»16. Kapitel
»Was hast du gerade gesagt?«
Ungläubig starrte ich ihn an. Als Antwort auf meine Frage seufzte Niall nur auf und fuhr sich kurz mit den Händen über das müde wirkende Gesicht. Dem Anschein nach strebte sich alles in ihm die Aussage ein weiteres Mal zu wiederholen, doch das war mir in diesem Moment mehr als egal.
»Da war dieses eine Mädchen aus meinem Spanisch Kurs und - sie hat mich halt geküsst. Ich habe ihn nicht erwidert und auch sofort abgebrochen, das musst du mir glauben.«
Mit einem bittenden Ausdruck im Gesicht, tat Niall es mir gleich und stand auf. Er kam ein paar Schritte auf mich zu und wollte mich berühren, doch dazu kam es erst gar nicht. Einerseits lag es daran, dass ich im rechtzeitigen Moment seiner Hand ausgewichen war, die sich auf meinen Oberarm hatte legen wollen, andererseits hatte sich eine andere Hand - die nicht mir gehörte - auf seine Schulter gelegt und ihn erschreckt herumfahren lassen hatte. Zu meiner Verwunderung war es kein anderer wie Liam, der meinen Freund mit einem tödlichen Blick musterte.
»Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.«
sagte er ernst und deutete mit einem leichten Kopfnicken auf die Tür hinter sich. Schnaubend fegte Niall die Hand von sich weg und funkelte ihn an.
»Du hast mir gar nichts zu sagen.«
sagte er mit gerümpfter Nase und wendete sich wieder zu mir, um meine Aufmerksamkeit wieder zu erhalten. Die vollen Lippen öffneten sich und formten sich zu Worten, die ihn allerdings nicht verließen. Der Grund dafür nannte sich wieder Liam, der den Iren nun etwas grober anpackte und ihn in Richtung Tür beförderte. Ich konnte nicht anders, als das Szenario vor mir stumm zu beobachten. Die Worte, die mein eigener Freund mir vor nicht einmal zwei Minuten an den Kopf geworfen hatte, wiederholten sich immer und immer wieder in ihm, ein Bild von ihm und einem fremden Mädchen tauchte parallel dazu vor meinem geistigen Auge auf und ließ eine unbehagliche Gänsehaut auf meinen Armen zurück.
»Ich werde ganz sicher nicht gehen.«
Nialls Stimme riss mich wieder aus den Gedanken. Im ersten Moment schaute ich verwirrt auf - nur um den blonden Kopf hinter der großen Statur von Liam zu entdecken. Verzweifelt und wütend zugleich versuchte er sich aus dem festen Griff seines Gegners zu befreien, was ihm jedoch nicht sonderlich gut gelang.
»Ich gehe erst, wenn Katie es will.«
Es vergingen keine drei Sekunden, bis ich zwei Blicke auf mir spürte. Niall sowie Liam sahen mich erwartungsvoll an. Einer erwartete, dass ich ihm zustimmen würde, der andere, dass er dazu aufgefordert wurde, zu bleiben. Doch wollte ich, dass er blieb? Nein. Ganz sicher nicht.
»Er soll gehen, Liam.«
Mit hängenden Schultern und den Fokus auf meinen Finger gerichtet, hörte ich, wie Niall fassungslos Luft ausstieß. Was erwartet er denn jetzt von mir, fragte ich mich selber und setzte - ohne den beiden etwas zu erklären - zum gehen an. Erst sagt er mir, dass er eine andere küsst und nimmt dann an, dass ich will, dass er hierbleibt? Ich wusste nicht, was ihm diese Einstellung verpasst hatte, aber es war eindeutig die falsche. Rasch quetschte ich mich an Liam, der den protestierenden Niall mit anscheinend Minimalen Kraftaufwand zur Tür brachte, vorbei und flüchtete mit dem Gedanken, dass mein Freund ein totaler Idiot war, ins Innere des Hauses. Das einzige, das ich in diesem Moment gebrauchen konnte, war eine Auszeit. Und die nahm ich mir auch.
