⬩Die Jagd ist eröffnet⬩

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Ich hasse mein Leben. Ich hasse mein Leben. Ich. Hasse. Mein. Leben.

Diese Worte sage ich mir immer und immer wieder auf, während ich die Stimmen meiner Verwandten vernehme, die eben eingetroffen sind. Ich muss natürlich in meinem Zimmer verharren, weil Freilassungsgefahr besteht. Türen und Fenster verriegelt. Doch die schrille Stimme meiner Tante Carrie lässt sich auch bis nach oben nicht überhören. Worte wie „oh die Glückliche" oder „das wird ein Spaß heute" dringen an meine Ohren. Dem kann ich absolut nicht zustimmen.

Frustriert, wütend und nutzlos sitze ich in meinem kleinen dunklen Zimmer und weiß nichts mit mir anzufangen. Mein Handy haben sie mir gestern nach dem Abendessen weggenommen, damit ich meinen Freund nicht warnen kann. Was vermutlich sowieso schon zu spät gewesen wäre. Wahrscheinlich ist er gerade im Stall nebenan an Ketten gefesselt und betäubt. Mein Herz zieht sich zusammen, wenn ich daran denke. Wie können mir meine Eltern nur so etwas antun? Es ist ein Fehler gewesen, überhaupt eine Beziehung anzufangen. Ich hätte mich nie in den großen Jungen mit dem engelsblonden Haar und den strahlend blauen Augen verlieben dürfen. Hätte nie über seine Witze lachen, nie sehnsüchtig nach seinen Berührungen gieren und nie unersättlich auf den nächsten Kuss und den nächsten und den nächsten warten sollen. Wütend schlage ich mit der Faust gegen die Wand der Holzhütte.

„Scheiße", zische ich, meine verletzte Hand betrachtend. Ich spüre Tränen meine Wangen runtergleiten, sie kommen nicht von der Verletzung. Warum bin ich nur so eine Idiotin gewesen und habe mit Jack eine heimliche Beziehung begonnen? Ich hätte wissen müssen, dass früher oder später jemand aus meiner Familie Wind davon bekommt. Eineinhalb Jahre ist alles gut gegangen. Eineinhalb Jahre hat er es geschafft, dass ich mich geliebt und gewollt gefühlt habe. Nicht verstoßen, nicht anders, nicht verrückt. In zwei Monaten werde ich 18. In zwei Monaten wäre ich mit ihm abgehauen, aber jetzt?

Jetzt soll ich ihn töten. Ich kann das nicht! Verdammt noch mal, wie kann man das von mir verlangen? Wenn ich mitspiele, stirbt er und ich lebe mit dem Gewissen, schuldig zu sein. Einen Menschen umgebracht zu haben. Weigere ich mich, sterben wir beide. Es muss doch eine andere Lösung geben!

Purrgatory starrt mich durch das Fenster mit ihren biestigen gelben Augen an. Sie verhöhnt mich. Die schwarze Katze ist draußen frei, während ich hier gefangen in meinem Zimmer hocke und nach einem Weg suche, meinen Freund zu retten. Ich müsste nur irgendwie zu ihm kommen, ihm eine unserer Spritzen injizieren, damit er alles wieder vergisst, und er kann ein glückliches Leben führen, ohne mich je gekannt zu haben.

In unserem Familienbetrieb WeLoveMeat hat meine Großmutter Hildegard vor Jahren im Lebensmitteltechnologielabor ein Serum entwickelt, das das Gedächtnis beeinflusst. Nun ist unsere Familie im Besitz zweier Substrate. Eine Spritze vermag das Kurzzeitgedächtnis zu löschen, eine andere vernichtet das gesamte Gedächtnis. Zurück bleiben nur grundlegende Fertigkeiten, wie sprechen und gehen. Hergestellt hat sie meine Großmutter für den Fall der Fälle. Sollte uns jemand auf die Schliche kommen, sollte jemand Verdacht schöpfen. Doch Großmutter hat ein Imperium mit der Firma aufgebaut. Nun unter Teds Leitung, liefert der Betrieb Fertigprodukte an fast alle Staaten in den USA. Wir haben Geld, wir haben Macht und deswegen fühlt sich meine Familie unantastbar. Vielleicht sind sie das auch.

Als ich den Blick von Purrgatory abwende, erspähe ich draußen eine Bewegung. Ich muss genauer hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um meine Cousine Wednesday handelt. Mit ihrer neuen Frisur - einem schwarzen Pixie Cut - hätte ich sie fast nicht erkannt. Sie geht Richtung Stall. In mir zieht sich alles zusammen, Wut dringt in jede Faser meines Körpers, presst sich gegen die Mauer in meinem Inneren. Bestimmt will sie sich das nächste Opfer ansehen. Sich an den Leiden meines Freundes ergötzen. Ihm vielleicht noch vor der Jagd ein paar Qualen hinzufügen? Ich würde am liebsten durch das Fenster springen, auch wenn ich mir dabei Arme und Beine breche.

