Teil 8
Ein wenig verblüfft sah Sydney sich in dem kleinen Häuschen um, in das das Mondauge Veritas sie geführt hatte. Der Boden bestand aus der gleichen, festen Erde wie vor der Haustür, und alles wirkte klein, ein bisschen eng, aber unglaublich gemütlich. Überall flackerten Kerzen, die, wenn man genauer hinsah, von einem bläulichen Schein umgeben waren. Sydney vermutete, dass es die Magie der Mondaugen war.
Toronto war in dem Häuschen neben ihr untergekommen. Veritas hatte sich bei ihm nicht die Mühe gemacht, ihn hinein zu führen, was die Blutträne zu dem Schluss kommen ließ, dass er wohl schon öfter dort gewohnt hatte.
Langsam setzte Sydney ihren schmalen Rucksack ab. Beinahe ehrfürchtig strichen ihre Finger über die Wände des Häuschens. Das Holz war warm, und hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gesagt, dass es lebendig war. Wenn man durch die Haustür hereinkam, betrat man direkt die Küche. Töpfe und große Holzlöffel hingen fein säuberlich an der Wand, und von der Decke baumelten duftende, getrocknete Kräuter. Eine Holzplatte direkt unter dem Fenster neben der Tür, bildete die Arbeitsfläche. Eine Feuerstelle neben der Platte, sowie ein großer, flacher Stein zeigten Sydney, dass es hier noch relativ ursprünglich zuging. Ihrer Mutter hätte das gefallen.
Sydneys Herz zog sich schmerzhaft zusammen, doch sie vertrieb das Gefühl mit einem energischen Kopfschütteln, und ging durch die linke Tür, hinter der ein Badezimmer wartete. In der Mitte des Raumes war eine große Holzwanne, und daneben ein Bottich mit frischem lauwarmen Wasser. Sydney entdeckte einige Steine, die vermutlich dazu gedacht waren, um das Wasser aufzuheizen. Ein kleines Lächeln stahl sich aus unerfindlichen Gründen auf ihre Lippen, dann verließ sie den Raum wieder und trat durch die zweite Tür. Ein großes Doppelbett wartete dort mit weißen Decken und Kissen, die die junge Rebellin sofort daran erinnerten, wie müde sie eigentlich war.
Für einen winzigen Moment zögerte sie. War sie hier wirklich sicher? Konnte sie den Mondaugen vertrauen? Andererseits hatte Toronto niemals ein schlechtes Wort über diese magische Spezies verloren, und so verwarf sie alle schlechten Gedanken, und zog ihre verschmutzten, staubigen Klamotten aus. Trotz ihrem Beschluss, dass die Mondaugen keine Gefahr darstellten, nahm sie ihren besten Dolch zur Hand. Sie hüllte ihren Körper in ein Badetuch, das sie in einem kleinen Schrank gefunden hatte, und ging zurück in das Zimmer mit der Holzwanne. Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich. Erst jetzt fielen ihr die unzähligen Kerzen auf, die sich auch hier befanden, und wenige Augenblicke später entdeckte sie auch die Feuerstelle, auf der sie die Steine erwärmen konnte.
Mit geübten Handgriffen entfachte Sydney mithilfe einer Kerzenflamme die Hölzchen. Gierig leckten die Flammenzungen auch an den größeren Scheiten, und Sydney legte die Steine in die Glut. Während sie sich aufwärmten, begann Sydney damit, dass Wasser in die Holzwanne zu füllen. Nach und nach stieg der Wasserspiegel, bis die Wanne genug gefüllt war. Sydney holte mithilfe einer Zange die heißen Steine aus dem Feuer, legte sie in das Wasser und löschte die Flammen, die sie entfacht hatte. Jetzt erleuchtete nur noch der Schein der Kerzen den kleinen Raum und Sydney überkam ein wohliges Gefühl.
Mit einem Zeh prüfte sie die Wassertemperatur, dann stieg sie gänzlich hinein, achtete dabei aber darauf, nicht in Berührung mit den Steinen zu kommen. Die Rebellin ließ sich so tief hinabsinken, bis ihr Kinn die Wasseroberfläche berührte und die Kette, an dem der Ring mit dem Rubin hing, im Wasser zu schweben schien. Die Blutträne schloss die Augen. Ihre Muskeln, die von der jahrelangen Arbeit bei den Rebellen verspannt waren, lockerten sich und ein leiser Seufzer kam über Sydneys Lippen. Niemals hatte sie eine solche Geborgenheit gespürt, wie an diesem Ort.
Ein sanfter, leicht süßlicher Duft schien mit einem Mal von dem Wasser auszugeben. Das musste an den Blüten liegen, die zuvor in dem Wasser geschwommen waren. Träge richtete Sydney sich wieder auf und begann damit, sich die Haare zu waschen. Sie dachte an rein gar nichts mehr. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich wieder vollkommen wohl in ihrer Haut.