So schnell wie ich konnte, suchte ich mein Zimmer auf. Nialls Stimme drang die ganze Zeit zu mir hoch, doch ich zwang mich einfach dazu, die andauernden Bitten zu ignorieren. Stattdessen betrat ich mein Zimmer, knallte die Tür zu und rutschte auf den Socken über den glatten Holzboden zum Kleiderschrank. Mit geübten Bewegungen öffnete ich ihn und betrachtete für ein paar Sekunden stumm den Inhalt. Alles, das ich wollte, war, etwas rauszugehen. Ich wollte weg. Weg von Niall. Weg von Liam. Weg von meinem Vater und Rosie. Und weg von diesem Haus. Ich hatte dieses Leben einfach nur noch satt. Konnte man ständige Kontrollen, einen Bodyguard und andauernde Verbote unter den Bedienungen für ein schönes Leben setzen? Eindeutig nicht.
Kurzerhand setzte sich ein Entschluss in meinem Kopf fest; ich würde abhauen. Der einzige, der es sofort bemerken würde, war eindeutig Liam, doch wenn ich ihm vorgaukeln würde, das ich schlafen wollte, würde er mich nicht mehr stören, was bedeutete, das ich genug Zeit dafür haben würde, den Weg aus dem Fenster zu nehmen.
Mit fest aufeinander gepressten Lippen, durchwühlte ich den Boden des Schrankes nach einer Tasche. Nachdem ich eine gefunden hatte, riss ich sie auf und begann wahllos die Kleidungsstücke hineinzustopfen, die ich zwischen die Finger bekam. Als ich nichts mehr in die wohl so ziemlich hässlichste Tasche, die ich jemals gesehen und besessen hatte, bekam, zog ich den Reißverschluss zu und versteckte sie hinter dem Nachtisch, der sich in der Nähe des Fensters befand. Dann setzte ich mich aufs Bett und wartete.
•
Es verging etwas mehr wie eine Stunde, bis ich das langersehnte Klopfen an der Tür hörte. Schnell setzte ich mich aufrecht und verunstaltete meine Haare so sehr, dass ich aussah, als hätte ich bis zu diesem Moment tief und fest geschlafen. Mit einem leisen »Ja?« bat ich ihn herein. Das aufgeregte Kribbeln in der Magengegend, welches aufgrund meines späteren Vorhabens entstanden war, ignorierte ich dabei einfach und konzentrierte mich auf das vor mir liegende. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich zu, wie die Tür vorsichtig aufschwang.
»Hey…Darf ich vielleicht kurz reinkommen?«
Mit einem aufmunternden Lächeln spähte Liam hinter der Tür hervor. Nachdem ich es ihm mit einem kleinen Nicken bewilligt hatte, trat er endgültig ein und ließ die Tür wieder mit dem Schloss in Kontakt treten. Dann kam er auf mich zu und ließ sich neben mir nieder.
»Wie geht es dir?«
erkundigte er sich vorsichtig und sah mich interessiert an. Schon wieder bemerkte ich, wie die guten Seiten seines Charakters ans Licht kamen. Einerseits fand ich sie unglaublich süß, andererseits erschwerten sie mir meinen Plan ohne ein schlechtes Gewissen durchzusetzen. Mit einem aufgezwungenen Lächeln entgegnete ich dem warmen Blick.
»Wie soll es mir bloß gehen? Warst du schon mal mit jemandem zusammen, der dir wie aus dem nichts beichtet, dass er eine andere geküsst hat? Wenn ja, dann kannst du es dir ja denken.«
Automatisch drehte ich den Kopf zur Seite, um die aufkommenden Tränen vor ihm zu verbergen, die – ohne, dass ich es ernsthaft wollte – in meine Augen traten und mich ein weiteres Mal schwach aussehen ließ. Während ich verzweifelt gegen sie ankämpfte, bemerkte ich, wie Liam neben mir tief einatmete.
»Du kannst es mir jetzt glauben oder auch lassen, aber ja, ich kenne dieses Gefühl nur zu gut.«
murmelte er, einen Moment später glitt ein tiefes Seufzen aus seinem Mund. Verblüfft wischte ich mir die salzigen Tropfen aus den Augenwinkeln und drehte mich zu ihm herum. Allein an seinem Blick wusste ich, dass er mich nicht anlog, um mich zu trösten. Er sagte die Wahrheit.
