»17. Kapitel
Es war bereits spät in der Nacht, als Liam und ich völlig fertig zuhause ankamen. Zu meiner Überraschung war mein Vater noch wach. Er hatte auf uns gewartet. So wie es aussah, hatte Liam ihm eine Nachricht hinterlassen, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte, weswegen ich mich schon mal seelisch auf die größte und längste Predigt vorbereitete, die ich jemals zu hören bekommen hatte. Allerdings kam es nicht so, wie gedacht. Kaum hatte ich das große Wohnzimmer betreten, legte mein Vater das Buch in seiner Hand weg und lächelte uns ruhig an. Verwirrt blinzelte ich ein paar Mal.
»Und? Wie war es?«
Sprachlos legte ich den Kopf schief und starrte in die Augen gegenüber von mir. Was zur Hölle ist denn jetzt los, fragte ich mich innerlich und wartete nur darauf, dass er jeden Augenblick vor Wut ausbrechen würde, ist das etwa die Ruhe vor den Sturm? Unmerklich huschte mein Blick zu Liam herüber, der sich hinter mir positioniert hatte und sich damit beschäftigte die Jacke auszuziehen. Als er bemerkte, dass er meine Aufmerksamkeit vollkommen für sich hatte, sah er auf. Er blickte mich erst ebenso verwirrt an wie ich ihn, bis ihm klarzuwerden schien, was hier vor sich ging. Schnell schob er sich neben mich und lächelte meinen Vater breit an.
»Oh, es war wundervoll. Der Film war wirklich rührend und wie sie sehen, konnte Katie sich die Tränen nicht mehr verkneifen.«
Während er sprach, wies er mit einer kurzen Handbewegung auf mein Gesicht. Immer noch verwirrt wegen der ganzen Situation, blickte ich kurzerhand in den großen Spiegel, der über dem Kamin hang, um herauszufinden, was genau er meinte. Als ich meinem Spiegelbild entgegnete, entfuhr mir ein erschreckter Laut; ich sah aus, als hätte ich mir die ganze Nacht lang Titanic angesehen. Blasse rote Spuren, die von Tränen verursacht worden waren, zogen sich von meinen Augenwinkeln angefangen über das gesamte Gesicht. Dazu kam noch der Fakt, dass meine Augen sich nicht nur wie Tomaten anfühlten, sondern auch so aussahen. Schockiert und verstört zugleich wandte ich den Blick wieder ab und schüttelte mich einmal kräftig. Das passierte also, wenn ich einmal richtig weinte.
»Na dann freut es mich, wenn ihr zwei so einen schönen Abend im Kino hattet.«
Weiterhin verstört von meinem eigenen Spiegelbild beobachtete ich, wie mein Vater sich erhob und seine Unterlagen und Bücher aufsammelte, die auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel abgestellt worden waren.
»Wenn ihr wollt, könnt ihr euch noch was zu essen machen. Rosie hat euch für den Notfall ein paar Sachen hingestellt.«
Mit einem müden Lächeln auf den bereits gealterten Zügen, nickte mein Vater Liam kurz zu, bevor er an uns vorbeiging und sich auf den Weg in sein Schlafzimmer machte. Liams gemurmeltes »Danke, Sir« sowie mein gerufenes »Gute Nacht, Dad«, schien er nicht mehr gehört zu haben. Zur Sicherheit wartete ich noch solange bis ich hörte, wie die Tür in einem Stockwerk über uns ins Schloss fiel. Dann drehte ich mich zu Liam um, der sich gerade in die Richtung der Küche zubewegte.
»Was hast du ihm erzählt, wo ich oder besser gesagt wir sind?«
Stirnrunzelnd holte ich den entstandenen Abstand zwischen uns wieder auf und folgte ihm in die Küche. Da ich noch das Essen von McDonalds in meiner Tasche hatte, dachte ich nicht daran, etwas von Rosies gemachtem Essen zu mir zu nehmen. Schließlich war ich mir ziemlich sicher, dass sie irgendetwas, worauf ich allergisch reagierte, rein gemischt hatte, sodass sie endlich ihre Ruhe vor mir haben würde. Schnell konzentrierte ich mich wieder auf Liam - der inzwischen das Licht in der Küche angemacht hatte und sich nach dem Essen umsah - und stellte die McDonalds Tüte auf den kleinen Tisch ab. Dann ließ ich mich auf den dazugehörigen Stuhl nieder wartete ab. Nachdem ich nach ein paar Minuten immer noch keine Antwort erhalten hatte, beschloss ich einfach sie zu wiederholen.
