Kurzgeschichte: Eine Todesgeschichte

Tod, die Abwesenheit von Lebendigkeit.
Tot, das Gegenteil von lebend.

Kein Atem, keine Körperfunktionen, kein Bewusstsein. Weg. Vergessen.

Stattdessen eingefallenes Gesicht, blaue Adern unter der grauen Haut, kaum weiße Haare auf dem runden, faltigen Schädel.

Leichenstarre.

Beine und Arme zeichnen sich kaum unter der Bettdecke ab und ein Tuch wurde um das Kinn gebunden, damit der Mund geschlossen bleibt.

Todeszeitpunkt: 18:08. Dann, als seine Kinder nicht im Zimmer waren.

"Endlich, endlich hat er es geschafft", sagt Oma und Mama nickt zustimmend. Trotzdem ist die Stimmung gedrückt, als Oma im Wohnzimmer steht. "Er ist endlich tot."

Mein kleiner Bruder versteht es nicht und als wir in der kleinen, dämmrigen Kammer mit der schlechten Luft stehen, in der mein Uropa seine letzten Momente verbracht hat, vergräbt er seine Nase in seiner Halssocke und verschließt ganz fest die Augen.

"Er war alt, weißt du?", sagt Oma. "Er ist eingeschlafen und muss jetzt nicht mehr leiden."

"Die Fettpölsterchen im Gesicht, die unsere Knochen verstecken, haben sich bei ihm schon zurückgebildet", sagt Papa.

"Jetzt mach ihm doch keine Angst", sagt Mama und sieht meinen kleinen Bruder fürsorglich an.

"Du musst nicht mit", sagt Papa zu meinem kleinen Bruder, als dieser auf der Treppe sitzt, mit ausdruckslosen Gesichtzügen, und mit unserem Hund schmust. "Vielleicht bist du noch zu jung", sagt Papa und mein kleiner Bruder klammert sich fester an unseren Hund.

"Können wir einen Moment Ruhe haben, bitte", sagt Mama und mein Opa und seine Schwester verstummen. Immer wieder mustere ich meinen Uropa kurz.

Zu sagen, ich hätte eine feste Bindung zu ihm gehabt, wäre gelogen. Wenn ich ihm vor fünf Jahren, als er noch stehen und mit dem Gehstock laufen konnte, begegnete, bin ich ihm aus dem Weg gegangen wo ich nur konnte, um mir nicht seine alten Geschichten anhören zu müssen, die er langatmig mit seiner kratzigen Rentnerstimme erzählte.

"Warum musste er leiden?", fragt mein kleiner Bruder Oma.

"Er war alt, 97 Jahre auf der Erde sind eine lange Zeit. Und in den letzten Tagen ging es ihm nicht so gut", sagt Oma. "Da darf er auch mal gehen."

Er war dement, konnte sich nicht mehr um sich selbst kümmern, er ist bettlägerig geworden.

"Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn nochmal wiedersehe. Und das war vor zwölf Jahren. Es ist Zeit, dass er Platz macht für neue Generationen", sagt Mama.

Ein Krankenwagen steht im Hof. "Sie brauchen die Erlaubnis, dass seine Lungenentzündung nicht behandelt wird", sagt Mama. Ich denke über aktive Sterbehilfe nach, die man in Deutschland nicht leisten darf. Es hätte ihm Schmerzen erspart.

Der Hof ist kalt und ich bin froh, als ich im warmen Flur stehe und meine Jacke ausziehen kann.

"Willst du darüber reden? War es zu viel für dich?", fragt Papa meinen kleinen Bruder.

Der schüttelt nur den Kopf.

"Soll ich dir den Fernseher anmachen?"

Er nickt.

Ich hatte keine enge Bindung zu meinem Urgroßvater. Trotzdem schaue ich ihn nicht zu genau an. Stattdessen denke ich an den alten Mann, der Weinreben in Milchkartons auf seiner Fensterbank zog und der überall Zettel in seiner krakeligen, alten Handschrift hinterließ und der mir Bücher zum Geburtstag schenkte, die ich nicht wollte, oder fünf Euro oder eine Tafel Vollmilch Schokolade und der, mit zwei Gehstöcken bewaffnet, Tag für Tag an unserem Haus vorbei lief. Der Mann, den ich nicht kannte, weil wir wohl außer unserem Geburtstag und unserer Familie nicht allzu viel teilten.

Und ich bin nicht zu traurig, dass er gegangen ist. Irgendwann ist er wie seine Frau nur noch eine Urne voll Asche in der Friedhofsmauer. Und vielleicht ist er dann glücklicher als die letzten 25 Jahre seines Lebens.

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