⬩Mahlzeit⬩
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Jeder behauptet gerne, er lebe unter einem Dach mit Verrückten und sei dort der einzige Normale.
Ich will nicht sagen, ihr hättet unrecht, aber ich kann eure Geschichten bestimmt übertrumpfen. Aber ich würde alles geben, um mein Leben mit einem von euch zu tauschen.
In meiner Familie bin ich das einzige Lebewesen auf zwei Beinen, dass das - nach dem Glauben meiner Familie - lästige Merkmal Empathie besitzt. Wir sind auch Diener zweier Katzen und selbst bei den zwei schwarzen Fellknäuel bin ich mir absolut sicher, dass sie dem Teufel Konkurrenz machen könnten.
Meine gesamte Familie besteht nur aus Monstern. Und da spricht nicht die pubertierende 17-Jährige aus mir heraus, die nicht feiern gehen darf, wann sie will, sondern das angewiderte Mädchen, das auf den Teller vor sich starrt.
Blutiges Steak.
Für alle Nicht-Vegetarier oder -Veganer ein absolut akzeptables Sonntagsessen, wäre es denn aus Rinderfleisch.
Nein. Wenn ich mich nicht täusche, hat das tote Lebewesen vor mir einmal Marco geheißen, in einer Schule als Mathematiklehrer gearbeitet, zwei Kinder gezeugt (auch wenn er sich nicht zur Vaterschaft bekannt hat) und ist im Alter von 44 Jahren meinen Eltern in die Fänge geraten.
Wie ein Schwein ist dieser Marco in die Fleischerei unseres Familienunternehmens geschleppt, aufgehängt und geschlachtet worden. Ich will mir gar nicht die Schreie des nicht betäubten Mannes vorstellen, genauso wenig das warme Blut, das auf den weißen Fleischerkittel meines Vaters Ted gespritzt haben muss.
Rosemary, meine Mutter, doch diese Bezeichnung verdient sie nicht, hat daraus ein saftiges Steak gezaubert. Brokkoli mit Sesam garniert als Beilage.
Ich könnte kotzen.
Aber die erwartungsvollen Blicke meiner Eltern und meiner kleinen Schwester lasten schwer auf mir.
„Deine Mutter hat sich so große Mühe gegeben. Iss doch wenigstens die Hälfte", versucht Ted mich zu überzeugen. Mein Blick wandert zu meiner Schwester Penny. Sie kaut genüsslich auf ihrem Stück Fleisch herum. Blut tropft von ihrem rechten Mundwinkel auf den Teller hinab.
Ich kenne den weiteren Ablauf, sollte ich mich weigern, zumindest vier Bissen zu essen. Ted würde wütend werden. Kopf-läuft-rot-an-und-er-schlägt-mit-der-Faust-auf-den-Tisch-wütend. Er würde dann herum schreien, dass ich gar nicht zu schätzen wüsste, was sie in Kauf nähmen, damit wir gutes und gesundes Essen auf den Tisch bekommen. Rosemary würde währenddessen enttäuscht den Kopf schütteln, sodass ihre schwarzen glatten Haare in ihrer Bewegung mitschwingen, und mich dann mit ruhigen Worten noch mal zu überzeugen probieren.
Letztendlich habe ich immer nachgeben. Ihr wisst nicht, wie es ist, als einzige „Normale" unter Psychopathen, Mördern und Kannibalen zu leben. Ich fürchte, die nächste Hauptspeise zu sein, wenn ich nicht das mache, was sie mir sagen.
Mein Opa - der einzige Mensch in der Familie, mit dem ich mich verstanden habe - ist tot.
Warum?
Weil meine Großmutter sauer auf ihn gewesen ist. Ihr Hausarzt hat ihr verboten, weiterhin Kaffee zu trinken, weil sich das Koffein mit einem der zahlreichen Medikamente nicht verträgt, die sie nehmen muss. Ihr ist das egal gewesen, meinem Opa nicht. Er hat sich geweigert, ihr weiterhin den Muntermacher zuzubereiten. Zwei Tage später ist er an einer Vergiftung gestorben.
Strychnin im Kaffee.
Gekocht hat ihn Rosemary zum Glück nicht. Ich hätte mir die Kugel gegeben, bevor ich auch nur einen Bissen runter bekommen hätte. Aber vielleicht versteht ihr nun, warum jedes Mal Ted gewinnt und nicht meine Abscheu. Nicht mein Hass, nicht meine Wut, die ich jede Sekunde in ihrer Gegenwart empfinde. Die Angst, das nächste Opfer zu werden, lähmt mich. Lässt mich wie eine Marionette handeln. Verhindert, dass ich mich wehre.
Übrigens hat meine Großmutter nicht mehr lange nach dem Vorfall gelebt. Vielleicht hätte sie doch auf den Kaffee verzichten sollen.
