Kurzgeschichte: Ariana und die Strolche
Mein Beitrag zum FederAward @-Schreibfeder, Mai 2019
Ariana saß versteckt hinter einer grünen Topfpflanze mit großen Blättern in einer Ecke des Wohnzimmers ihrer Großeltern und wartete. Im großen Landhaus ganz am Ende der Dorfstraße war kein Mensch außer ihr. Ihre Großeltern waren in der Kirche und würden für die nächste halbe Stunde auch nicht wieder zurückkommen. Trotzdem war Ariana nicht allein.
Alles hatte vor ihrer Geburt vor zwölf Jahren angefangen, vielleicht sogar schon vor der Geburt ihrer Mutter Tanja. Also quasi vor Ewigkeiten. Denn seitdem war das alte Fachwerkhaus, in dem Oma Lisbeth und Opa Werner wohnten, nicht nur die Heimat von Menschen sondern auch von anderen Wesen. Und damit waren nicht nur die Spinnen gemeint, die am liebsten in den vielen ungenutzten Ecken ihre Netze spannen oder die Kellerasseln, die sich im Winter im Keller versteckten. In diesem Haus lebte noch etwas anderes, etwas unnormales.
Ariana war schon seit sie klein war, fasziniert von den seltsamen Ereignissen im Hause ihrer Großeltern. Beispielsweise waren innerhalb weniger Tage die frisch gekauften Vorräte an Nutella und Honig immer leer, ausnahmslos, egal wie viele Gläser Ariana in den Einkaufswagen gelegt hatte. Dann standen einfach nur Unmengen leerer Gläser in der Speisekammer zwischen selbstgemachter Pfirsichmarmelade und eingemachtem Pflaumenkompott, die abgeschraubten Deckel auf dem Boden davor liegend. Oder es waren über Nacht Löcher in Arianas Latzhosen aufgetaucht, auf die Oma Lisbeth bunte Flicken aufnähte, immer eine andere Farbe und ein anderes Muster. Oder die Ordnung in Opa Werners Werkstatt, in Arianas eigenem Kleiderschrank oder in Oma Lisbeths Nähkästchen wechselte ständig, manchmal mehrmals am Tag. Oder vielen Kratzer an der Flurwand, die Opa Werner bereits seit drei Jahren zu streichen versprach. Manchmal waren auch die Uhren zurückgedreht und nur anhand der lautschlagenden Kirchturmuhr kamen Oma Lisbeth und Opa Werner noch rechtzeitig zum Sonntagsgottesdienst. Und wenn Ariana mal wieder in den unordentlichen Keller ging, dann hing über dem alten Weinregal mal eine Happy Birthday Girlande, mal standen zwischen den Weinflaschen hübsch bemalte Nussknacker herum oder auf einem der unzähligen Kartons davor saß ein süßes Porzellanhäschen. Manchmal auch alles auf einmal und gerne mal mit vertauschten Plätzen.
Seit sie schreiben konnte, führte Ariana Tagebuch darüber, was sie seltsames an diesem Tag entdeckt hatte. Oft lag es am Nachmittag woanders als noch am Morgen und manchmal fand sie den Stift erst nach einem Rundgang durch das Haus wieder, ganz oben auf auf einem der Geschirrschränke im Esszimmer. Mit Onkel Werner zusammen hatte Ariana eine kleine, hölzerne Trittleiter geschreinert, damit sie überall dran kam und alles aufschreiben konnte. Mit der wanderte sie dann den ganzen Tag durchs Haus, die Uhrzeiten notierend, die sie von ihrer Armbanduhr ablas, welche sie morgens immer nach der Kirchturmuhr stellte, weil sie schon wieder die Zeit nicht richtig anzeigte. Früher, als sie noch nicht die Uhr lesen konnte, hatte sie das Ziffernblatt und die Stellung der Zeiger einfach abgemalt.
Nach sechs Jahren Tagebuch, das nur die Ereignisse dokumentierte, wollte sie jetzt endlich der Ursache auf den Grund gehen. Also hatte sie die alten Hefte gesucht - sie waren im Aktenschrank ihres Opas gewesen, in vier nebeneinander stehenden, großen blauen Ordnern, natürlich nicht da, wo Ariana sie hingestellt hatte - und ihre Aufzeichnungen durchgesehen. Sie konnte sich an so vieles nicht mehr erinnern, aber da stand es, grün-blau-rot-gelb auf weiß, und ihre krakelige Schreibanfängerhandschrift log nicht. Sie hatte eine ganze Woche gebraucht, um neben ihren täglichen Rundgängen alle wiederkehrenden Muster der Ereignisse durchzugehen und einige definitive Fakten aufzuschreiben. Dann hatte sie weitere zwei Tage damit verbracht, ihre Vermutungen zu überprüfen und hatte sich sehr erwachsen gefühlt, wie sie so gut durchgeplant einem Geheimnis auf die Spur ging.
