Teil 22

Eine ganze Weile blieb Sydney reglos liegen und starrte an die Decke, in der Hoffnung, dass ihr das dabei helfen konnte, ihre wirren Erinnerungen zu ordnen.

Dabei strich sie gedankenverloren über ihren unverletzten Oberarm. Nicht einmal eine Narbe spürte sie unter ihren rauen Fingern. Die Haut war weich und glatt, das einzige, was sie dort vorfinden würde, war ein heller Streifen, der von der tiefen Verletzung zeugte.

Plötzlich knarzte Holz leise, und Sydney wandte den Kopf als Amabilia leise in das Zimmer trat.

„Wie geht es dir?", fragte sie mit leiser Stimme und setzte sich beinahe zögerlich an ihr Bett.

Schwerfällig richtete die Rebellin sich auf und fuhr sich über das strohige Haar. Mehrmals setzte sie an, dem Mondauge zu antworten, doch erst beim dritten Anlauf schaffte sie es tatsächlich, zusammenhängende Worte herauszubringen.

„Ich... ich weiß es nicht." Sie stockte und rieb sich über das Gesicht, als könnte sie so ihre Sinne zusammenhalten.

Sanft legte Amabilia eine Hand auf ihre. „Du warst stark verletzt. Die Heilung hat all deine Kraft aufgebraucht. Gib dir ein wenig Zeit, zu regenerieren, und du wirst wieder ganz die Alte sein." Beruhigend lächelte sie die junge Frau an.

Sydney nickte nur und schloss erschöpft die Augen. In ihrem Kopf herrschte gleichzeitig eine kaum zu greifende Leere und eine ungeheure Flut an Informationen, was es ihr schwer machte, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen.

Doch plötzlich schoss ihr etwas in den Kopf, dass sie auf einen Schlag hellwach machte.

„Wo ist Calgary? Geht es ihm gut?"

Hörbare Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit und Übelkeit machte sich in ihr breit, als sie daran dachte, wie die Knochensklaven sie umzingelt hatten. Wie ihre stumpfen Schwerter ihre Haut aufgerissen hatten.

Ein Zittern erfasst die Blutträne und sich schlang schutzsuchend die Arme um ihre Knie. Lange hatte sie sich nicht mehr so hilflos gefühlt, wie in diesem Augenblick.

Beruhigend fasste Amabilia nun beide Hände der Rebellin und zwang sie so, ihr ins Gesicht zu sehen.

„Es geht ihm gut. Die Heiler haben sich um ihn gekümmert und er schläft gerade. Genau wie du, ist er jetzt erschöpft, aber auch er wird sich davon erholen."

Sydney konnte nur nicken. Erschöpfung übermannte sie wieder und sie sank zurück in ihr Kissen.

„Ich hole dir etwas zu essen. Du musst ja ausgehungert sein."

Amabilia machte Anstalten, aufzustehen, doch Sydney hielt sie noch einmal zurück.

„Wenn er wach wird, sagst du mir dann Bescheid?" Die verschiedenfarbigen Augen fixierten das Mondauge trotz der offensichtlichen Kraftlosigkeit.

Amabilia nickte sanft. „Natürlich. Mach dir keine Sorgen."

Dann verließ sie das Zimmer und ließ Sydney alleine mit ihren Gedanken zurück.

~🩸~

Viele Tage lang verbrachte Sydney in ihrem Bett. Sie stand nur auf, um sich zu waschen, dann kehrte sie zurück in die weichen Laken und fiel beinahe sofort in einen unruhigen Schlaf.

Amabilia brachte ihr regelmäßig Essen und Wasser und berichtete ihr von Zeit zu Zeit, was im Dorf geschah. Die Mondaugen waren momentan emsig damit beschäftigt, die Schutzkuppel über dem Dorf zu verstärken, und die Schäden zu beheben, die der Kampf verursacht hatte.

Ignis hatte sich, nachdem klar geworden war, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte, zurückgezogen und hatte die Knochensklaven den Mondaugen und den Rebellen überlassen.

Da diese alle an der Kuppel versammelt gewesen waren, war es den Mondaugen ein leichtes gewesen, die restlichen Knochensklaven zu vernichten.

Davon hatte Sydney jedoch nichts mehr mitbekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Toronto und Soweto die beiden Bewusstlosen bereits auf ihre Pferde gepackt und waren mit ihnen davon galoppiert.

