Schreck auf die Zunge. Der Schmerz ist plötzlich und angsteinflössend. Der Geschmack von rostigem Eisen breitet sich in meinem Mund aus.
Atmen. Ich muss atmen!
Auf einmal liegt der Geruch von Plasma und verbranntem Holz in der Luft. Ein Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite wankt. Wie in Zeitlupe lehnt er sich zu mir. Als wollte er mir ein Geheimnis zuflüstern. Der Stamm splittert, weiße Knochensplitter ragen aus der Wunde hervor. Wie in Zeitlupe lehnt der kahle Wipfel sich zu mir. Als wollte er mir ein Geheimnis zuflüstern.
Der massive Stamm kracht ins Fenster. Glas klirrt und spritzt und bohrt sich wie winzige Nadeln in mein Gesicht. Unter dem Gewicht kracht der Tisch zusammen, der Stuhl wird zertrümmert. Die Tasse Kaffee zerspringt auf dem Boden. Der Kaffee mischt sich mit dem Wasser.
Meine Schulter schreit vor Schmerz als der Baum darauf niederkracht. Ich spüre meine Knochen brechen, meine Bänder reißen. Ich blute.
Es schmerzt, dann wird alles taub, stumpf, diffus. Schwarz.
+
Als ich aufwache, piept etwas gleichbleibend. Um mich herum summen Maschinen. Jemand röchelt. Irgendwas ist mit meinem Kopf nicht in Ordnung. Er fühlt sich so leicht an.
Irgendjemand sagt etwas, aber ich kann es nicht verstehen. Ich will mich bewegen, aber ich kann nicht. Langsam kehrt das Gefühl in meinen Körper zurück. Auch mein Körper ist merkwürdig leicht. Als bestünde ich aus Watte, Luft und einer einzigen Eisenkugel, die meinen linken Arm an den Boden pinnt.
Auf einmal durchstoße ich eine Membran und komme an die Oberfläche. Die Geräusche um mich herum, machen auf einmal Sinn. Ich verstehe die leise Frauenstimme, die jemanden auffordert, das Zimmer zu verlassen. Das Piepsen ist das EKG, das meinen Herzschlag misst. Das Röcheln stammt von mir. Ich werde beatmet.
Ich bin in einem Krankenhaus. Ich liege in einem Krankenhausbett.
Panik macht sich in mir breit. Das EKG neben mir piepst immer schneller. Die leise Frauenstimme lauter, als sie nach einem Arzt ruft.
Ich fühle geisterhafte Finger auf meinem Körper.
Die Maske. Ich will sie mir vom Gesicht reißen und so weit von mir weg wie möglich schmeißen, aber es geht nicht. Die Finger halten meinen Arm fest und ich bin zu schwach, um sie abzuschütteln.
Ich bin zu schwach.
Mein Körper wird von Schluchzern geschüttelt. Verschwommene Gestalten beugen sich über mich.
Auf einmal fühle ich all die Nadeln, die in meinem Körper stecken.
Ich schreie.
Jemand sagt, ich solle mich beruhigen, aber ich schreie die Stimme weg. Ich schreie alles weg. Ich schreie so lange, bis meine Stimmbändern bluten, reißen, und selbst dann schreie ich noch, bis mein Körper wieder leicht wird und unter die Oberfläche zurückgedrückt wird.
+
Ich schlage die Augen auf.
Jemand hält meine Hand. Es ist die Frau in dem löchrigen grünen Parka. Sie sieht mich an und lächelt traurig.
"Hallo, Julia", sagt sie.
Ich antworte nicht.
Sie drückt meine Hand. "Es tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe. Glaub mir bitte, wenn ich sage, dass ich dich beschützen wollte. Aber so wie immer in deinem Leben, habe ich es auch diesmal nicht geschafft."
Sie atmet zittrig ein.
Sie sieht anders aus als damals. Nicht mehr wie eine lebende Leiche. Ihr Gesicht hat Farbe. Unter ihrem Parka lugt eine braune Strähne hervor. Mir rollt eine Träne die Wange herab, auch wenn ich nicht ganz verstehe, wieso. Woher kenne ich diese Frau? Immer wenn ich nach der Erkenntnis greifen will, ist sie weg.
"Ich weiß, sie haben mir gesagt, du wirst mich nicht erkennen, aber, dich jetzt so vor mir zu sehen..." Sie beginnt zu weinen. "Es tut mir so leid, mein Schatz."
Die Frau vor mir schluchzt so herzzerreißend, dass ich noch mehr weinen muss. Meine Kehle ist wund und es tut weh zu atmen, aber ich heule mir die Augen aus, ohne zu wissen, warum.
"Ich dachte, ich könnte dich beschützen, aber jetzt bist du wegen mir verletzt worden. Sie haben mir gesagt, ich solle mich nicht einmischen, aber wie könnte ich nicht? Wie könnte ich dir dabei zusehen, wie du verletzt wirst?"
Mir liegt ein Wort auf der Zunge. Ein Wort voller verschwommener Erinnerungen einer Stimme, eines Herzschlags und Körperwärme. Erinnerungen, an die ich mich selbst nicht mehr erinnere von Dunkelheit und Schwerelosigkeit und fremden vertrauten Geräuschen.