Doch ich könnte-

Purrgatory sitzt noch immer auf der Fensterbank. Sie muss über den Baum geklettert und dann hinübergesprungen sein. Wenn ich mich geschickt anstelle, schaffe ich das bestimmt auch. Ich muss es schaffen, wenn ich Jack retten will. Ohne länger darüber nachzudenken und am Ende noch Zweifel zu bekommen, schnappe ich mir eine Spritze aus meinem Vorrat unter der Bodendiele. Ein Glück, dass meine Schwester das Versteck noch nicht entdeckt hat. Penny findet alles. Dieses Monster hat Spaß daran, alle meine Geheimnisse aufzudecken und auch, wenn ich nirgends Beweise hinterlassen habe, dass Jack existiert, hat sicher sie herausgefunden, dass er mein Freund ist. Darauf würde ich meinen letzten Rest gesunden Menschenverstands verwetten.

Mit der Spritze in der Hosentasche bleibe ich vor dem Fenster stehen. Meine einzige Möglichkeit ist die Scheibe einzuschlagen. Sobald ich das tue, ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. Unmöglich, dass niemand aus meiner Familie das nicht mitbekommt. Sie haben Ohren wie Fledermäuse und einen Blutdurst nach Drama, der den Kardashians Konkurrenz machen könnte.

Aber es hilft alles nichts. Ich muss da runter. Warum habe ich dem Ganzen nicht schon viel früher ein Ende bereitet? Die Chance dazu hätte ich gehabt. Drei Mal, um genau zu sein. Die drei Personen, denen ich die tödliche Jagd erspart habe, wären zur Polizei gegangen, hätten Anzeige gegen uns erstattet, hätten vielleicht etwas ins Rollen gebracht, das nicht mehr hätte gestoppt werden können.

Hätte.

Aber ich habe ihnen das Serum gespritzt, das deren Kurzzeitgedächtnis auslöscht. Und schuld daran trägt meine Angst vor meiner psychopathischen Familie. Eine Anzeige hätte nichts gebracht, nicht mit dem Serum. Nicht mit all dem Geld. Doch meine Familie hätte gewusst, was ich getan habe und ihr wisst, was der nächste Schritt gewesen wäre.

Ich bin ein Feigling, ich gebe es zu. Und weil ich Schiss gehabt habe, mussten immer mehr Menschen sterben. Selbst heute bin ich keinen Deut besser geworden, nur eine Marionette meiner Angst. Mein Plan? Ich spritze meinem Freund das Serum, lasse ihn mich vergessen, befreie ihn somit aus dem Interesse meiner Familie und dann haue ich ab. Ich flüchte nach Costa Rica oder nach Grönland. Irgendwohin, wo mich niemand findet. Nicht gerade nobel, ich weiß.

Meinen Ellbogen mit dem Kissenbezug geschützt, schlage ich die Fensterscheibe ein. Das Klirren hallt in meinen Ohren nach, Purrgatory springt fauchend zurück auf den Baum. Vorsichtig entferne ich das ganze Glas vom Rahmen, damit ich mich nicht daran schneide. Als ich auf die Fensterbank trete, wird mir ganz schwindlig. Dass ich scheinbar Höhenangst habe, ist mir gar nicht bewusst gewesen. Ich zwinge mich, nicht nach unten zu gucken, doch meine Knie zittern trotzdem, als stünde ich dem Tod höchstpersönlich gegenüber. Die Stimme meiner kleinen Schwester gibt mir dann doch einen kleinen Schubs und ich wage den Sprung zum Baum. Er ist nur zwei Armeslängen entfernt, ich werde nicht nach unten stürzen. Zumindest rede ich mir das ein, als ich mich im freien Fall befinde und den Baum verfehle. Ein Schrei entfährt meiner Kehle, während meine Hände verzweifelt nach Halt suchen.

Du wirst sterben und wegen deines Versagens auch Jack, schreien mir meine Gedanken entgegen. Ich schenke den Worten Glauben, doch dann ergreifen meine Hände einen Ast. Reflexartig klammere ich mich fest und bete, dass der Ast mein Gewicht auch hält. Ich weiß nicht, wie lange ich daran baumle, mit schweißnassem Rücken, stoßartigem Atem und rasendem Herz.

„Scheiße", keuche ich. Meine Hände schmerzen und lange kann ich mich nicht mehr halten. Ich riskiere einen Blick nach unten. Der Fall wäre kurz und schmerzlos, hoffe ich. Erneut Stimmen. Dieses Mal ist es Ted. Sie ahnen, dass etwas nicht stimmt. Er muss nur aus dem Fenster sehen, dann wird er mich entdecken. Adrenalin rauscht durch meine Adern, ich schlucke die Angst hinunter und lasse mich fallen. Ich bin nicht mit den Gaben einer Katze ausgestattet und Fuß-Augenkoordination ist meinem Gehirn fremd, weswegen ich seitlich auf dem – zum Glück – weichem Waldboden lande. Ich habe nicht viel Zeit, deswegen rapple ich mich unter Stöhnen auf, taste nach der Spritze in meiner Hosentasche, die Gott sei Dank noch heil ist, und renne los.