»Oh…das- das tut mir echt leid.«
entschuldigte ich mich aufrichtig und wich erneut geschickt seinem Blick aus. Wieso bringst du dich eigentlich immer in so unglaublich unangenehme Situationen, fragte ich mich selbst und hätte mir am liebsten mit der Hand gegen die Stirn geklatscht. Na toll. Liam lächelte mich an.
»Es ist alles in Ordnung.«
versicherte er mir sofort und tätschelte meine Schulter zaghaft. Es war unglaublich, wie er es schaffte Distanz aufzubauen und gleichzeitig so nah zu wirken. Sein Beruf schien ihn wie von alleine von seinen Aufträgen Fern zu halten, doch sein Privatleben zog ihn näher an sie heran. Ich konnte mir perfekt vorstellen, wie schwer es sein musste, diese beiden Sachen strikt voneinander getrennt zu halten.
»Willst du vielleicht einen Film gucken oder so? Also zur Ablenkung von dem…du weißt schon.«
Munter und unsicher zugleich, erhob Liam sich und machte die Anstalten zur Tür zu gehen. Mit Schwung öffnete er sie und hielt sie erwartungsvoll auf. So wie er mich ansah, schätzte ich, dass er erwartete, dass ich ihm ins Wohnzimmer folgen würde, doch ich blieb sitzen. Wenn ich jetzt einen Fehler machen würde, würde mein ganzer Plan ins Wasser fallen.
»Eigentlich ja gerne, aber ich würde mich lieber eine Weile hinlegen.«
sagte ich gespielt zögernd und setzte das beste Lächeln auf, welches ich aufbringen konnte. Mit dem Ansatz eines enttäuschten Ausdruckes im Gesicht, nickte Liam verständnisvoll und zog die Tür wieder hinter sich zu. Das nächste, das ich hörte, war das leise Klacken, was mir sagte, das meine Zeit ab jetzt lief. Mit zunehmend heftigem Herzschlag wartete ich noch ab, bis die schweren Schritte auf dem Flur verklungen waren. Dann sprang ich auf und machte mich fertig.
Hastig streifte ich mir ein Paar Turnschuhe an, zog mir eine Jacke über, setzte eine Wollmütze auf, da es ganz schön kalt geworden war, und schlang mir einen Schal um den Hals. Anschließend kramte ich die Tasche hervor und schulterte sie. Zur Sicherheit zog ich mir noch ein paar Handschuhe über, die ich - nach langem Suchen - in einer meiner Schubladen entdeckt hatte.
»Na dann, kann es ja losgehen.«
Mit einem erfolgreichen Grinsen im Gesicht eilte ich zum Fenster und öffnete das Fenster. Ein eiskalter Schwall Luft schlug mir entgegen und brachte meine Wangen dazu, sich bereits jetzt schon zu röten.
Dadurch, dass ich bereits schon vor einigen Jahren den Versuch gestartet hatte, aus dem Fenster zu fliehen, wusste ich, dass es durchaus machbar war die Regenrinne herunterzuklettern. Das einzige, auf das ich achten musste, waren die versteckten Kameras überall auf dem Gelände. Wenn ich jedoch schnell genug war, würde Liam es nicht bemerken.
Etwas nervös lehnte ich mich zuerst aus dem Fenster. Zu meinem Glück machte die Regenrinne immer noch einen guten Eindruck, sodass ich mich nicht davor scheute sie zu benutzen.
»Gucke einfach nicht nach unten. Bloß nicht nach unten gucken, dann wird alles gut.«
Während ich mich auf breite Fensterbank stellte, wagte ich mich nicht auch nur einmal nach unten zu blicken. Unser Haus war riesig, doch immer wenn ich aus dem Fenster sah, wurde mir bewusst, dass es monströs war, denn mein Zimmer im zweiten Stock ermöglichte mir eine exzellente Aussicht auf die umherliegenden Häuser. Vielleicht war das auch genau der Grund, weswegen ich Höhenangst hatte, was das, was ich gerade tat, noch unwirklicher erscheinen ließ, als es ohnehin schon war.
»Es wird alles gut, Katie. Du musst einfach nur ruhig bleiben. Ganz ruhig.«
Mein eigentlich beruhigendes Gerede entwickelte sich zu einem erbärmlichen Wimmern, als meine Finger sich um das eiskalte Metall wickelten. Mit einem letzten entschiedenen Seufzer, nahm ich alle Mut zusammen und löste mich vollkommen von dem Fensterbrett.
