Es war so kalt, dass ich in den ersten Sekunden das starke Verlangen hatte auf dem Absatz umzukehren, mich in sämtlichen Decken des Hauses einzuwickeln und für immer in den Tiefen des Bettes zu verschwinden. Nachdem der erste Luft Stoß an mir vorbeigezogen war, atmete ich jedoch einmal tief ein- was eigentlich ziemlich ironisch gewesen war, da die eisige Luft in der Nase ziemlich schmerzte - und machte mich auf. Die Sonne ließ den Schnee magisch erscheinen. Die Ruhe, die um das Haus herumlag, und der atemberaubende Anblick ergaben eine Atmosphäre, die mich zum ersten Mal seit einer langen Zeit wieder zu beruhigen schien. Gedankenverloren stampfte ich durch die unberührte Schneeschicht.
Wie lange waren wir eigentlich schon unterwegs? Und wie lange war es schon her, dass mein Vater Liam eingestellt hatte? Ich konnte es nicht sagen. Die vergangenen Wochen waren durch die ganzen Ereignisse so schnell an mir vorbeigezogen, dass ich den Überblick verloren hatte. Oder waren es überhaupt noch Wochen oder nicht schon Monate? Leicht schüttelte ich mit dem Kopf. Was war nur aus meinem Leben geworden. Ich beschloss Liam später darauf anzusprechen. Ich war mir sicher, dass er besser und genauer darüber Bescheid wissen würde als ich. Nachdem ich den Gedanken festgesetzt hatte, konzentrierte ich mich auf die Umgebung um mich herum. Es wäre doch eine Straftat, wenn ich diesen Anblick nicht genießen, geschweige denn wertschätzen würde. Auch wenn der Anlass warum wir überhaupt hier waren nicht wirklich der Beste war, empfand ich dennoch ein Gefühl wie Bewunderung für diesen Ort. Es war traumhaft schön hier und wie viele Jahre waren schon vergangen wo ich das letzte Mal in kniehohen, dicken glänzenden Schnee gestanden hatte.
Natürlich waren die Stiefel schwer und der Schnee kaum zu bewältigen, doch ich kämpfte mich so gut wie es ging weiter. Die Luft war nach einer Weile nicht mehr so schneidend und ich hatte mich mehr oder weniger an die extremen Temperaturen gewöhnt. So gut wie es ging führte ich meinen kleinen Rundgang um den See weiter. Vielleicht hätte Liam mich ja begleiten wollen? Abgesehen von dem Fakt, dass er mich unter normalen Umständen hätte ohnehin begleiten müssen, natürlich. Schnell verwarf ich den Gedanken wieder. Er hatte mich eh schon vierundzwanzig Stunden, rund um die Uhr, an der Backe, da hätte er mir bestimmt abgesagt. Es musste schließlich auch mal vorkommen, dass wir Zeit für uns alleine hatten und so wie der Morgen verlaufen war, hatte er diese auch bitter nötig.
Belanglos hauchte ich meinen Atem in die Luft. Zufrieden sah ich dabei zu, wie er sichtbar wurde und langsam in einer kleinen Wolke davon schwebte, um sich dann wiederum komplett aufzulösen. Aus Freude an dem Anblick wiederholte ich dies noch ein paar Male. Als ich gerade erneut tief die Luft einsaugte, bemerkte ich etwas aus dem Augenwinkel, wobei ich so ruckartig einatmete, dass mir die Luft im Hals stecken blieb und alles in einem Hustenanfall endete. Nachdem ich mir gefühlt die Lunge aus dem Leib gehustet hatte, die Augen tränten als hätte ich gerade das Ende von Das Schicksal ist ein mieser Verräter geguckt, wischte ich mir die Tränen weg und lief mehrere Schritte in Richtung des Ufers.
Schuhabdrücke. Große, tiefe Schuhabrücke. Wie ein merkwürdiges Muster führten sie vom Wasser weg und schienen zwischen den Bäumen zu verschwinden, die zu meiner Linken in die Höhe ragten. Dadurch, dass der Schnee bisher komplett unberührt gewesen war, war mir die Unordnung sofort aufgefallen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen trat ich ein weiteres Stück näher an sie heran, sorgfältig darauf bedacht, die fremden Abdrücke nicht zu zerstören.