~🩸~
Ein Geräusch ließ Sydney aus ihrem leichten Schlaf zusammenfahren und mit einem Satz war sie aus der Wanne gesprungen. Sie konnte es nicht glauben, dass sie tatsächlich eingenickt war! Wütend auf sich selbst schlang Sydney das Tuch um ihren Körper und packte ihren Dolch. Ihre Haut war schrumpelig von der ganzen Zeit im Wasser und sie war noch ein wenig benommen, doch sie blinzelte ein paar Mal heftig und legte dann ihr Ohr an die Tür. Wenn sie sich nicht täuschte, hörte sie Schritte vor dem Baderaum.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Wer auch immer dort draußen war, es führte ihr vor Augen, dass sie sich ganz und gar nicht hier sicher fühlen konnte. Ein bitterer Geschmack legte sich auf ihre Zunge bei diesem Gedanken. Nirgendwo war sie vollkommen sicher. Ihr Griff um den Dolch verstärkte sich, als sie die Schritte erneut hörte. Sie atmete tief durch, dann riss sie die Tür auf und griff das Mondauge direkt an, das vor ihrer Tür stand. Das Mondauge, eine Frau, wie Sydney später feststellte, stieß einen spitzen Schrei aus und ließ den Stapel an Klamotten fallen, den sie im Arm getragen hatte. Schnell drehte Sydney den Dolch von der Frau weg und funkelte sie an.
„Dankbarkeit gegenüber eurer Gastfreundschaft hin oder her, was fällt euch ein, einfach hier hineinzukommen? Hat man euch nicht gesagt, dass es gefährlich ist, einen Rebellen zu überraschen?"
Die Frau starrte sie an, dann bückte sie sich und hob die Klamotten auf. Sydney half ihr dabei, dann standen sie sich wieder Auge in Auge gegenüber.
„Es tut mir leid, wenn ich dich verschreckt habe", sagte das Mondauge und blinzelte die Rebellin aus großen bernsteinfarbenen Augen an. „Bei uns herrschen andere Regeln, was unsere Privatsphäre angeht." Die junge Frau senkte den Kopf, die Wellen ihrer langen weichen Haare flossen über ihren blauen Körper. Erst jetzt bemerkte Sydney, dass auch sie nichts am Oberkörper trug, genau wie Veritas.
„Schon in Ordnung", sagte Sydney und stieß den Atem aus. „Mein Name ist Sydney." Sie reichte dem Mondauge ihre Hand.
Die schöne Frau starrte sie fasziniert an. Sydney seufzte, konnte ein Lächeln aber nicht verbergen. „Bei uns ist es geläufig, jemandem die Hand zu geben. Es ist ein Zeichen des Vertrauens und der Freundlichkeit."
Fasziniert nickte das Mondauge und ergriff Sydneys Hand. Die Finger der blauen Frau waren schmal und feingliedrig, und Sydney befürchtete fast, ihr die zarten Knochen zu zerbrechen, als sie ihr die Hand schüttelte.
„Mein Name ist Amabilia." Das Mondauge lächelte. „Darf ich dir zeigen, was bei uns Brauch ist, um jemandem sein Vertrauen zu zeigen?"
Die Rebellin runzelte die Stirn, nickte dann aber. Vorsichtig trat Amabilia einen Schritt vor, legte ihre Finger an Sydneys Gesicht und legte ihre Lippen dann sanft auf die der Blutträne. Sydney erstarrte, doch dann hatte Amabilia sich bereits von ihr gelöst und lächelte zaghaft. „Ich hoffe, es hat dich nicht zu sehr verwirrt", sagte das Mondauge und betrachtete sie weiterhin mit unverhohlener Neugier.
Sydney blinzelte mehrmals, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich... es ist alles ok. Nur etwas ungewohnt, weißt du", sagte sie und lächelte ebenfalls. Dann folgte sie einer Intuition und sagte: „Wenn Du möchtest kannst du noch ein wenig bei mir bleiben und... naja, dich mit mir austauschen. Über unsere Arten."
Strahlend nickte das Mondauge. „Das würde ich sehr gerne. Hier", sie reichte Sydney die Klamotten, „du kannst das hier anziehen."
Dankend nahm Sydney die Sachen entgegen und ging in ihr Zimmer, Amabilia folgte ihr auf Schritt und Tritt. Die Blutträne räusperte sich. „Ich denke mal, dass du es nicht weißt, aber... wenn wir uns umziehen, dann..."
„Oh." Das Mondauge nickte verstehend. „Wieder so eine Sache der Privatsphäre, richtig?"
„Richtig", bestätigte Sydney. „Einen Moment, ich brauche nicht lange."
Wieder nickte Amabilia und trat ein paar Schritte zurück. Sydney lächelte ihr noch kurz zu, dann schloss sie die Tür hinter sich und warf die Sachen auf das große Bett. Noch völlig überwältigt setzte sie sich auf die Kante und starrte gegen die Wand.