»Wieso hast du mich gedeckt?«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich mit an, wie Liam an der Folie über einer Lasagne herumfummelte und mich zwischendurch immer mal wieder kurz ansah. Nachdem er seine Schwierigkeiten mit dem abziehen der durchsichtigen Folie beseitigt hatte, drehte er sich zu mir um. Seine Augen sahen mich gleichgültig an.
»Hätte ich dich etwa verpetzen sollen?«
fragte er und wandte sich erneut zu der Lasagne. Gemächlich nahm er sich einen Teller und Geschirr aus dem Schrank, ehe er sich ein Stück herausschnitt und es in die Mikrowelle stellte. Spontan drückte er ein paar Tasten. Ob er genau wusste was er dort tat, wusste ich nicht, aber es war mir in diesem Moment auch nicht wirklich wichtig. Ich öffnete gerade meinen Mund, um ihn schlagfertig zu antworten, als er mich unterbrach.
»Weißt du Katie, ich bin nicht so ein Typ, der Spaß daran hat andere in Schwierigkeiten zu bringen.«
Mit einem seriösen Gesichtsausdruck sah er mich an. Überrascht über diese Ernsthaftigkeit, sah ich eingeschüchtert auf den Hamburger, den ich aus der Tüte geholt hatte, und erwiderte nichts. Keine zwei Sekunden hörte ich die dunkle Stimme leise vor sich hinsprechen.
»Was hast du gesagt?«
wollte ich sofort wissen und spitzte die Ohren. Liam seufzte auf, ehe er sich wieder zu mir herumdrehte und auf mich zulief. Eine Antwort bekam ich nicht wirklich. Mit einem unschönen Geräusch ließ er sich auf den Stuhl fallen und fuhr sich kurz durch die Haare. Die Vermutung, einen wunden Punkt bei ihm getroffen zu haben, kam in mir auf und ließ ein schlechtes Gewissen zurück. Nun etwas vorsichtiger mit dem was ich ihm sagen wollte, dachte ich kurz um und stützte währenddessen den Ellbogen auf die glatte Oberfläche vor mir.
»Uhm...tut mir leid, falls ich dich irgendwie beleidigt oder verletzt habe. Natürlich denke ich nicht, dass du so bist, ich-«
»Es ist alles in Ordnung.«
Die plötzliche Aussage erschreckte mich. Perplex legte ich den Kopf schief. Die braunen Augen mir gegenüber blickten mich so intensiv an, dass ich ihnen automatisch auswich. Ob ihn wohl irgendetwas bedrückt, fragte ich mich und lugte aufmerksam wieder in seine Richtung - nur um mit anzusehen, wie Liam wieder aufstand und sich wartend neben die Mikrowelle positionierte. Vielleicht fragst du einfach nochmal nach.
»Bist du dir da sic-«
»Katie.«
Mit einem warnenden Blick über die Schulter, brachte er mich zum Schweigen. Schnell murmelte ich noch ein leises »Ist ja gut«, ehe ich mir eine Handvoll Pommes in den Mund steckte und begann, darauf herum zu kauen. Zu meiner Zufriedenheit schmeckten sie immer noch ausgezeichnet. Die nächsten Minuten verliefen schweigend. Während die Mikrowelle vor sich hin summte, arbeitete ich weiter meine Portion Pommes sowie eine Schachtel Chicken Mc Nuggets ab und beobachtete Liam, der auf seine vor der der Brust verschränkten Arme starrte und ab und zu mit der Augenbraue zuckte.
Die ganze Zeit über beschäftigte mich nur ein Gedanke: Wie konnte ich Liam wieder aufmuntern? Darüber hinweg gesehen, dass ich es immer schaffte, unbewusst die verletzlichste Stelle eines Menschen zu treffen und ihn darauf anzusprechen, bestand mein zweites Talent darin, sie wieder zum Lachen zu bringen. Und da ich Liam wohl mit einer falschen Annahme verletzt hatte, sah ich meine Aufgabe darin, das Teddybär Lächeln wieder aus ihm heraus zu kitzeln. Und ich wusste auch schon genau wie.
