Anderes: Wie die "wahre Welt" zur Fabel wurde

1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, - er lebt in ihr, er ist sie.
(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend; Umschreibung des Satzes "ich, Plato bin die Wahrheit.")

Ich, der ich weise bin, bin die wahre Welt, nehme sie wahr - denn es heißt wahrnehmen und nicht falschnehmen -, ich laufe und esse und trinke in ihr; ich laufe und esse und trinke in mir. Ich bin wahr, also ist dies die wahre Welt, denn kein Zweifel kommt auf, und keine Skepsis untergräbt meinen Glauben an mein Wissen.

2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften ("für den Sünder, der Buße tut").
(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfaßlicher - sie wird Weib, sie wird christlich...)

Ich, der ich weise bin, glaube an die wahre Welt - sauge das Jetzt auf -, ich laufe und esse und trinke im Jetzt und ich werde laufen und essen und trinken können in der wahren Welt. Ich werde nicht nur Mensch sondern wahr sein, in der wahren Welt, aber kein Zweifel kommt auf, und keine Skepsis untergräbt mein Wissen in meinen Glauben.

3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon gedacht als ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.)

Ich, der ich bin, weiß um den Glauben an die wahre Welt - sauge das Jetzt auf -, ich laufe und esse und trinke im Jetzt und vielleicht werde ich laufen und essen und trinken können in der wahren Welt. Ich werde vielleicht nicht nur Mensch sondern wahr sein, in der vielleicht vorhandenen wahren Welt, aber der Zweifel kommt auf, und die Skepsis untergräbt mein Wissen in diesen Glauben.

4. Die wahre Welt - unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?
(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)

Ich, der ich bin, weiß um den unbegründeten Glauben an die wahre Welt - lebe im Jetzt -, ich laufe und esse und trinke im Jetzt und höchstwahrscheinlich werde ich nicht laufen und essen und trinken in der wahrscheinlich non-existenten wahren Welt. Ich werde höchstwahrscheinlich nie wahr werden, sondern nur Mensch bleiben, denn der Zweifel ist da und die Skepsis ebenfalls, sodass mein Wissen in den Glauben verblasst.

5. Die "wahre Welt" - eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, - eine unnütze, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!
(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platons; Teufelslärm aller freien Geister.)

Ich, der ich scheinbar bin, weiß um den lachhaften Glauben an eine sogenannte "wahre Welt" - lebe im Jetzt, denn ich laufe und esse und trinke scheinbar im Jetzt und zu keinem anderen Zeitpunkt. Ich werde nie "wahr" werden, sondern bis zum Tod Mensch bleiben, denn der Zweifel und die Skepsis an einer sogenannten "wahren Welt" sind begründet und frei.

6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!
(Mittag: Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)

Ich...? Haha! Ich? Wer soll das denn sein?

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Zitate aus Friedrich Nietzsches "Götzendämmerung"

Das war eine Aufgabe aus dem Philosophie Unterricht. Wir fangen gerade mit Nietzsche an und da er der Philosoph mit dem Hammer war, benutzen wir unkonventionelle Methoden, um an seine Werke heranzugehen. Zumindest begründet unsere Philosophie Lehrerin ihr Vorgehen damit.


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