Amabilia war faszinierend. Diese gesamte Spezies schien ein einzige Lebensform voller Überraschungen zu sein. Sydney fragte sich, warum sie nie daran gedacht hatte, dass die Mondaugen auch anders leben könnten, als die Menschen es taten. Sie hatte immer angenommen, es wären einfach normale Menschen, die die Magie des Mondes leiten konnten, aber sie hatte sich geirrt.
Mit einem Ruck befreit Sydney sich aus ihren abschweifenden Gedanken und zog die Kleidung über, die Amabilia ihr gebracht hatte. Sie war schlicht aber bequem und die Rebellin war sich sicher, dass sie darin ruhig würde schlafen können. Kurz spielten ihre Finger mit der Kette an ihrem Hals, dann ließ sie das fein gearbeitete Silber unter dem weißen Stoff verschwinden.
„Du kannst hereinkommen", sagte sie in Richtung Tür, und als hätte die junge Frau nur darauf gewartet, steckte sie den Kopf ins Zimmer. Schnell folgte der ganze Körper, dann schloss das Mondauge die Tür und setzte sich neben Sydney aufs Bett. Interessiert musterte Amabilia die Blutträne und sagte dann: „Wie haltet ihr es bloß unter all den Schichten an Stoff aus? Wie könnt ihr euch frei bewegen und wie kann eure Haut darunter atmen?"
Sydney stieß unter all den Fragen ein kurzes Lachen aus. „Also zu allererst: Es kommt sich ganz auf die Art der Kleidung an, wie frei wir uns bewegen können. Manche sind eher hinderlich, und andere sind angepasst wie eine zweite Haut."
„Wozu braucht ihr denn eine zweite Haut, wenn ihr doch schon eine habt?", unterbrach Amabilia sie und musterte sie neugierig.
Für einen kurzen Moment war Sydney aus der Bahn geworfen. „Nun, das ist eine berechtigte Frage. Wie Menschen mögen die Sicherheit, die es uns gibt, wenn wir unseren Körper bedecken. Und zum anderen liegt es daran, dass Kleidung uns vor allem in den kälteren Jahreszeiten schützt."
„Dann stimmt es wirklich? Ihr seid so dermaßen temperaturempfindlich?"
„Ihr nicht?", entgegnete Sydney erstaunt.
„Oh nein", lachte Amabilia. „Uns machen die verschiedenen Temperaturen nichts aus. Wir fühlen uns sowohl bei der beißendsten Kälte als auch bei der brennendsten Hitze vollkommen wohl."
Ein begeisterter Laut kam Sydney über die Lippen. „Das muss unglaublich praktisch sein. Nun ja, das erklärt auch, wieso ihr nur so viel Kleidung tragt, wie unbedingt nötig."
Amabilia nickte. Dann legte sie den Kopf schief und sah Sydney ins Gesicht. „Was ist das Rote dort auf deiner Wange?" Mit ihrem Zeigefinger tippte sie sanft auf die Stelle, wo das Tattoo der Bluttränen prangte.
„Das ist eine Tätowierung. Jeder, der den Bluttränen angehört, hat so eine, an verschiedenen Körperstellen. Sie zeigen, dass wir zusammengehören."
Amabilia nickte wieder, als hätte sie das bereits gewusst. „Wie bist du zu den Rebellen gekommen?" Ihre bernsteinfarbenen Augen lagen mit einem beinahe kindlichen Leuchten auf Sydneys Gesicht. Das Mondauge wollte so viel von ihr erfahren, wie nur irgendwie möglich. Aber bei dieser Frage musste Sydney schlucken. Normalerweise begab sie sich nicht gerne in die Vergangenheit.
„Als die Königin den Befehl gab, die Städte und Dörfer zu zerstören, wurde meine Familie getötet. Ich überlebte durch reinen Zufall." Sydney schluckte und blinzelte die Tränen fort, die in ihre Augen gestiegen waren. „Jedenfalls konnte ich fliehen. Ich irrte lange herum, und als ich irgendwann am Ende meiner Kräfte angelangt war, fand Toronto mich. Ich weiß nicht, was er in mir gesehen hat, vielleicht hatte er auch einfach nur Mitleid, jedenfalls nahm er mich sofort bei sich auf. Und so bin ich dann später eine Rebellin geworden."
Die Bernsteinaugen Amabilias waren so voller Mitgefühl, dass Sydney beinahe doch angefangen hätte, zu weinen. „Wie alt warst du damals?", fragte das Mondauge leise.
„F-fünfzehn", flüsterte Sydney.
Amabilia griff nach Sydneys Hand und drückte sie sanft. „Ich vergesse immer, dass ihr Menschen nicht so lange lebt, wie wir. Bei uns wärst du noch fast ein Baby gewesen."
Sydney blinzelte und fragte dann irritiert: „Wie meinst du das?"
„Ich würde behaupten, dass wir umgerechnet im selben Alter sind, aber im Gegensatz zu dir wandle ich schon seit einundvierzig Jahren auf diesem Boden."
Und Sydney konnte nicht anders, als den Mund aufzuklappen.
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