Mit einer Aufmerksamkeit erregenden Bewegung meinerseits, griff ich nach zwei Pommes. Die braunen Augen huschten kurz zu mir herüber, ehe sie wieder abschweiften und einen ungeduldigen Blick auf die große Uhr an der Wand warfen. Grunzend steckte ich mir jeweils eine der Kartoffelsticks in ein Nasenloch und schob den Unterkiefer nach vorne. Anschließend neigte ich den Kopf soweit nach vorne, dass ein ziemlich hässliches Doppelkinn entstand. Zu guter Letzt setzte ich mein bestes pädophiles Grinsen auf, das ich konnte, und wartete darauf, dass Liam die Veränderung in meinem Gesicht bemerkte. Als er es aus den Augenwinkeln bemerkte, flog sein Kopf geradezu herum.
»In meiner Hose wartet eine Überraschung auf dich.«
»Oh mein Gott, Katie!«
Der Ausdruck in seinem Gesicht war unbezahlbar. In der ersten Sekunde schien er sich einfach nur erschreckt zu haben; dann artete er von einem erschreckten zu einem breiten Lächeln aus. Lachend beugte er sich nach vorne und zog mir die Pommes aus der Nase, um sie in den Müll zu schmeißen.
»Was machst du denn für Sachen.«
hörte ich ihn - eher sich selbst als mich - fragen, während er amüsiert den Kopf schüttelte und sich ein weiteres Lachen verkniff, wobei die kleinen Lachfalten an seinen Augen zum Vorschein kamen, welche ihn eigentlich ganz süß aussehen ließen. Belanglos zuckte ich mit den Schultern.
»Ich wollte dich zum Lachen bringen.«
sagte ich und verhielt mich so, als würde ich mich mit ihm über das Wetter unterhalten. Auf Liams Zügen erschien für den Bruchteil einer Sekunde ein Ausdruck, den ich in unserer ganzen gemeinsamen Zeit noch nicht erlebt hatte. Es war ein Blick, welcher mir - im positiven Sinne - eine Gänsehaut bereitete. Früher, als wir noch Freunde ohne stärkere Gefühle füreinander gewesen waren, hatte Niall mich genauso angesehen. Plötzlich spürte ich, wie ein glückliches Gefühl in meiner Magengegend zu brodeln begann. Sah er mich inzwischen etwa als eine gute Freundin an? Wenn ich ehrlich mit mir selbst war, wünschte ich es mir wirklich. Obwohl wir eine nicht so angenehme Vergangenheit vorweisen konnten, hoffte ich inständig, dass sich unser Verhältnis inzwischen gebessert hatte. Und so wie es aussah, war dies auch der Fall.
Während ich also weiter aß, durchsuchte Liam – immer noch grinsend – dem Kühlschrank nach etwas zu trinken. Als er eine Packung Saft fand, seufzte er erleichtert auf und schüttete sich etwas davon in ein Glas. Da ich nichts Weiteres zu tun hatte, sah ich ihm wieder dabei zu, bis mir plötzlich etwas einfiel, was ich ihn schon mal hatte fragen wollen, es aber wieder vergessen hatte.
»Liam?«
Murmelte ich deswegen mit halbvollem Mund und hielt mir noch rechtzeitig eine Hand davor, damit er das Essen in meinem Mund nicht sehen konnte. Fragend reckte er eine Augenbraue in die Höhe und nickte mir kurz zu. Nur zögernd fing ich an zu sprechen.
»Denkst du, dass…«
fing ich an, brach den Satz allerdings wieder ab, da ich keine passende Formulierung finden konnte. Liam wartete geduldig, bis ich mich wieder gesammelt hatte. Dass das Stück Lasagne inzwischen schon längst hätte fertig sein müssen, ließen wir beide außer Acht.
»Wäre es zu gefährlich für mich zur High School zu gehen?«
flüsterte ich gerade mal so laut, dass er es fast nicht hören konnte, und sah ihn unsicher an. Mein Bodyguard erwiderte ihn ungewohnt ernst. Eine Reihe von Falten tauchte auf seiner Stirn auf, als er kurz über meine Frage nachdachte. Dann biss er sich auf die Unterlippe und schüttelte langsam den Kopf. Enttäuscht ließ ich die Schultern hängen.