Nur ihren Großeltern hatte sie nichts erzählt, auch wenn sie jedes Mal beim Essen gerne damit hervorgeplatzt wäre. Sie wollte Oma Lisbeth mit dem Mund voller Kartoffelbrei davon berichten, dass immer zuerst die Gläser voller süßen Sachen leer waren, bevor die Essiggurken geplündert wurden. Opa Werner hätte sie gerne erklärt, dass er nicht vergesslich wurde, sondern die Werkzeuge in seiner Werkbank wirklich über den Verlauf des Tages ihre Position änderten. Aber sie sagte kein Wort. Nicht weil ihre Großeltern ihr nicht glauben würden. Vor allem die beiden älteren Herrschaften wussten, dass es in ihrem Haus noch einen recht ungewöhnlichen Untermieter gab, der von der Katze Rita getötete Tiere im Haus versteckte oder die Zahnpastatube ins Klo ausdrückte. Und sie lauschten ihrer Enkelin auch immer gerne, wenn diese von ihren Funden des Tages berichtete. Doch als Ariana ihnen von ihrer Idee, den Verursacher von all diesen Vorkommnissen zu finden und zu fangen, erzählt hatte, da hatten sie strikt 'Nein' gesagt. Sie hatten nichts gegen ihren manchmal etwas rabiaten Untermieter. Er brachte Leben ins Haus, wenn Ariana nicht da war, sagten sie.
»Manchen Dingen muss man einfach seinen Lauf lassen, Spatz«, hatte Opa Werner gesagt und Ariana dabei gewichtig angeschaut. Oma Lisbeth hatte beipflichtend genickt.
Aber Ariana wollte den Dingen nicht ihren Lauf lassen! Sie wollte dieses Wesen fangen! Sie wollte es sehen! Also hatte sie geschwiegen, geplant und gewartet. Alles Dinge, die ihr unglaublich schwer gefallen waren. Sie hatte dem Moment am Sonntag, an dem Oma Lisbeth und Opa Werner zur Kirche gegangen waren, entgegengefiebert als wäre es der erste Tag der Sommerferien und sie auf ihrem Weg zu ihren Großeltern, um die Sommerferien dort zu verbringen. Gleichzeitig hatte etwas an ihr genagt, etwas ganz Kleines, ganz Stilles und ganz Unauffälliges, das ein bisschen so klang wie Opa Werner.
Aus ihren Notizen über die Vorfälle hatte Ariana fünf wichtige Fakten herausgelesen:
Die Kratzer an der Flurwand waren nur in den unteren 20 cm.
Nutella und Honig waren immer am schnellsten leer.
Nie wurde etwas verändert, in dessen Nähe sich ein Mensch befand.
In kleinen, geschlossenen Räumen wurde am liebsten Schabernack getrieben.
Man sah nie die Tat, immer nur das Ergebnis, egal wie schnell man war.
Daraus zog sie die folgenden Schlüsse:
Ihre Falle musste ein bisschen größer als 20 cm sein.
Nutella und Honig waren die Leibspeise und daher gute Köder.
Sie musste sich gut verstecken oder schnell sein. Am besten beides.
Die Falle sollte weitgehend geschlossen sein.
Sie musste den Täter in einem Behältnis fangen, aus dem er nicht entkommen konnte.
Dass 5. auch bedeuten konnte, dass der Täter unsichtbar war, strich Ariana schnell wieder.
Zumindest der zweite Fakt bewahrheitete sich. Am Abend zuvor hatte Ariana nämlich das letzte halbvolle Honigglas mit ins Bett genommen, um es für ihren Plan am nächsten Morgen zu beschützen. Anders als sonst hatte sie außerdem mit ihrer Armbanduhr am Arm geschlafen, und genau wie sie es geplant hatte, war beides noch unberührt. Ihre Armbanduhr zeigte 9:45 Uhr, als ihre Großeltern nach dem Frühstück das Haus für die Kirche verließen.