Auch nach Toronto hatte Sydney gefragt. Er musste noch das Bett hüten, denn bei dem Kampf hätte er um ein Haar ein Auge verloren, wenn die Heilkünste der Mondaugen nicht gewesen wären. Aber er lebte und er war wohlauf, und das war das Einzige, was für Sydney in diesem Moment zählte.

Nach zwei Wochen kam Amabilia mit einem freudigen Lächeln in Sydneys Zimmer. Sofort setzte diese sich auf. Mittlerweile waren ihre Kräfte halbwegs zurückgekehrt und sie war es leid, in ihrem Bett zu hocken, und nichts zu tun.

Sie konnte regelrecht spüren, wie sehr sie außer Form geraten war, und das behagte ihr gar nicht. Sie fühlte sich schwach und verletzlich, ein Zustand, den sie nicht akzeptieren konnte und wollte.

Nun aber spürte sie, wie bei Amabilias Lächeln schlagartig die Energie in ihren Körper zurückkehrte.

„Calgary ist wach", sagte das Mondauge ohne Umschweife. „Er hat nach dir gefragt."

Sydneys Augen begannen zu leuchten, und Amabilias Herz wurde um einiges leichter. Sie hatte den Anblick der trübselig aussehenden jungen Frau kaum ertragen können, und nun ihr frohes Gesicht zu sehen, erfüllte sie mit einem warmen Gefühl des Glücks.

„Wirklich? Geht es ihm gut?" Sydneys Stimme war ganz rau, denn sie hatte in den letzten Wochen nicht viel gesprochen.

„Er ist gerade erst aufgewacht, aber ja, ich denke, es geht ihm gut", sagte das Mondauge beschwichtigend. „Sollen wir zu ihm gehen?"

Sydney nickte und ließ sich von Amabilia aufhelfen. Ihre Beine waren durch das viele Liegen schwach und zittrig geworden, doch in diesem Moment störte es die Rebellen weniger, als es sie vielleicht unter anderen Umständen gestört hätte. Denn der Gedanke, Calgary wiederzusehen, erfüllte sie mit einer solchen Freude, dass es das einzige war, auf das sie sich konzentrieren konnte.

Als sie aus dem Haus trat, hatten sich dort unzählige Mondaugen versammelt. Perplex blieb Sydney stehen. Alleine Amabilias fester Griff hielt sie davon ab, bei dem Anblick zu straucheln.

Es dämmerte bereits und das diffuse Licht ließ die tiefblaue Haut der Mondaugen unwirklich leuchten. Die gelben Augen, die in den unterschiedlichsten Tönen leuchteten, blickten ihr teils neugierig, teils aber auch respektvoll entgegen.

„Du giltst jetzt als Heldin, weil du dich für unser Dorf so aufgeopfert hast und weil du beinahe dein Leben für das deines Freundes gegeben hättest", flüsterte Amabilia der jungen Rebellin ins Ohr.

Ein Kloß hatte sich in Sydneys Hals gebildet, der es ihr unmöglich machte, zu sprechen. Diese Aufmerksamkeit und Bewunderung hatte sie doch gar nicht verdient. Sie hatte die Ignis und die Knochensklaven nicht aufhalten können. Und sie hatte nicht verhindern können, dass Calgary schwer verletzt worden war. Ihre Trainingsfortschritte waren dahin.

Langsam, schwer auf Amabilia gestützt, ging Sydney an den Mondaugen vorbei, die respektvoll ihre Blicke senkten, als sie an ihnen vorbeiging. Unbehagen machte sich in Sydney breit, doch sie ignorierte das Gefühl und konzentrierte sich einzig und allein auf die Hütte, in welcher die Person wartete, nach der sie sich gerade am meisten sehnte.

Der Weg war kurz, und doch schien er unendlich zu sein. Bereits nach wenigen Schritten verspürte sie das Bedürfnis, sich hinzusetzen um sich auszuruhen, doch das kam nicht in Frage.

Sie musste, nein sie wollte zu Calgary.

Als sie die Hütte erreicht hatte, standen Schweißperlen auf ihrer Stirn und ihr keuchender Atem hörte sich ungewöhnlich laut an.

Die Blutträne bemerkte den besorgten Blick ihrer Begleiterin nicht, als sie mit schweren Schritten auf das Schlafzimmer der Hütte zutrat.