»Ich kann mir vorstellen, wie öde ein Privatlehrer sein muss, aber ich kann dich auf keinen Fall auf eine öffentliche Schule gehen lassen. Momentan ist es einfach zu gefährlich.«
informierte er mich und betrachtete mich mitleidig. Alles, das ich wollte, war, auf eine normale Schule gehen zu können. Ich könnte neue Freundschaften knüpfen, mit Niall öfter zusammen sein – und damit auch jedem weiblichen Wesen in diesem Gebäude zeigen, dass er bereits eine Freundin hatte – und diese ganzen Sachen erleben, die man aus diesen amerikanischen Streifen kannte. Seufzend strich ich mir ein paar nervende Haarsträhnen aus dem Gesicht und widmete mich wieder meinem Essen. Ich wollte nicht, dass Liam mich nun bemitleidete; wie lächerlich war es denn auch zu schmollen, weil ich nicht zur Schule durfte?
Die nächste Stille, die in den Raum und somit auch zwischen uns trat, hielt nicht lange an. Denn ein urplötzlicher ohrenbetäubender Knall sorgte nicht nur dafür, dass sie sofort wieder verschwand, sondern brachte mich auch noch kurz vor einen ernsthaften Herzinfarkt. Als hätte mir eine Tarantel in den Hintern gebissen fuhr ich hoch, um zu sehen, was die Ursache für den Knall gewesen war. Und das, dass ich dort sah, wunderte mich kein bisschen. Liam die Mikrowelle dem Anschein nach doch falsch eingestellt.
•
Bereits am nächsten Morgen konnte ich bereits behaupten, dass der Tag nicht viel mit sich bringen würde. Ein Blick auf dem Kalender an der Wand rechts von mir, sagte mir, dass ich wieder bei meinem Privatlehrer antanzen musste. Da ich weder die Hausaufgaben gemacht, geschweige denn irgendeines der besprochenen Themen wiederholt hatte, sank meine Motivation aus dem Bett zu steigen gleich noch ein Stück mehr. Doch trotz allem zwang ich mich dazu, meinen Körper aus der kuscheligen Wärme zu heben und eine erfrischende Dusche zu nehmen. Nachdem ich unter dieser wieder fast eingeschlafen wäre, machte ich mich auf den Weg nach unten, wo bereits Frühstück wartete.
Zu meiner Überraschung war Liam wieder der einzige, der auf mich gewartet hatte. Gedankenverloren stach er auf seinem Speck herum und beobachtete währenddessen gespannt, wie das Wasser in seinem Glas vor sich hin prickelte. Erst, als ich mich gegenüber von ihm hinsetzte, blickte er auf.
»Guten Morgen.«
begrüßte er mich ungewohnt motiviert und lächelte mich breit an. Seine Miene erhellte sich unmerklich. Gut gelaunt erwiderte ich es.
»War Dad sehr sauer darüber, dass die Mikrowelle explodiert ist?«
»Nein, eigentlich nicht sonderlich.«
Die Erinnerung an die vorherige Nacht trieb mir ein unweigerliches Grinsen ins Gesicht. Liam schien es nicht anders zu ergehen; ein tiefes Schmunzeln zielte seine Züge und brachte mich zum Lachen. Das Bild, wie er dort vor der Mikrowelle stand und seinen mit Lasagne bestückten Körper schockiert betrachtete, würde mir nicht einmal in eine Millionen Jahren aus den Kopf gehen. Eine Erinnerung, die ich niemals vergessen würde. Ich wollte gerade den Mund öffnen, um Liam wieder auszulachen, als er mich unbewusst unterbrach.
»Du musst heute wieder zu deinem Privatlehrer oder?«
fragte er und trank kurz einen Schluck seines Wassers. Ich konnte es mir nicht verkneifen die Augen zu verdrehen, als ich nickte. Unmotiviert ließ ich mich hängen und lehnte mich mit dem Kopf an die Stuhllehne hinter mir. Ich hatte jetzt schon keine Lust darauf vier Stunden in diesem stickigen Raum zu sitzen und so zu tun, als würde ich alles verstehen oder überhaupt zuzuhören. Liam legte zuerst das Besteck in seinen Händen zur Seite, ehe er mich zögernd ansah. So wie er aussah schätzte ich, dass er etwas auf dem Herzen hatte, sich aber nicht traute, es auszusprechen. Automatisch wurde ich aufmerksamer und spitzte die Ohren.