Hatte hier etwa jemand gebadet? So schnell wie mir dieser Gedanke gekommen war, war er auch schon wieder verflogen. Welcher Mensch mit gesundem Menschenverstand würde bei diesen Temperaturen in einem halbeingefrorenen See baden gehen? Kopfschüttelnd über meine eigene Dummheit warf ich einen raschen Blick auf das Wasser. Eine Eisschicht bedeckte einen Teil der Fläche, das dunkle Wasser schien beinahe bewegungslos darunter zu verharren. Wieder wanderte meine Aufmerksamkeit zu den Abdrücken. Sie schienen relativ frisch zu sein, denn ich fand keinen Neuschnee auf ihnen. Schnell überlegte ich wann es das letzte Mal geschneit hatte. Vielleicht war es ein Tag her gewesen? Aufgrund der Ereignisse, die sich zwischen Liam und mir seit unserer Ankunft abgespielt hatten, war ich nicht dazu gekommen ernsthaft auf das Wetter zu achten. Der Schnee war allerdings relativ weich und durchtretbar, weswegen ich auf den Schluss kam, dass er noch nicht länger als ein, maximal bis zwei Tage liegen konnte. Kritisch hockte ich mich soweit wie der Schnee es zulassen konnte, hin und legte die Handfläche in den Abdruck, der mir am nächsten lag. Dadurch, dass ich alles etwas näher betrachten konnte, entdeckte ich merkwürdige, kleinere Flecken, die sich durch den Abdruck sprenkelten. Verwundert näherte ich mich noch etwas. Er wunderte mich, dass ich die Flüssigkeit nicht sofort gesehen hatte. Der Schnee war wortwörtlich strahlend weiß weswegen ich etwas zurückgenommen war, dass ich noch etwas anderes neben den Abdrücken entdeckt hatte. Schließlich hätte sie mir bei dem Kontrast sofort ins Auge fallen müssen.
Vorsichtig grub ich ein Stück der gefrorenen Flüssigkeit heraus und betrachtete es näher. War es Benzin? Oder Öl? Etwas anderes als eine Art Treibstoff kam für mich nicht infrage. Immer noch in der Hocke verharrend schaute ich wieder auf den See vor mir. Es musste irgendeinen Zusammenhang mit einem Boot geben, da war ich mir sicher. Wie sonst sollten die Abdrücke auch vom Ufer wegführen und vor allem genau hier beginnen? Nur so würde es auch Sinn ergeben, dass es sich in meiner Hand um Benzin oder Ähnliches handelte. Und dann sah ich es.
Ein Teil der Eisschicht auf dem Wasser vor mir bewegte sich leicht. Als ich genauer hinsah stellte ich fest, dass es dünner war und sich im Gegensatz zum Rest der dicken Schicht mehr bewegte. Wie von einer Tarantel gestochen sprang ich auf und rutschte das letzte Stück heran. Meine Gedanken waren alle bestätigt worden. Jemand hatte sich mit dem Boot durch die Schicht bis zum Ufer durchgebrochen und war von dort aus zu Fuß weiter. Die Falten auf meiner Stirn wurden von Sekunde zu Sekunde tiefer. Es kamen mir genau zwei Fragen auf. Wo war das Boot jetzt? Und wer war daraus gestiegen? Ich hätte die Streifen, die durch das Boot im Schnee verursacht worden wären, sofort bemerkt. Vielmehr bereitete mir jedoch die Frage nach diesem jemand Sorgen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Spuren von einem Nachbarn kommen konnten. Dafür wusste ich zu gut, dass es davon zu wenig hier in der Umgebung gab. Und warum sollte ein Nachbar ausgerechnet hier, in der Nähe von genau unserem Haus, anlegen und an Land gehen? Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend ausbreitete. Rasch erhob ich mich und trat ein paar Stücke zurück.
In jeder anderen Situation wäre ich davon ausgegangen, dass hierbei nichts bedrohliches im Spiel sein würde, doch da ich mich weit entfernt von einer normalen Situation befand, konnte ich mich nicht gegen dieses Gefühl wehren.
Waren wir gefunden worden? Plötzlich erschien mir der Tag nicht mehr so schön und freundlich wie er es zum Anfang meines Spazierganges getan hatte. So schnell wie möglich wandte ich dem See den Rücken zu und stampfte hektisch durch den Schnee zurück. Es war still. Zu still. Ich fühlte mich, als hätte jemand die Musik ausgeschaltet. Das Knirschen des Schnees unter meinen Sohlen fühlte ich zwar, doch ich hörte es nicht. Das Pfeifen des Windes in meinen Ohren war verstummt, das Rascheln der Äste schien mit dem zwitschern der Vögel zusammen verschwunden zu sein. Alles, was ich noch wahrnahm, war der stechende Atem, der unregelmäßig zu dem Klopfen meines Herzens im Kopf dröhnte. Der Schnee stach mir in den Augen, die Strahlen der Sonne waren viel zu grell. Mal wieder reagierte mein Körper mit Panik auf etwas, dass sich als etwas vollkommen ordinäres entpuppen konnte, allerdings schien ich in der letzten Zeit nicht der Herrscher über mein eigenes Ich zu sein, was nach dieser ganzen psychischen Belastung nicht besonders wunderlich war. Mühevoll kämpfte ich mich weiter durch den Schnee.
Die Zeit schien sich nicht fortzubewegen. Unermüdlich kämpfte ich weiter, die Beine knickten unter der andauernden Anstrengung immer weiter ein, doch ich gab nicht auf. Der Gedanke daran, dass er hier war, dass er mich sehen konnte, dass er Liam oder seinen Vater etwas antun könnte, trieb meinen Herzschlag immer weiter in die Höhe. Mir war so schlecht. Ich hatte das Gefühl, dass wenn ich innehalten würde, ich mich geradewegs übergeben müsste. Die weiße Masse vor mir wurde mit jedem Schritt größer und größer, schwellte zu einem Berg an und gab mir keine Chance sie zu erklimmen.