"Du bist so bleich, meine kleine Nachtigall", weint die Frau.
Ich atme schwer, schluchze. "Mama", schluchze ich.
Sie schaut zu mir. Ihre Augen sind voller Tränen, aber ihr Lächeln ist so breit und erleichtert, wie vor dem Krebs. Vor dem Krankenhaus, dem Haarausfall, der Bettlägerigkeit. Der Blässe. Den Nadeln. Der Linie.
Ihr gesamter Körper zittert, als sie mich in den Arm nimmt. "Mein starke Julia."
+
Es piept. Gleichbleibend. Immer wieder.
Die weiße Krankenhausdecke verschwimmt vor meinen Augen.
Die Tür geht auf. Ein Mann tritt herein. Er ist groß, mit einer Brille auf der Nasenspitze und einem grauen Haarkranz. Er trägt einen weißen Kittel und ein Stethoskop um seinen Hals.
Er tritt an mein Bettende und hält ein Klemmbrett in der Hand.
"Frau Müller, wie schön, dass Sie wieder unter uns weilen", sagt er.
Hinter meinen Augen drückt der Schmerz von zu vielen geweinten Tränen. Meine Haut spannt als ich ihn anlächle. "Ich bin froh, wieder hier zu sein."
+
Als ich das Krankenhaus verlasse, regnet es. In den zwei Wochen, die ich dort war, habe ich zweimal das Zimmer gewechselt, sechs Bettnachbarn gehabt und von fünf die Namen und Leiden gelernt. Ich wurde von siebenmal von Simon besucht, dreimal von Natalie, und zwölfmal von Esme, die einmal sogar Kasimir dabei hatte.
"Er ist total wahnsinnig vor Sorge um dich", hatte sie gesagt. "Frisst fast nicht und liegt die ganze Zeit nur apathisch in der Ecke." Als Kasimir da war, hat er sich neben mich gelegt und mir immer wieder in regelmäßigen Abständen die Hand abgeleckt.
Esme ist für diese zwei Wochen kurzerhand bei mir eingezogen, um sich um Kasimir und meine Pflanzen zu kümmern - ein kümmerlicher Basilikumzweig und eine noch kümmerlichere Schnittlauchpflanze.
Von ihnen abholen lassen, wollte ich mich nicht. Zuerst muss ich noch jemanden besuchen.
Es dauert eine halbe Stunde, bis ich beim Bahnhof bin. Die Straßenbahnen sind durch das Unwetter ein wenig verspätet.
Ich haste durch die Bahnhofshalle, als ich in einem Schaufenster einen grünen Parka an einer Schaufensterpuppe erblicke. Er ist grün mit einer weich gefütterten Kapuze. Ein wenig dunkler als der der Frau, die mir die Serviette hat zukommen lassen, und noch nicht so getragen. Bei seinem Anblick verspüre ich das mir unerklärliche Verlangen, ihn zu kaufen.
+
Als ich nach einer Viertelstunde wieder auf den Bürgersteig trete, ist mein Zug bereits abgefahren. Lächelnd kuschele ich mich in die warme Jacke.
Ich muss nicht lange auf den Nachfolgezug warten, der mich aus der Stadt bringt. Wir lassen die Wolken, die über der Stadt hängen, zurück und fahren hinaus in den Sonnenschein, der sich in den Tropfen überall bricht und in tausend Farben zerfällt.
Mein Weg führt mich auch aus diesem kleinen Örtchen heraus. Vorbei an bunten Fensterläden und entlang immer wieder geflickter Straßen laufe ich auf einen bewaldeten Hügel. Hier fallen noch immer dicke Tropfen von den letzten Blättern und grünen Nadeln. Der Boden ist aufgeweicht, die Wege schlammig. Ich stapfe durch Pfützen und Unterholz, bis ich zu der Aussichtsplattform komme.
Ich war schon seit Jahren nicht mehr hier. Zu schmerzlich waren die Erinnerungen. Aber ich habe genug Tränen geweint. Mich genug davor gefürchtet zurückzukommen.
Als ich die alten, nassen Holzplanken betrete, knarzen sie. Die alte Bank steht noch. Die Farbe ist zwar vollkommen abgeblättert und die oberste Planke der Rückenlehne fehlt komplett, aber sie steht noch. Die vergangenen zwanzig Jahre haben auch dem Geländer nicht gut getan. Einige Querstreben liegen am Boden und verrotten, der Lack der damals neuen Metallstreben platzt bereits an einigen Stellen ab. Einige Bäume lehnen, vom Sturm entwurzelt, zwischen ihren Artgenossen. Als wollten sie sich nur für ein paar Sekunden ausruhen.
Mamas Esche wurde vor sieben Jahren abgesägt. Seitdem bin ich nie wieder hergekommen. Ich bin umgezogen, in die Stadt drei Stunden mit dem Zug entfernt, und habe diesen Ort in meinen Erinnerungen erhalten, bis er mehr zu einem Symbol geworden ist, als ein echter Flecken Erde zu sein.
Mamas Esche hat seitdem ausgetrieben. Fünf schlanke Stämme winden sich umeinander, verzweigen sich und bilden ein niedriges, löchriges Blätterdach. Davor wächst ein junger, immergrüner Schössling mit winzigen roten Beeren.
Eine Eibe.
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