»Hast du da Lust…Hast du Lust da heute hinzugehen?«
Vorsichtig setzte Liam zu einem zweiten Versuch an. Mit einem vorwurfsvollen Blick über diese offensichtliche Frage schüttelte ich den Kopf und seufzte leise auf. Ich war mir zu hundertzehn Prozent sicher, dass es in einer High School wenigstens etwas spaßiger zugehen würde, doch dieses Thema konnte ich mir erst einmal abschminken. Schnell verwarf ich den Gedanken daran wieder und schenkte sämtliche Aufmerksamkeit wieder Liam, der mich schief und unsicher zugleich angrinste.
»Würdest du dann vielleicht…Also, willst du mich dann heute vielleicht begleiten? Ich muss heute noch weg. Ich würde dich bei deinem Lehrer einfach krank melden, sodass dein Vater keinen Wind davon bekommt.«
Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Wann können wir los?«
•
Meine Augen weiteten sich, als wir auf einen leeren Schotterparkplatz fuhren. Aufgeregt presste ich mein Gesicht gegen die Scheibe, um das Schild des Ladens lesen zu können, welches über den kleinen, schmuddeligen Laden angebracht worden war. Dadurch, dass alles ziemlich heruntergekommen war, konnte ich lediglich ein geschwungenes ager identifizieren. Verwirrt sah ich zu Liam herüber, welcher nun den Wagen parkte und den Motor ausschaltete.
»Wo sind wir denn jetzt?«
Während der gesamtem Fahrt über, hatte er auch nicht nur ein Sterbenswörtchen darüber verloren, wohin wir gehen würden. Und jetzt, nach Zwei Stunden Autofahrt, hatte ich so langsam aber sicher den Kaffee auf.
»Wir sind doch jetzt da, du kannst das Schild doch lesen.«
Eindeutig genervt – wofür nur er dafür verantwortlich war, da er mir nicht hatte antworten wollen - stiegen wir aus und Liam schloss das Auto ab. Dann steuerte er auf den Laden zu, welcher mich an einen Laden im alten Wilden Westen erinnerte. Ich versuchte einen Blick in das Innere zu werfen, doch das gesamte Schaufenster war von Staub und unzähligen Werbungen beklebt worden, sodass sie als Sichtschutz dienten. Nun doch ein wenig misstrauischer was die ganze Sache anging, betrat ich nach Liam den Laden und hielt mich dicht hinter ihm.
Das erste, das mir entgegen kam, war eine dichte Staubwolke. Hustend vertrieb ich sie wieder und presste mich geradezu an Liams Rücken, dessen fragenden Blick ich einfach außer Acht ließ. Ich wagte mich nicht auch nur einmal an ihn vorbeizugucken.
Auf dem Weg zur Kasse - auf jeden Fall nahm ich an, dass wir dorthin gingen - studierte ich meine Umgebung genau. Kisten in unterschiedlichen Formaten füllten die metallenen Regale, manche von ihnen hatten ein rotes Kreuz auf der Vorderseite. Nackte Glühbirnen hangen von der Wand und warfen nur ein trübes Licht in den Raum. Instinktiv schluckte ich einmal schwer und klammerte mich an Liams Oberarm. Was zur Hölle machte er bloß in seiner Freizeit?
»Katie? Geh doch schon mal die Treppe runter, ich komme gleich nach.«
Erschreckt zuckte ich zusammen, als ich die tiefe Stimme näher wie gedacht vor mir wahrnahm. Peinlich berührt nahm ich sofort ein Stück Abstand. Was ich allerdings nicht bemerkt hatte, war das Regal hinter mir, gegen welches ich ausversehen stieß. Durch den Ruck begann es gefährlich zu schwanken. Erleichtert darüber, dass es nicht umkippte, atmete ich heftig aus und sah Liam kritisch an, der inzwischen auf eine Klingel gedrückt hatte, um den Inhaber des Ladens auf sich aufmerksam zu machen. Ein gewagter Blick hinter ihm hervor ließ mich all die unzähligen Waffen und Gewehre erblicken, die hinter dem Tresen an der Wand hangen. Im Gegensatz zum Rest des Ladens, waren sie blitzblank poliert. Unmerklich schluckte ich einmal schwer. Er hatte mich ernsthaft in einen Waffenladen mitgenommen.