Schnell machte Ariana sich an das Aufstellen der Falle. In einer Umhängetasche trug sie dabei das Honigglas mit sich herum, damit der Inhalt auf keinen Fall abhanden kam, sobald sie es aus den Augen ließ. Das von ihr und Opa Werner gezimmerte Holztreppchen stellte sie vor eines der Regale in der Speisekammer und ging dann in die Werkstatt, wo sie eine kleine Holzkiste aus Brettern hervorkramte. Sie sah aus wie ein gezimmerter Umzugskarton, ebenfalls mit Löchern an den kurzen Seiten, die man als Griffe benutzen konnte. Ariana hatte bereits eines der Löcher zugenagelt und das andere mit einem Stück Draht versehen, der, sobald er berührt wurde, ein kleines Brett dazu brachte, das Loch zu versperren. Sie hatte nicht lange gebraucht, um das hintere Loch zu schließen, aber vier Tage waren nötig gewesen, damit ihre Apparatur funktionierte. Sie hatte Opa Werner dazu gekriegt, ihr dabei zu helfen den Mechanismus auszutüfteln, aber das ganze Zusammenbasteln hatte sie alleine machen müssen. Genau diese Kiste holte sie.
In der Speisekammer stellte sie zuerst das Honigglas ins Regal unter den Essiggurken und stülpte danach die Kiste drüber. Dann musste sie den Mechanismus wieder richtig aufstellen, weil das Brett durch die Erschütterungen beim Gehen und beim Abstellen bereits vor das Loch gefallen war.
Vorsichtig stieg sie von ihrer Trittleiter hinunter und lief ins Wohnzimmer, um sich hinter der grünen Topfpflanze mit den großen Blättern in der Ecke zu verstecken. Sie hoffte, dass sie so den Täter noch schneller erwischen konnte. Also wartete sie.
Immer wieder war sie versucht aufzustehen und nach der Falle schauen zu gehen, ob sie bereits etwas gefangen hatte. Es war eine endlos lange Zeit, die sie wartete. Nach etwa zehn Minuten hielt sie es nicht mehr aus und lief in die Speisekammer. Im Regalbrett unter den Essiggurken stand die Kiste und sie war noch nicht zu. Enttäuscht ging Ariana wieder auf ihren Warteposten.
Diesmal schaffte sie es, zwanzig Minuten dem Drang zu widerstehen, nachschauen zu gehen. Aber auch jetzt war die Falle noch nicht zu geschnappt! Wieso hatte sie nicht daran gedacht, einen Alarm zu installieren, sobald sie etwas gefangen hatte? Aber jetzt war es zu spät und sie musste ihrer Konstruktion vertrauen.
Kurz darauf kamen ihre Großeltern zurück. Es war inzwischen 11:15 Uhr, wie ihr ihre Armbanduhr verriet, doch sie konnte nicht nach der Falle sehen, solange ihre Großeltern etwas mitbekommen könnten. Und sie konnte ihre Großeltern auch nicht in die Speisekammer lassen, damit sie ihre Chancen etwas zu fangen nicht verringerten. So verbrachte sie also den Tag damit, Oma Lisbeth davon abzuhalten, die Speisekammer zu betreten. Es gelang ihr für das Mittagessen, aber beim Abendessen reichte es ihrer Großmutter.
»Ich will doch nur Essiggurken holen gehen, mein Schatz!«, sagte sie, und stand vom Esstisch auf.
Ariana rannte ihr hinterher, konnte sie aber nicht aufhalten.
Statt aber, wie erwartet, direkt auf die Kiste zu deuten und Ariana zu fragen, was das sollte, ging Oma Lisbeth wirklich nur an das Regal mit den Essiggurken, nahm ein Glas herunter und verließ die Speisekammer wieder.
Erleichtert atmete Ariana auf - und bemerkte, dass die Kiste zu war! Das Brett war unten! Der Täter war ihr in die Falle gegangen!
»Kommst du?«, fragte Oma Lisbeth. »Ich will die Tür zumachen.«
Aber sie musste noch warten, bis sie schauen konnte, was genau ihr da in die Falle gegangen war. Hoffentlich war es keine Maus. Ariana riss sich los und ging wieder zu Opa Werner an den Esstisch. Bei der ersten Gelegenheit würde sie nachsehen gehen!
Die erste Gelegenheit kam, als ihre Großeltern zwei Stunden später Nachrichten guckten. Zwei Stunden lang hatte Ariana mit ihnen Carcassonne spielen müssen. Natürlich hatte sie sich nicht konzentrieren können, schließlich waren ihre Gedanken die ganze Zeit bei der Kiste und ihrem Inhalt gewesen. Und sie hatte über einen Namen für den kleinen Rabauken nachdenken müssen. Denn was war, wenn sie die Erste war, die das Wesen je gesehen hatte? Der lateinische Name sollte auf jeden Fall Ariana Zeidlerus sein, nach ihr benannt, der Entdeckerin! Aber das war ein langer Name und alle anderen Tierarten hatten auch einen deutschen Namen.