In der ersten Sekunde war ich erleichtert, dass ich die erste Hürde überstanden hatte. Dann allerdings entwickelte sich mein Vorhaben zu dem größten Fehler, den ich nach meiner Idee, mit dem Speiseaufzug zu flüchten, den ich jemals gemacht hatte. Aufgrund des Stoffs meiner Handschuhe fand ich keinen Halt. Mit einem erschreckten Quietschen rutschte ich innerhalb von zwei Sekunden um die zehn Meter die gesamte Rinne herunter.
Mit einem dumpfen Aufprall landete ich in eine perfekt geschnittenen Busch. Stöhnend rieb ich mir über den Hinterkopf, mit dem ich gegen die Wand hinter mir gestoßen war, und haspelte mich aus den Blättern heraus. Während ich aufstand, bemerkte ich, wie sich die Schmerzen in meinem Steißbein wieder meldeten. Trotzdem ließ ich sie einfach außer Acht und eilte auf das Tor zu, hinter dem die langersehnte Freiheit steckte.
»Ihr werdet mich ab jetzt nur noch von hinten sehen.«
Vergnügt fischte ich den eisernen Schlüssel aus meiner Hosentasche und sprintete auf das Tor zu. Da es sich zum Abend zuneigte, begann der Himmel sich dunkel zu verfärben. Mit leichten Bewegungen schloss ich das handgroße Schloss auf und drückte mich mit meinem gesamten Gewicht gegen die Metallstangen.
Endlich.
Mit wild klopfendem Herzen trat ich auf die Straße hinaus und ließ den Schlüssel achtlos im Schloss stecken. Ich würde ihn ohnehin in der nächsten Zeit nicht mehr gebrauchen – wieso sollte ich ihn dann mitnehmen? Ohne mich noch einmal umzudrehen, drehte ich dem Haus und dem gesamten Grundstück, welches ich eher als Gefängnis als ein angemessener Ort zu leben angesehen hatte, den Rücken zu und rannte los. Los in ein neues Leben.
•
Ich hörte erst nach einer guten dreiviertel Stunde auf zu rennen. Völlig außer Puste verlangsamte ich mich auf ein normales Schritttempo und fuhr mir über das verschwitzte Gesicht. Der pausenlose Wechsel zwischen rennen und joggen hatte meinen Energiegehalt mehr wie aufgebraucht. Atemlos blickte ich mich um, um zu gucken, wo ich mich befand. Während des Rennens hatte ich nicht darauf geachtet wo ich hingelaufen war, sondern hatte mich einfach nur soweit wie möglich von diesem Haus entfernen wollen. Das hatte zur Folge, dass ich nun planlos an irgendeiner schwach belebten Kreuzung am Rande der Stadt stand und nicht weiter wusste.
Ein entsetzliches Magenknurren brachte mich auf die Idee erstmals etwas zu essen zu kaufen. Ein wenig Geld hatte ich natürlich mitgenommen und ich war mir sicher, dass Geldnot meine letzte Sorge sein würde. Mit einem zuversichtlichen Grinsen im Gesicht tapste ich auf das McDonalds zu, dessen großes leuchtendes Logo mich in der Dämmerung geradezu einlud etwas zu kaufen.
Nachdem ich den Laden betreten, und mich ein paar Minuten lang angestellt hatte, war ich auch schon dran. Da ich mich fühlte, als hätte ich wochenlang nichts mehr zu mir genommen, bestellte ich auch das, was man in so einer Situation bestellte. Als ich den Laden wieder verließ, sah die Tüte in meinen Händen beinahe genauso aus wie meine vollgepackte Tasche. Während ich mich einfach - laut dem Straßenschild nach - aus London raus bewegte, öffnete ich die Packung und fing an zu essen.
Wo ich als nächstes hinsollte, wusste ich nicht wirklich. Doch das ich wusste - und wo ich mir auch ziemlich sicher war - war der Fakt, dass ich nicht mehr zurückwollte. Mein Vater hatte seit Jahren den Eindruck hinterlassen, als würde er es nicht einmal bemerken, wenn ich verschwinden würde. Rosie und ich waren ohnehin verfeindet und Liam war mir nicht nah genug, um mich ernsthaft zu vermissen.