»Jetzt geh schon. Da vorne ist die Treppe.«
Auffordernd stieß Liam mir mit dem Ellbogen in die Rippen. Verwirrt darüber, was ich im Keller sollte, und ob das überhaupt in Ordnung war, ließ ich - auch wenn nur widerwillig - seinen Arm los und tapste zu der Treppe, welche im Dunkeln verschwand. Aus dem Nebenzimmer ertönte das Geräusch von quietschenden Stühlen und hektischen Gemurmel, während ich mich, weiterhin zögernd, auf die Treppe zubewegte, welche ernsthaft so aussah, als würde sie im nichts enden. Noch bevor die Schritte aus dem anderen Zimmer lauter werden konnten, und der Inhaber - an dem strengen Aftershave nahm ich an, dass es sich um einen Mann handelte - mich entdecken konnte, betrat ich die erste Stufe und machte mich unsicher auf den Weg nach unten.
Auf einer merkwürdigen Art und Weise wollte ich es verhindern, dass er mich sah. Schließlich war ich schon einmal als Liams Freundin gehalten worden und solche Annahmen wollte ich um alle Fälle verhindern. Außerdem schien Liam den Laden bereits schon öfters aufgesucht zu haben, weswegen sich die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder passieren könnte, um einiges erhöhte. So schnell wie ich es im Dunkeln schaffte, bahnte ich mir den Weg nach unten. Einzelne Gesprächsfetzen von oben drangen an mein Ohr, doch ich blieb nicht stehen, um es mit anzuhören. Dafür interessierte es mich vielmehr, was sich im Keller befand, den ich nach ein paar weiteren Stufen erreichte. Aufgeregt suchte ich an der Wand neben mir nach einem Lichtschalter. Als ich ihn fand, betätigte ich ihn - nur um das wohl coolste zu sehen, was ich in meinem gesamten Leben jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Ein riesiger Raum erstreckte sich vor mir. Eigentlich konnte man es schon als Halle durchgehen lassen. Grelles Neonlicht spendete ausreichend Licht, um alles genau unter die Lupe nehmen zu können. Es war das komplette Gegenteil vom oberen Teil des Ladens.
Gespannt trat ich ein paar Schritte vor. Auf meiner rechten Seite befanden sich Bahnen, die typischen Kegelbahnen ähnelten. Auf dem zweiten Blick stellte ich allerdings fest, dass es keine waren; einzelne Tische, die zwischen dicken Abtrennungen standen, hinderten mich daran, auf den dahinterliegenden, leeren Raum zu treten. Verwirrt ging ich auf eine dieser Kammern zu. Etwa zwanzig Meter vor mir hang ein weißes Plakat. Erst, als ich die Augen zusammenkniff, erkannte ich, dass die schwarzen Linien die groben Konturen eines Menschen darstellten. Auf der Brust war eine Zielscheibe gezeichnet wurde. Mit einem Mal wurde mir klar, was Liam vorhatte – er wollte als Training schießen üben.
In dem Moment, wo mir dies bewusst wurde, fühlte ich die Anwesenheit einer Person hinter mir. Erschreckt fuhr ich herum und blickte in zwei mir nur zu bekannte braune Augen. Mit einem schiefen Lächeln hielt Liam mir gelbe Ohrenschützer hin.
»Du hast ja anscheinend schon rausgefunden, was ich heute mit dir machen will.«
lächelte er und legte sich seine Schützer um den Hals, damit er seine Hände frei verwenden konnte. Zögernd tat ich es ihm gleich. Wie cool war das denn? Mein Atem flachte sich automatisch ab, als ich die silberne Waffe um seinen Gürtel erblickte. Wie kam es, dass ich sie vorher noch nie bemerkt hatte? Wahrscheinlich hatte er sie nie umgehabt, wenn wir im Haus gewesen waren. Ich war so sprachlos, dass ich meinen Mund nicht mehr zubekam, was Liam sichtlich zu amüsieren schien. Mit dem Zeigefinger klappte er mein Kinn wieder zu und quetschte sich neben mich in die Kammer. Als wäre es das normalste auf der Welt, zog er eine Packung Patronen, die er wahrscheinlich oben bekommen hatte, aus der Hosentasche und fing an, mit geübten Handbewegungen die Waffe zu laden. Immer noch überwältigt davon, dass ich wahrscheinlich schießen durfte, haute mich wahrlich um.
