Teil 21
Sydneys Muskeln zitterten und Schweiß lief ihren Rücken hinab, während Rubinregen immer noch im gestreckten Galopp über die Wiese jagte. Immer näher kamen sie der Barriere, deren durchsichtige, schimmernde Oberfläche momentan von gleißendem Mondlicht erhellt wurde und die Rebellin blendete. Doch sie sah auch etwas, dass einen Hoffnungsschimmer in ihr erweckte. Unzählige Gestalten drängten sich wie eine Mauer gegen die Schutzhülle des Dorfes der Mondaugen.
Kurz bevor sie nah genug dran war, um die Knochensklaven töten zu können, brachte sie Rubinregen zum Halten. Schaum sammelte sich vor seinem Maul und das rote Fell war klatschnass. Sydney glitt von seinem Rücken und wäre beinahe eingeknickt, als sie den festen Boden unter ihren Füßen spürte.
„Danke, mein Kleiner", flüsterte die Rebellin und legte ihre Stirn an die des völlig erschöpften Tieres. Dann wischte sie ihre Hände an der Hose ab und drehte sich um.
Noch hatten die Knochensklaven sie nicht bemerkt, zu beschäftigt waren sie damit, von einer unbekannten Macht getrieben, die unsichtbare Mauer zu durchbrechen. Ihre einfachen, unverzierten Stahlschwerter hieben gegen die Barriere. Jetzt wusste Sydney, woher die Druckwellen kamen, die sich über die gesamte Kuppel zogen.
Die Rebellin kauerte sich in das hohe Gras und versuchte, ihren hektischen Atem zu normalisieren. Sie sah, wie Rubinregen vor den Schwerthieben der Soldaten scheute und sich dann umdrehte, um zu seinen Kameraden zurück zu preschen. Sydney ließ ihn laufen und versuchte nicht darüber nachzudenken, wie sie zurückkommen sollte, falls sie das hier überhaupt überlebte.
Sydney spürte regelrecht, wie sie von selbst in einen anderen Modus schaltete. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die Horde schweifen, dabei suchte sie nach einer ganz bestimmten Gestalt. Doch die Masse der dunkel gerüsteten Soldaten war so dicht, dass Sydney rein gar nichts erkennen konnte.
Mit einem Mal teilten sich die grauen Leiber und schoben eine Gestalt nach vorne zur Barriere hin. Sie konnte sich nicht von selbst aufrecht erhalten und der Kopf mit den kurzgeschorenen Haaren war vornübergekippt.
„Calgary", flüsterte Sydney erstickt und duckte sich instinktiv noch tiefer in das hohe, wogende Gras. Als sie ein paar der hohen, festen Halme zur Seite schieben wollte, schnitt einer ihr in die Handfläche und die Rebellin zuckte überrascht zusammen. Still starrte sie auf den feinen, brennenden Schnitt aus dem nach und nach hellrote Blutstropfen perlten.
Und Sydney wusste, dass sie etwas tun musste, egal was. Sie war eine Blutträne, eine Rebellin. Jemand, der dazu auserwählt worden war, die Königin zu töten. Jemand, der sich mit Sicherheit nicht von ein paar manipulierten Männern aufhalten ließ.
Sydney packte ihren Dolch mit der rechten Hand und nahm das Brennen des dünnen Schnitts als eine Ermutigung. Dann pirschte sie sich Stück für Stück nach vorne und legte sich einen groben Plan für ihr Vorgehen zurecht. Mittlerweile war sie davon überzeugt, dass die Mondaugen es lange genug schaffen würden, die Barriere stark und aufrecht zu erhalten, zumindest bis Sydney es geschafft hatte, Calgary aus den Fängen der Knochensklaven zu befreien.
Aber wie sollte sie das anstellen? Es waren so viele von ihnen und Calgary war offensichtlich bewusstlos. Doch sie konnte ihn auf gar keinen Fall noch länger bei den Soldaten lassen, denn über kurz oder lang würden sie es schaffen, die unsichtbare Mauer zu durchbrechen.