Er würde wenigstens nach dir suchen, dachte ich mir stumm und legte die Stirn in Falten. Okay, aber deswegen ist er ja auch da. Als ich so an den Jungen dachte, der mich netter behandelte, als er eigentlich musste, wurde mein Herz unmerklich schwerer. Er hat sich Sorgen um dich gemacht und wollte dich nur aufmuntern und was machst du? Lügst ihn an und haust einfach ab.
Natürlich war es doch das schlechte Gewissen in mir, was die ganzen vergangenen Momente mit Liam wieder in mir hochholte und mir praktisch unter die Nase rieb. Resigniert warf ich die Pommes zwischen meinen Fingern wieder in die Tüte zurück, ehe ich das restliche Essen in der Tasche verstaute und weiterlief. Der Gedanke hatte mir wortwörtlich den Hunger vertrieben.
Seufzend warf ich einen kurzen Blick auf mein Handy. Ich selbst und Niall strahlten mich förmlich an und brachten mich dazu, wieder an den Blonden zu denken. Bevor ich jedoch wertvolle Zeit damit vergeudete und meine Gedanken an ihn richtete, wechselte ich meinen Hintergrund und setzte dafür ein Bild von Channing Tatum ein. Nun doch ein wenig getrösteter, sah ich in den Himmel und seufzte leise auf. Was hatte er sich bloß dabei gedacht.
Ob er etwas empfunden hatte, als sie sich geküsst hatten? Wie war es eigentlich dazu gekommen? Das fürchterliche Gefühl nicht gut genug für ihn zu sein, ließ meine Sicht wieder unklar werden. Noch bevor es zu schlimmeren kommen konnte, klarte ich sie wieder und setzte meinen Weg ins Ungewisse fort. Ich wollte so vieles wissen, doch ich wusste, dass ich alleine keine Antworten finden würde.
War sie hübscher wie ich? War es vielleicht nicht das erste Mal gewesen, dass so etwas passiert war? Ich konnte es einfach nicht verstehen. Niall bedeutete mir mehr wie alles andere auf der Welt – er war meine erste und einzige große Liebe. Schon Monate bevor wir zusammengekommen waren hatte ich gewusst, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Dass er allerdings den ersten großen Fehler begangen hatte, zeigte mir, dass er vielleicht noch nicht bereit für eine Beziehung war. Und diese Vermutung traf mich wie ein heftiger Schlag ins Gesicht.
Je weiter ich lief, desto verlassener wurden die Straßen. Ein weiteres verdrecktes Schild am Straßenrand verriet mir irgendwann, dass ich London nun verlassen hatte und mich auf einen Vorort zubewegte. Ich war mir sicher, dass Liam mich nicht finden würde. Schließlich hätte ich in jede Richtung verschwinden können und es war äußerst unwahrscheinlich, dass er genau den Weg genommen hatte, den ich wahllos gewählt hatte.
Die Dunkelheit verunsicherte mich nicht. Ich hatte keine Angst; nicht einmal davor, dass mir der merkwürdige Typ, der mich hatte überfahren wollen, eventuell gefolgt war. Nachdem was Liam mir beigebracht hatte, fühlte ich mich einigermaßen sicher.
Schlendernd betrat ich den Anfang einer Brücke. Drei Frachtschiffe glitten durch das schwarz aussehende Wasser und beleuchteten es stellenweise. Es war keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Als ich die Mitte der Brücke passiert hatte, kam mir eine Idee. Ohne groß darüber nachzudenken blieb ich stehen, schwang ein Bein über das Geländer und kletterte darüber. Dann hangelte ich mich etwa einen Meter nach unten, bis ich auf einem Vorsprung Halt fand. Schweigend setzte ich mich und ließ die Beine in der Luft baumeln. Auf einer unbestimmten Art und Weise beruhigte mich die Stille, die mich umgab, sehr.