Nachdem Liam alles geladen hatte, ließ er sie einmal klicken und hielt sie mir dann erwartungsvoll hin. Ungläubig starrte ich ihn an.
»Ich -«
»Keine Sorge, ich erkläre dir alles.«
»Darf ich das denn überhaupt?«
»Es ist alles in Ordnung, vertrau mir.«
Beruhigend trat Liam einen Schritt näher zu mir rüber. Inzwischen standen wir uns so nahe, dass sich unsere Körper berührten. Diese eine, bestimmte Spannung entstand wieder zwischen uns, doch ich entschied mich dazu sie zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen auf das, dass Liam mir erklärte.
»Hier entsicherst du die Waffe, okay?«
Mit einer kurzen Bewegung drückte er mit einer Hand ein längliches Stück auf der Pistole nach vorne. Ein mir bekanntes Klicken aus Actionfilmen hallte kurz durch den Raum und entzog mir ein geflüstertes »wow«. Mit einem Nicken gab ich ihm zu verstehen, dass ich es verstanden hatte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen platzierte sich Liam hinter mich. Seine Hände fuhren meine Arme entlang, bis sie meine erreicht hatten. Ob es nun das kalte Metall oder seine Berührung war, die mir eine Gänsehaut auf die Arme blies, konnte ich nicht sicher sagen. Sein warmer Atem prallte in regelmäßigen Zügen gegen meinen Nacken, als er meine Hände um die Waffe legte und sie anhob. Damit nichts passierte, schlossen sich seine über meine, wodurch sie gleichzeitig auch das Zittern stoppten. Orientierungslos zielte ich auf die Zielscheibe vor mir.
»Wenn du jemals in eine Situation kommen solltest, wo du alleine eine Waffe brauchst, dann gucke nur in die Richtung, in die die Waffenmündung zielt. Wenn du dich trotzdem umdrehst und jemand hinter dir steht, kannst du nicht sofort schießen.«
Leise flüsterte er mir die Worte in mein Ohr. Sein Körper schmiegte sich von hinten an meinen und raubte mir beinahe sämtliche Konzentration. Das nächste, das ich mitbekam, war, wie sich eine Hand löste und sich um meine Hüfte schlang. Unwirklich hielt ich den Atem an.
»Normalerweise solltest du immer auf das Herz des Feindes zielen, doch wenn du ihn nur außer Gefecht setzen willst, schießt du entweder auf seine Beine oder Schulter.«
Ich war so konzentriert, dass ich nicht mitbekam, wie Liam mir die Ohrenschützer aufsetzte. Er schien dasselbe und die andere auf meine Hüfte platzierte, wodurch wiederrum eine gewisse Nervosität in mir ausgelöst wurde – und mir das Signal gab, dass ich abdrücken konnte.
Die nächsten Sekunden verliefen wie in Zeitlupe. Ich war so dermaßen aufgeregt, dass die Pistole in meiner Hand wackelte, doch glücklicherweise gab Liam mir Halt. Für einen Moment spielte mein Finger mit dem Auslöser. Dann drückte ich ab.
Durch die dicken Ohrenschützer nahm ich den Schuss nur gedämpft war. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte war ein heftiger Rückstoß, der mich ruckartig nach hinten warf. Wäre Liam nicht da gewesen, wäre ich wahrscheinlich einfach so nach hinten gekippt.
Aufgeregt legte ich die Waffe auf den Tisch vor mir und nahm die Kopfhörer ab, um gespannt einen Blick auf die Zielscheibe vor mir zu ergattern, die automatisch auf uns zugerattert kam. Etwa fünf Meter vor mir stoppte es und ermöglichte mir einen Ausblick auf die Stelle, die ich getroffen hatte. Als ich das Loch sah, konnte ich mir ein kleines Lachen nicht verkneifen. Grinsend und stolz zugleich drehte ich mich zu Liam herum, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
»Nicht schlecht für dein erstes Mal.«
lobte er mich aufrichtig und tätschelte meine Schulter. Automatisch reckte ich die Brust etwas in die Höhe, um zu zeigen, wie stolz ich darauf war, überhaupt den Menschen getroffen zu haben.
»Aber vielleicht sollten wir noch mal weiterüben. Schließlich ist es nicht sonderlich prickelnd, wenn du einem Mann in die Eier schießt.«
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