»Wie würdet ihr das Wesen nennen, das hier wohnt?«, fragte Ariana also mitten in der Runde, und schaute nachdenklich ihre Großeltern an. »Wie findet ihr Riebrekell?«
»Riebekel?«, fragte Opa Werner nach und legte ein Kloster an.
»Nein!«, stöhnte Ariana und verdrehte die Augen.
»Wie findest du Lausbub?«, schlug Oma Lisbeth vor.
Ariana verzog überlegend den Mund und schüttelte dann den Kopf. »Das ist so langweilig. Und so kann man ja nur Jungen nennen! Vielleicht ist es ja ein Mädchen!«
»Mmmh«, machte Oma Lisbeth. »Vielleicht Lümmel?«
»Neeeeiin!«, lehnte Ariana sofort. »So nennst du Opa manchmal! So will es bestimmt nicht genannt werden!«
»Dann...«, sagte Oma Lisbeth und lächelte zufrieden, »Strolch!«
Das gefiel Ariana. »Das ist gut! Strolch!«
»Wer ist denn Strolch?«, fragte Opa Werner und sah fragend seine Mädchen an. Oma Lisbeth und Ariana kicherten.
Als ihre Großeltern sich also vor den Fernseher gesetzt hatten und sie sich eigentlich die Zähne putzen sollte, schlich Ariana in die Speisekammer, stieg die Trittleiter hoch und nahm die Kiste vom Regal. Darin bewegte sich etwas! Sie hatte es ganz deutlich gespürt! Vorsichtshalber hielt sie das Brett zu als sie aufgeregt mit der Kiste auf dem Arm ins Bad huschte. Sanft stellte sie die Falle auf dem Klodeckel ab. Dann ging sie davor in die Hocke und hob das Brett an - aber sie sah nichts! Sie brauchte eine Taschenlampe! Aber wo waren die denn diesmal?
In hektische Gedanken versunken, die von einem möglichen Versteck zum nächsten sprangen, drehte Ariana sich um - und sah sie: An der Tür standen ungefähr ein halbes Dutzend Wesen. Sie waren klein, vielleicht 20 cm groß mit auffälligen Stacheln auf dem Kopf und auf dem Rücken. Außer im Gesicht sowie an Händen und Füßen waren sie mit weißem Flaum bedeckt, der weich wie Federn aussah. Einige standen wie Menschen aufrecht, ihre langen Arme baumelten ihnen fast bis zu den Knien, andere waren auf allen vieren, ihre kleinen Händchen zu Fäusten geballt, und starrten zu Ariana hinauf. In ihren braunen Gesichtern war eine spitze Schnauze, ähnlich der eines Igels und sie hatten kleine, schwarze Knopfaugen, die im Licht der Badezimmerlampe schelmisch blitzten. Wie auf eine geheimes Zeichen hin, streckten sie Ariana alle die Zunge raus - sie war rosa und lang -, um sich dann umzudrehen und wegzulaufen.
Innerhalb einer Sekunde waren sie verschwunden und Ariana stand einfach nur verdutzt im Badezimmer. So also zerkratzen sie die Flurwand! Sie haben Stacheln!, war das Erste, was Ariana durch den Kopf schoss.
Diese kurze Begegnung mit den Strolchen blieb die einzige, egal wie sehr Ariana auch versuchte, die kleinen Gestalten erneut zu Gesicht zu bekommen. Natürlich hatte sie ihren Großeltern davon erzählt. Beide schienen nicht überrascht und Lisbeth berichtete sogar, dass sie selbst einmal die Strolche gesehen habe, damals, als junges Mädchen, selbst mit einer Falle bewaffnet, der die klugen kleinen Wesen umgehend aus dem Weg gegangen waren. Scheinbar mochten die Strolche alles Altbekannte, weshalb Arianas Großeltern alles behielten, egal ob es kaputt war oder noch funktionierte und einfach durch etwas Neues ersetzt worden war. Und manchmal fanden sie dann alte Erinnerungsstücke unverhofft wieder und schwelgten in den alten Zeiten, die ihnen die Strolche gebracht hatten.
»Sie bringen uns einfach Freude, weißt du, mein Schatz.«
Ariana wusste, denn auch sie konnte die Strolche nicht vergessen. Das Fallenstellen gab sie auch nicht auf, als sie bereits seit vielen Jahren aus dem Haus ihrer Eltern ausgezogen war. Fangen tat sie nie etwas anderes als Essiggurken und Mandarinenschalen. Nur in ihren Erinnerungen sah sie die Stacheln, die Schnauze und die Knopfaugen noch immer klar vor sich. Und genau wie ihr diese Erinnerungen noch bis ins hohe Alter erhalten blieben, behielt sie auch bis an ihr Lebensende die Tagebücher, das Haus und diesen kleinen Funken Magie bei sich.
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