Tief atmete die Rebellin aus, dann stürmte sie ohne einen weiteren Gedanken los. Sie war zwar bis auf die Knochen erschöpft und all ihre Energie schien beständig aus ihr herauszufließen, aber immerhin war sie lebendig und fähig, eigene Entscheidungen zu treffen– anders als die Knochensklaven. Sie wurden durch eine fremde Macht geleitet, von einer Königin, die meilenweit entfernt war. Bis sie begriff, dass etwas nicht stimmte, würde Sydney mit Calgary schon weg sein. Zumindest hoffte sie das.
Und deshalb lief Sydney, was das Zeug hielt. Ihre Muskeln brannten, ihr Atem kam nur noch in pfeifenden Tönen aus ihrer Lunge, aber sie lief weiter. Danach ging alles so schnell, dass Sydney sich später nicht mehr richtig erinnern konnte, wie sie es vollbracht hatte.
In Sekundenschnelle stach sie drei der Knochensklaven nieder und packte Calgary unter den Armen. Wutentbrannt schrie sie auf, als sie feststellen musste, dass der Rebelle zu schwer war, seine gut 90 Kilo konnte sie unmöglich in diesem Zustand mit sich ziehen.
Mittlerweile hatten die willenlosen Soldaten die Bedrohung durch die junge Rebellin bemerkt und wandten sich ihr mit starren Bewegungen zu. Nach und nach kamen sie näher und hoben ihre Schwerter, schlugen in grobschlächtigen Bewegungen zu und schwangen die einfachen Klingen in weiten Bögen, doch es war der schieren Masse zu verschulden, dass Sydney schneller als ihr lieb war, die Kontrolle über das Geschehen verlor.
„Nein!", schrie sie mit einer Mischung aus Wut und Schmerz, als einer der Knochensklaven ihr mit einem grobschlächtigen Schlag den Oberarm aufschlitzte.
Sydney wurde beinahe schwarz vor Augen, als das Blut aus der Wunde schoss und den immer noch bewusstlosen Calgary besudelte. Die Beine der Rebellin knickten ein und sie sank auf die Knie. Sie war so geschwächt, dass sie kaum noch den Arm heben konnte, um sich vor den Schwerthieben zu schützen.
Bald hatten die willenlosen Soldaten die beiden am Boden kauernden Rebellen vollständig von der Außenwelt abgetrennt. Nur halb bekam Sydney mit, wie die stumpfen Schwerter Wunden in ihre Haut rissen. Sie war kaum noch bei Sinnen. Das einzige, was sie wusste, war dass sie Calgary beschützen musste.
Diesen Gedanken konnte sie kaum zu Ende denken, bevor der Blutverlust sie in eine andere Welt katapultierte.
In eine Welt, in der Empfindungen keine Rolle mehr spielten.
~🩸~
An die Dinge, die danach geschahen, hatte sie später nur noch verschwommene Erinnerungen.
Wenn sie an diese Nacht zurückdachte, blitzten nur bruchstückhafte Bilder und Empfindungen in ihrem Kopf auf.
Die blaue Haut der Mondaugen, die im intensiven Licht des Mondes mystischer schimmerte, denn je.
Lichtblitze, die wie Messer durch die Dunkelheit schnitten.
Toronto, das Gesicht blutüberströmt.
Der Geruch von Pferdeschweiß und Blut.
Ein um ihre Hüfte geschlungenen Arm, der sie auf einem schnell galoppierenden Pferd hielt.
Und eine Stimme, die kaum wie ihre eigene klang, die immer wieder Calgarys Namen rief.
Doch dazwischen... war nichts.
Und als Sydney an einem wunderschönen Morgen unverletzt aufwachte, die Sonnenstrahlen zart über ihre Wangen strichen und der Nebel schüchtern durch die offenen Fenster hineinschlich, fragte sie sich, ob das alles nicht nur ein Traum gewesen war.
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