Teil 12

„Das bedeutet... dass wir im Grunde nur eine Waffe sein sollen."

Calgarys Stimme klang ruhig und gefasst, aber Sydney konnte erkennen, dass es in seinem Inneren brodelte. Es überraschte sie. