🏳️‍⚧️ Hinter dem Sturm 🏳️‍⚧️

Diese Kurzgeschichte basiert auf einer Idee, die ich für den „Rewind the Classics" Wettbewerb hatte. Als Vorlage diente mir die Erzählung der "Kleinen Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen.

Vorsichtig zieht Elias die kleine Kiste unter seinem Bett hervor und schaut hinein. Es ist bereits tiefe Nacht, denn er möchte nicht, dass sein strenger Vater plötzlich hereinkommt und ihm seinen Schatz wegnimmt.

Sein Schatz, das sind ein Paar Murmeln, ein Rennauto, ein Plastikring mit rotem Diamanten aus dem Kaugummi-Automaten, eine Spielfigur von My Little Pony, ein Paar glitzernde Haarspangen, die Melina ihm geschenkt hat und noch viel mehr Zeug, das Elias um nichts in der Welt wieder hergeben würde.

Im Schein der Taschenlampe nimmt er die Haarspangen und setzt sich vor das spiegelnde Fenster, um die Spangen in seinem Haar zu bewundern. Sie glitzern so schön und doch hat er sie erst einmal bei Tageslicht gesehen, an dem Tag als Melina sie ihm das erste Mal gezeigt hatte.

Voller Freude hatte er sie seinem Vater gezeigt, der sie ihm sofort weggenommen und in den Mülleimer geworfen hatte. Als der Vater später eine Zigarette rauchen gegangen war, hatte Elias die Spangen mit zittrigen Fingern aus dem Mülleimer unter der Spüle geholt, wohl wissend, dass er Ärger bekommen würde, wenn sein Vater ihn dabei entdeckte.

Fortan zeigte er niemandem mehr seine Schätze, vor allem dann nicht, wenn sie glitzerten, oder „Mädchenfarben" hatten, wie sein Vater es immer wieder betonte, wenn Elias auf etwas Schönes zeigte oder als er sich ein pinkes Rennauto gewünscht hatte.

Auch die langen Haare hätten fast daran glauben müssen, bis Elias es endlich geschafft hatte, seinem Vater glaubwürdig zu versichern, er würde damit einem berühmten Fußballer nacheifern, der die Haare ebenso trug.

Zum Fußball ging Elias schon lange nicht mehr. Er ließ sich zwar weiterhin wie gewohnt mittwochs an der Turnhalle absetzen, doch sobald das blaue Auto wieder weggefahren war, ging er eine Straße weiter zum Tanzstudio, wo er zusammen mit ein paar jüngeren Kindern, fast ausschließlich Mädchen aus der dritten Klasse, Tanzunterricht nahm. Leider konnte er nie bis zum Ende bleiben, denn er musste vor Abschluss der Stunde noch zurück zur Turnhalle laufen, wo sein Vater ihn wieder einsammeln würde.

Eines Tages hatte es während der Tanzstunde so heftig angefangen zu schütten, dass Elias bis auf die Unterhose durchnässt war, als sein Vater ihn wieder eingesammelt hatte. Zwei Wochen hatte der Junge mit einer Lungenentzündung im Bett gelegen und war dem Tod dabei nur knapp entkommen.
Der besorgte Vater hatte wütend beim Fußballtrainer angerufen und eine Erklärung dafür verlangt, dass er den Jungen bei dem Regen nicht hatte in der Halle warten lassen. Dabei enthüllte sich ungewollt das Geheimnis, dass Elias schon seit langem nicht mehr beim Training aufgetaucht war.

Seitdem hat der Vater ein sehr wachsames Auge auf den Jungen und achtet darauf, dass er sich in seiner Welt aufhält und nicht von der anderen Welt verleitet wird.

Doch heute kann Elias nicht darauf verzichten, sich den Schmuck seines Schatzkästchens anzusehen. Heute muss er mal wieder spüren, wie es sich anfühlt, schön zu sein.
Mit einem Lächeln streicht Elias seine Haare beiseite und holt den blauen Lidschatten aus der Kiste, den er vor einigen Wochen im Drogeriemarkt geklaut hat. Andächtig lässt er den Finger über den pudrigen Inhalt wandern und benetzt dann vorsichtig seine Augenlider. Nicht zu viel, damit er es schnell wieder abbekommt, aber schon genug, damit er es in der Spiegelung der Scheibe sehen kann.

Ach, wenn er doch einfach nur ein Mädchen sein könnte! Wenn er doch auch schöne Kleider statt Hosen und Schläppchen statt Stollenschuhe tragen dürfte.

Nichts wünscht er sich sehnlicher, als nicht mehr Elias zu sein. Wenn sein Vater ihn doch nur lassen würde. Wenn er verstehen würde, wie sehr ihn diese Welt da draußen faszinierte. Wie sehr ihn die Mädchen beim Tanzen faszinierten. Er würde einfach nur Elli sein. Und den ganzen Tag tanzen, in Schläppchen und mit geschminkten Lippen, wie die seiner Tanzlehrerin.

Bei dem Gedanken tänzelt Elli beschwingt und auf leisen Sohlen durch den Raum, sich ganz der schönen Vorstellung hingebend, sie selbst zu sein.
Ihr Wunsch, sich endlich im richtigen Körper wiederzufinden, ist in den letzten Monaten stark gewachsen. Sie war sogar ein paar Mal bei ihrer Vertrauenslehrerin, die ihr erklärt hat, dass es Möglichkeiten gibt. Möglichkeiten, etwas zu ändern.

Als Elli einmal vorsichtig ihrem Vater von der neuen Lehrerin erzählte, beschimpfte er sie als alte Hexe. Dieser ganze „Psycho Quatsch" wäre doch bloß moderner Hokuspokus und Elias sollte bloß nie wieder zu dieser Frau gehen.

Plötzlich erstarrt Elli in der Bewegung. Sie hört ein Geräusch und will schnell unter die rettende Bettdecke flüchten. Doch da fliegt bereits die Tür auf und das Licht vom Flur beleuchtet Elias Gesicht und die Spange im Haar. Tiefe Falten legen sich auf die Stirn des Vaters und er hebt die Hand, um seinen Sohn zur Vernunft zu bringen. Elias will fliehen, rennt über das Bett zum Fenster und drückt den Hebel. Doch sein Vater ist schneller und er reißt Elias so heftig zurück, dass er strauchelt und mit dem Kopf auf die steinerne Fensterbank knallt.

Elias wird kurz schwarz vor Augen und er sinkt auf dem Bett zusammen. Eine rote Pfütze bildet sich auf seiner Bettdecke und er hört den Vater fluchen. Dann fällt er in einen traumlosen Schlaf.

Elias muss zwei Wochen im Krankenhaus bleiben. Er hat eine Platzwunde am Kopf und eine Gehirnerschütterung. Als Melina ihn besuchen kommt, bittet er sie, seine Lehrerin zu fragen, ob sie ihn besuchen kommen könne. Heimlich natürlich.
Melina hilft gerne und schenkt Elias zum Abschied zwei neue Haarspangen.

Elias Lehrerin kommt schon am nächsten Tag und hat zwei Freunde dabei.
Sie erklärt, dass man versuchen könnte, für Elias vorerst eine andere Unterkunft zu finden, damit er nicht wieder nach Hause muss.
Sie stellt ihm außerdem den Arzt vor, der mit ihm darüber reden möchte, was man tun könnte, um Elias bei seinem Wunsch zu unterstützen.
Stumm nickt der Junge, denn er kann sein Glück über diese Möglichkeiten kaum fassen. Lächelnd nimmt er die Angebote an.

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Monate gehen ins Land. Elli ist inzwischen gut in der neuen Wohngemeinschaft angekommen. Sie teilt sich das Zimmer mit Toni, die auch von Zuhause geflohen ist. Sie ist schon sechzehn und sieht aus, wie ein richtiges Mädchen. Nur Elli und Toni wissen, dass sie noch nicht komplett sind, wenn sie in ihren Sommerkleidern durch den Park spazieren und den Jungen beim Fußballspielen lächelnde Blicke zuwerfen.
Noch nie in ihrem Leben, hat sich Elli so frei gefühlt.

Eines Tages rollt Elli beim Spazieren im Park ein Ball vor die Füße. Sie hebt ihn auf und sieht plötzlich in das Gesicht eines netten Jungen. Er lächelt sie an und Elli spürt, wie ihr Gesicht auf einmal warm wird, vor lauter Aufregung. Der Junge stellt sich als Erik vor und fragt Elli, ob sie Spazieren gehen wollen.

Und so treffen sich Elli und Erik nun öfter und verbringen viel Zeit miteinander. Erik ist sehr nett zu Elli und manchmal nimmt er ihre Hand, wenn sie im Park spazieren gehen oder spendiert ihr ein Eis, wenn die Sonne mal wieder sehr warm scheint. Elli fühlt sich sehr wohl bei ihrem neuen Freund und auch Erik gesteht Elli irgendwann, dass er sie sehr gerne hat.

Eines Tages treffen sie im Park zufällig einen alten Klassenkameraden von Elli und da passiert es. Der Junge spricht Elli mit Elias an und Erik, der verwirrt nachfragt, was das zu bedeuten habe, realisiert, dass seine Freundin körperlich noch sein Freund ist.

Elli, die Eriks enttäuschtes Gesicht nicht ertragen kann, rennt Hals über Kopf zurück in die Wohngemeinschaft und schleicht sich in die Küche. In einer dieser Schubladen vermutet sie das lange Filitiermesser, das so wunderbar scharf ist. Sie hat keine Kraft mehr zu warten, bis ihr Vater ihrer Operation zustimmt. Sie braucht die Veränderung jetzt!

In der dritten Schublade wird sie endlich fündig. Das Messer liegt leicht und glänzend in Ellis Hand. Ein Schnitt und sie wäre einen großen Schritt näher an ihrem Ziel, endlich kein Junge mehr zu sein.
Entschlossen hebt Elli ihren Rock an und zieht sich die Unterhose über die Beine.

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Blaulicht und Sirenen tönen durch die Straßen, als sie auf die Wohnanlage fahren und zwei Sanitäter im Laufschritt in die Küche rennen, wo sich der Unfall ereignet hat.

Als sie das Mädchen endlich auf einer Liege herausfahren und in den Krankenwagen bringen, hat Erik die schlimme Nachricht bereits erreicht. Er steht mit Tränen in den Augen neben Toni, die seine Hand hält und blickt mit schmerzendem Herzen dem Blaulicht hinterher, das Sekunden später hinter der nächsten Straßenecke aus seinem Blickfeld verschwindet.

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Elli ist dem Tod erneut nur knapp entkommen. Als sie endlich Besuch empfangen kann, ist Erik einer der Ersten, der sie besucht. Er weint, als er sie sieht, mit tausend Schläuchen und einem piependen Gerät neben sich. Er nimmt ihre Hand und beteuert, dass er sie mag, so wie sie ist und dass sie sich für ihn nicht verändern müsse.

Sie erklärt ihm, dass sie dies nicht für ihn mache und sich schon sehr lange nicht mehr wie sie selbst fühle. Als er geht, verspricht er, am nächsten Tag wiederzukommen und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.

Am nächsten Tag kommt ihr Vater und bringt ihr Blumen mit. Ihre Lehrerin ist bei ihm und er weint, als er seine Tochter in die Arme schließt. Er hat die Unterlagen für die erlösende Operation unterschrieben und verspricht ihr, von nun an hinter ihr zu stehen. Bevor er geht, steckt er ihr zwei glitzernde Spangen in die Haare und flüstert:
„Ich hab dich lieb, Elli!"

⭐️ Ca. 1.550 Wörter ⭐️

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