Da war er. Calgary. Er lehnte sitzend an einem Kissen und sah sofort auf, als er ihre Schritte vor der Tür hörte. Neben ihm saß Soweto auf einem steifen Holzstuhl. Ringe unter den Augen, die der tiefsten Nacht glichen, zeugten von den unzähligen Nächten, die er am Bett seines Schützlings verbracht hatte.

„Bin froh, dich auf den Beinen zu sehen, Mädel", begrüßte Soweto sie.

Er sah so erschöpft aus, dass Sydney ihm eine Hand reichte, die daraufhin in seien nahm und sanft drückte.

„Komm mit", sagte Amabilia zu Soweto und half ihm von dem Stuhl auf. „Lassen wir die beiden einen Moment alleine."

Soweto warf Calgary noch einen letzten besorgten Blick zu, bevor er mit dem Mondauge die Hütte verließ.

Die beiden zurückgebliebenen Rebellen hörten noch, wie Amabilia versuchte, dem abweisenden Rebellen eine warme Mahlzeit schönzureden, dann verloren sich ihre Stimmen und Schritte in der einbrechenden Nacht.

Sydneys Blick legte sich auf Calgary, und sie ließ sich, plötzlich wieder vollkommen kraftlos, auf seine Bettkante sinken.

In den Wochen, in denen sie sich nicht gesehen hatten, hatte er sich stark verändert.

Seine eigentlich kurzgeschorenen Haare waren gewachsen und fielen ihm nun fast bis in die Stirn. Er war schmal geworden und wirkte beinahe zerbrechlich, und Sydney traten Tränen in die Augen.

Calgary lächelte und hob eine zittrige Hand, um sie auf ihre zu legen. Auch sein Lächeln hatte an Kraft verloren und war nur noch ein bleicher Abglanz von dem, was er sonst zur Schau zu tragen pflegte. Seine braunen Augen, die sonst stets mit einem leicht neckischen Funkeln geglänzt hatten, waren nun trüb.

„Sydney", sagte Calgary leise und mit brüchiger Stimme.

Beim Klang ihres Namens hätte sie sich am liebsten zusammengekauert und ihren Tränen freien Lauf gelassen, doch sie riss sich zusammen und lächelte nur ihren Kampfpartner an.

„Du hast dich verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe."

Seine Stimme war rau, wie ein Stück Holz, das mit Sand bearbeitet worden war.

„Du auch", erwiderte sie nur, mit einem Klang, der seinem nicht unähnlich war. Energielos und matt, und doch voll unendlicher Freude, den jeweils anderen nun anblicken zu können.

„Danke, dass du mir den Arsch gerettet hast", flüsterte Calgary mit einem leisen Lachen und strich mit dem Daumen kurz über ihren Handrücken.

Sydney schauderte sichtbar. „Ich... das war ich nicht, Calgary. Ich habe dich nicht gerettet. Ich habe uns beide fast in den sicheren Untergang befördert..."

Ihre Stimme brach weg und sie musste mehrmals schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. Sie merkte kaum, dass ihr mittlerweile frische, salzige Tränen über die Wange liefen.

„Ich habe mich überschätzt und wären die anderen nicht gewesen, wären wir jetzt nicht hier. Es tut mir so leid, Calgary, aber ich- ich konnte nicht einfach nichts tun, und-"

„Sydndy", unterbrach Calgary sie sanft, aber bestimmt. „Es ist nicht deine Schuld. Du hast mir das Leben gerettet, und dafür werde ich dir immer dankbar sein, hörst du?"

Sie drehte ihren Kopf weg, unfähig, ihm in die verständnisvollen Augen zu sehen. Um ein Haar wären sie beide wegen ihrer übergroßen Selbstüberzeugung gestorben. Zwei Leben, einfach ausgelöscht durch einen dummen Fehler.

Die Rebellin konnte nicht verhindern, dass ein tiefes Schluchzen ihrer Kehle entwich. Sie krümmte sich zusammen.

„Sydney", murmelte Calgary und griff nach ihren Schultern, um sie an seine Brust zu ziehen.

Weinend sank sie zusammen, während Calgary sie hielt und sein Kinn vorsichtig auf ihrem Kopf ablegte.

Immer wieder streichelte er mit dem Daumen über ihren Oberarm, dabei zitterte seine Hand so stark, als hätte er nie etwas Kräftezehrenderes getan.

Dabei flüsterte er immer wieder ihren Namen in die nun undurchdringliche Dunkelheit- als gäbe es nichts, was er der Nacht liebe anvertrauen wollte, als den Klang dieses Wortes.

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