Und dann passierte es.
Ein Knall zerriss die Stille. Er war so laut, dass mein Ohr auf der Stelle taub wurde. Reflexartig legte ich die Hand sofort schützend über beide. Noch in derselben Sekunde, in der der Knall ertönte, sah ich aus den Augenwinkeln den Schnee neben mir aufwirbeln. Panisch fuhr ich herum, um die Ursache zu finden. Es war nichts zu sehen. Ich zögerte nicht lange. So schnell wie es ging und alleine von der Angst gejagt hechtete ich weiter. Bis es wieder kam.
Dieses Mal spürte ich etwas genau an meinem Ohr vorbeirauschen. Die augenblickliche Realisation brachte meinen Herzschlag auf den Höhepunkt. Es waren Schüsse.
Sie folgten im Sekundentakt. Der dritte Schuss raste erneut an mir vorbei, so nah, dass ich den Wind spüren konnte, den er hinter sich herzog. Der vierte schlug in dem Schild am Ufer links von mir ein. Ich wusste, wer es war. Mit der Kraft, die ich noch besaß, zog ich mich weiter, geduckt, die Hände schützend über den Kopf gelegt. Es gab keine Stelle an der ich hätte Schutz suchen können. Tränen verschleierten meine Sicht und erschwerten mir die Flucht. Die Schüsse folgten unermüdlich und doch schienen sie mich nicht treffen zu wollen.
"Liam!" Es war das einzige, was ich herausbringen konnte. Ich wusste nicht, wie laut und ob ich es überhaupt ausgesprochen hatte, aber es war das einzige, was in meinem Kopf war. "Liam, bitte."
Ich wusste nicht mehr wo vorne und wo hinten war. Wenn ich mich umdrehte würde ich bei seinem Anblick sämtliche Kraft verlieren. Schluchzend stolperte ich durch die unüberwindbaren Massen.
Schuss.
Ein Schrei entriss sich meiner Kehle, als ich spürte, wie sich etwas in mein Bein fraß. Noch in derselben Sekunde knickte es weg, ich stürzte in das tödliche Weiß vor mir, welches mich unter sich begrub.
Schmerz.
Die Kälte des Schnees biss sich in meinem Gesicht fest. Schnaufend versuchte ich mich wieder aufzurappeln, doch der stechende Schmerz in meinem Bein hinderte mich. Im Gegensatz zu der Kälte, die jede Zelle meines Körpers zu betäuben schien, tropfte etwas unerträgliches Heißes das Bein hinunter. Der Kontrast von kochend heiß und eisig kalt ließ mich erzittern. Als ich aufschaute begrüßte mich ein starker Schwindel.
Liam.
Es war das letzte, das meinen Mund verließ. Es war vielmehr ein leises, schluchzendes Flehen. Ich konnte nicht sehen, aber dennoch wusste ich, dass er mich gleich holen würde. Dass er mich gleich von ihm reißen würde. Und dass ich Liam nicht mehr wiedersehen würde. Das Gefühl über Zeit und Raum wurde immer fremder. Der Schmerz, die Kälte und die Angst waren nicht der Grund für die Tränen, die sich leise, fast schweigend, den Weg über die kalten Wangen suchten und anschließend im Schnee neben mir versickerten. Sie galten alleine ihm.
"Es tut mir leid.", hörte ich mich flüstern, als ich einen schleierhaften Schatten erkannte, der sich mir näherte. Ich war unfähig mich zu bewegen. Ich hatte versagt.
Es waren zwei Hände, die mich grob packten und aus dem Schnee rissen. Der Ohnmacht nahe ließ ich es zu wie ich über eine breite Schulter geworfen wurde, das Gesicht prallte unsanft gegen den harten Rücken. Obwohl ich kaum klar denken, geschweige denn überhaupt noch etwas Bewusstsein hatte, erkannte ich an der Grobheit, dass es sich nicht um die Person handelte, auf die ich so sehr gehofft hatte. Es war zu spät. Er hatte gewonnen.
Die Umgebung war längst verstummt. Außer das Blut, das aus meiner Nase tropfte und tiefe Flecken unter mir hinterließ, konnte ich nichts mehr riechen. Meine Ohren waren von der Lautstärke der Schüsse taub geworden, das einzige was ich hören konnte war ein Laut so hell, dass mir der Schädel hätte explodieren können. Nur noch schemenhaft bekam ich mit wie sich meine trübe Sicht von Sekunde zu Sekunde weiter von mir verabschiedete. Das letzte, das ich endgültig mitbekam, war wie mein Körper mit Wucht auf etwas Hartes und kaltes geworfen wurde.
Dann fiel ich in ein Loch. Ein Loch, welches viel zu tief war, um jemals wieder herauszukommen.
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