Ich hatte schon oft in Filmen gesehen, wie sich Schauspieler auf meinen Platz gesetzt, und nachgedacht hatten. Doch selbst in schwindelerregender Höhe zu sitzen, mit nichts als einen gefährlichen Strom unter mir, bereitete mir ein wenig Panik, jedoch übertönte das Gefühl von Unbeschwertheit es so sehr, dass ich nicht mehr an die bestehende Gefahr herunter zu fallen, dachte.
Langsam ließ ich die Augen zufallen. Meine Haare, die nicht von der Mütze verdeckt wurden, wurden durcheinander gewirbelt, doch auch das war mir egal. Das einzige, das ich hörte, war das Rauschen des Windes und das Plätschern des Wassers weit unter mir. Alles fühlte sich einfach nur himmlisch an. Bis ich bemerkte, wie sich jemand neben mir niederließ. Ich brauchte nicht einmal die Augen zu öffnen, um zu wissen, wer es war. Wir schwiegen uns für eine Weile lang stumm an, bis ich letztendlich doch ein Auge öffnete und zu ihm herüber sah.
»Hast du lange gebraucht, um mich zu finden?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber du warst dieses Mal echt nicht schlecht.«
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ein Seufzen ging ebenfalls aus ihnen hervor, ehe ich meine Mütze zurecht rückte und dann ein weiteres Containerschiff unter uns beobachtete. Liam tat es mir gleich. Nach weiteren Momenten der Stille, zog er etwas aus der Jackentasche und drückte es mir schweigend in die Hand. Als ich sah, was es war, stutzte ich. Ich hielt nichts anderes wie ein Ben&Jerry’s Eis in der Hand, zu aller Krönung handelte es sich auch noch um meine Lieblingssorte.
»Das haben meine Schwestern immer gegessen, wenn sie Liebeskummer hatten.«
erklärte er mir, als er meinen fragenden Blick sah, und öffnete seins. Gerührt von der Idee, öffnete ich es auch und stach mit dem dazugelegten Holzlöffel hinein. Wie immer schmeckte es himmlisch.
Während wir aßen, schwiegen wir uns weiter an. Weder ich noch er wollten diesen angenehmen Moment ruinieren. Nachdem ich bei der Hälfte angekommen war, hörte ich mit einem Mal auf. Auf einer ziemlich abstrakten Art und Weise erinnerte mich das Eis an Niall.
Normalerweise aßen wir es immer zusammen, wenn einer von uns krank war und der andere ihn besuchte oder wenn wir zusammen Nächte verbrachten, in denen wir pausenlos die wohl so ziemlich schlechtesten Filme ansahen, die es geben konnte. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie verträumt ich ihn das letzte Mal angestarrt hatte, als wir uns eins geteilt hatten. Als er es bemerkt und mich gefragt hatte, was ich so fixierte, hatte ich ihn angelogen und gemeint, dass mich die Verpackung so fasziniert hatte, doch insgeheim waren es diese unglaublich schönen Augen gewesen, die mich in den Bann gezogen hatten.
Ohne, dass ich es wirklich mitbekam, stellte ich das Eis beiseite und fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen. Die Unwissenheit über den Kuss zerriss mich geradezu. Was wäre, wenn es ihm wirklich gefallen hatte? Oder wenn er sie geküsst hatte und es mir nur andersherum erzählt hatte, damit ich nicht allzu verletzt war? Mit dem Gesicht wieder von Liam abgewandt, schniefte ich kurz und biss mir anschließend auf die Unterlippe. Wieso hatte das bloß passieren müssen?
Ich wollte Liam gerade fragen, ob wir wieder nach Hause gehen konnten, als ich seine Stimme nah an meinem Ohr wahrnahm.
»Komm her.«
flüsterte er, keine Sekunde später, spürte ich, wie er seinen Arm um meine Schulter legte und mich zu sich heran zog. Ohne großartig zu zögern lehnte ich mich gegen ihn und vergrub mein Gesicht in seiner Jacke.
In diesem Moment war es mir egal, dass er mein Bodyguard war. Ich hatte jemanden gebraucht und er war da gewesen. Vielleicht war das auch der Grund, weswegen es mir nichts ausmachte, dass er seinen Kopf auf meinen legte und mit einer Hand beruhigend durch meine Haare fuhr, während ich leise vor mich hin weinte und versuchte alles zu verdrängen, was an diesem Tag geschehen war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top