Ich schneide mir ein kleines Stück von Marco runter. Mit langsamen Bewegungen verfrachte ich das tropfende Stück Fleisch in meinen Mund. Würde ich nicht wissen, woraus das Steak gemacht worden ist, könnte es sogar gut schmecken. Vom Geschmack her ist es dem Lamm- und Schweinefleisch sehr ähnlich.
Aber ich weiß, was vor mir liegt, und sowohl mein Magen als auch mein Gehirn haben etwas dagegen. Trotzdem zwinge ich mich dazu. Ted lächelt. Zufrieden, dass er seinen Willen bekommen hat. Wie immer. Und erneut landet ein weiter Ziegelstein auf meine mühsam erbaute Mauer, die mich die Abscheulichkeiten meiner Familie ertragen lässt.
„Kommen morgen wieder Wednesday und Jason?", fragt meine kleine Schwester freudig. Sie ist dreizehn und kann noch immer nicht still am Tisch sitzen. Sie wippt mit ihren Beinen, springt beinahe auf, nur weil sie an das morgige Fest denkt. Halloween. Mein absoluter Hass-Feiertag.
„Natürlich." Rosemary schenkt Penny ihr liebstes Lächeln, ehe sie sich Marco und ein Stück Brokkoli aufgabelt.
„Darf ich mit zur Auslese?", erkundigt sie sich bei Ted.
„Tut mir leid, Zuckerstück. Aber wir haben schon einen geeigneten Kandidaten gefunden." Mit einem kleinen Seitenblick zu mir fügt er hinzu: „Sofern uns Annabella nicht wieder den Spaß verdirbt."
Ihr wisst ja noch gar nicht das Beste.
Jedes Jahr zu Halloween kommen all unsere psychopathischen Verwandten und wir feiern den heiligsten der heiligsten Feiertage der Familie Jones.
Und wie, fragt ihr euch?
Mit einer Jagd. Einer Treibjagd.
Ein weiteres Opfer wird einen Platz auf der Liste der vermissten Menschen im Polizeiregister bekommen. Und meine Familie hat Spaß daran, dieses arme Schwein im Wald zu jagen, zu töten und dann als Mitternachtsessen zu servieren.
Die letzten drei Jahre ist es mir allerdings gelungen, die Opfer vor der Jagd freizulassen. Kein Festessen für die Familie Jones. Dafür eine große Tracht Prügel, zwei Monate Medienverbot und drei Tage kein Essen. Wobei der letzte Punkt sogar eine Wohltat gewesen ist.
„Och, menno!", jammert Penny und schlägt mit dem Besteck auf den Tisch. Blutiger Steaksaft rinnt am Silber herunter, benetzt ihre dünnen Finger.
„Was haben wir zu Manieren am Tisch gesagt?", ermahnt Rosemary meine Schwester. Manieren, dass ich nicht lache. Es ist absolut nichts Manierliches daran, einen Menschen zu essen. Ich schiebe das Stück Fleisch vor mir auf dem Teller herum. Roter Saft tritt hervor und tränkt die guten Brokkoli. Ich esse ihn trotzdem, ich bin am Verhungern.
„Wer ist es?", fragt sie Ted und ignoriert Rosemary vollkommen, während sie sich genüsslich das Blut von den Fingern schleckt.
„Oh, ein ganz besonderer Gast." Ted lächelt in die Runde. „Annabellas Freund."
Ich verschlucke mich am Brokkoli, huste den essbaren Baum wieder aus und starre Ted entgeistert an. Woher wissen sie davon? Woher wissen sie von Jack?
„Ach Schatz, das sollte doch eine Überraschung werden", beklagt sich Rosemary und nippt an ihrem Rotwein. Natürlich ist er mit Blut gespritzt, weswegen ihre Lippen ein saftiges Dunkelrot annehmen.
„Wie bitte, was?!", entfährt es mir schließlich geschockt, nachdem ich meinen Hustenanfall überlebt habe. Ich wünschte, ich wäre daran gestorben. Obwohl ich mir eine bessere Henkersmahlzeit als Marco erhofft hätte.
„Dieses Fest ist dieses Mal nur für dich. Eine letzte Chance, bei uns aufgenommen zu werden. Du wirst bald 18 und hast noch immer niemanden getötet." Ted erhebt sich, um sich mit seiner Gabel ein zweites Stück Steak von der Tischmitte zu ergattern. „Deine Mutter glaubt an dich, deswegen will ich auch an dich glauben. Wenn du es morgen schaffst, deinen Freund zu töten, zu kochen und zu essen, dann bist du in unserem Familienbetrieb willkommen. Ansonsten ..." Teds Blick landet auf das Steak auf seinem Teller. Er muss nicht weiterreden, damit ich verstehe.
Ansonsten bin ich die nächste Mahlzeit und meine Schwester kann gierig mein Blut von ihren Fingern schlecken.
Will jemand mit mir tauschen?
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