„Jack", hauche ich in die Dunkelheit des Stalles hinein. Ist Wednesday noch hier? Ich taste mich voran, das Gebäude wird nur durch das schwache Mondlicht erhellt, das durch die Lücken im Dach dringt.

„Belle?" Beim Klang seiner Stimme atme ich erleichtert auf. Er ist da. Lebend. Natürlich. Wo läge der Spaß einer Jagd, wenn das Opfer schon vorher stirbt. Ist meine Cousine gar nicht in den Stall gegangen? Ich folge seinen Worten und schon bald stehe ich vor ihm. Tränen rinnen meine Wangen hinab, als ich ihn sehe. Angekettet wie ein Tier, Schrammen zieren sein Gesicht, seine Arme, seinen Körper. Selbst im schwachen Mondschein erkenne ich das dunkle Blut in seinem engelsblonden Haar.

„Scheiße, Jack. Es tut mir so leid!", schluchze ich, taste ihn auf weitere Verletzungen ab, halte seinen Kopf. „Es tut mir so verdammt leid." Jack sieht mich nur an. Geschockt. Verständnislos. Verwirrt. Verletzt. Es zerreißt mein Herz, ihn so zu sehen. Schmettert Löcher in meine so sorgsam aufgebaute Mauer. Ich bin ein absolut egoistisches Arschloch, dass ich ihn überhaupt in meine Welt gezogen habe, ihn der Kaltblütigkeit meiner Eltern ausgesetzt habe. Er hat das nicht verdient. Nichts davon. Nicht der netteste Kerl in der Schule. Nicht der Junge, der kleine Kinder vor den Mobbern beschützt. Nicht er, der sein Leben lang ums Überleben kämpfen musste, weil seine Mutter sich in den Rausch der Drogen gestürzt hat, nachdem sein Vater gestorben ist. Er hat doch endlich Glück in seinem Leben verdient und was habe ich ihm gebracht? Angst, Leid und Tod. Vielleicht passe ich doch in meine Familie. Denn im Augenblick fühle ich mich wie das größte Monster auf Erden.

„Belle? Was ist passiert? J-jemand hat mich bewusstlos geschlagen und ... und dann bin ich hier aufgewacht." Seine blauen Augen sind so voller Panik. „Der Mann ... e-er hat gesagt, er sei dein Vater und du ... du willst mich t-töten?"

Weitere Tränen machen Bekanntschaft mit dem staubigen Boden, lassen meine Sicht verschwimmen. Geknebelt von meinen Schuldgefühlen, bringe ich kein Wort hervor.

„Belle? Sag, dass das nicht wahr ist. Sag es!" Seine flehentliche Stimme dringt bis in mein Knochenmark. Meine Hände zittern, als ich ihm durch die blutbefleckten Haare fahre.

„Ich will das nicht, Jack. Ich könnte das niemals. Selbst dann nicht, wenn mein eigenes Leben davon abhängen würde." Dass es das wirklich tut, muss er nicht wissen.

„Ich verstehe nicht?"

„Es ist egal. Du musst es nicht verstehen. Ich will nur, dass du mich vergisst. Dass du all das vergisst", flüstere ich in sein Ohr, sein warmer Atem streicht meinen Hals und eine Gänsehaut breitet sich auf meinem ganzen Körper aus. Ich will ihn nicht verlieren. Kleine Brocken der Ziegelsteinmauer fallen, der Mörtel bekommt Risse. Warum habe ich so lange zugesehen? Warum habe ich nicht schön früher gehandelt? Dann wäre Jack nie in diese Situation geraten.

„Dich vergessen? B-Belle! W-was soll das?" Wird es das letzte Mal sein, dass ich meinen Namen aus seinem Mund höre? Seinem perfekten, himmlischen Mund. Ich streiche mit meinen Fingern über seine aufgerissenen Lippen.

„Du wirst dich an nichts davon erinnern können." Ich weiß, dass es falsch ist, ihm sein ganzes Gedächtnis zu nehmen. Sein Leben, egal wie beschissen es gewesen ist. Aber es ist die einzige Möglichkeit, die einzige Lösung. Ich werde ihn aus dem Wald lotsen, außer Gefahr bringen und dann ...

„Wen haben wir denn da?" Erschrocken fahre ich herum und blicke direkt in das Gesicht meiner großen Cousine Wednesday. Ihre hohe Stimme schneidet wie tausende Messer in meine Haut, ihr strahlendes Lächeln verwandelt mich zu Stein. „Willst du uns, mal wieder, den Spaß verderben?" Sie wippt mit ihren Füßen auf und ab, betrachtet abwechselnd mich und Jack. „Dabei ist doch Halloween, kleine missratene Cousine. Was hast du gegen Traditionen?"

„Ihr werdet ihm nicht weh tun", krächze ich und stelle mich schützend vor Jack. Mein Blick huscht zu dem Jagdgewehr, das sie sich umgebunden hat.

„Das, Annabella, entscheidest nicht du." Sie betont jede Silbe meines Namens, grinst mich hämisch an, entblößt dabei ihre Haifischzähne und fischt etwas aus ihrer Hosentasche. Der Schlüssel funkelt im Licht des Mondes.

„Die Jagd ist eröffnet."

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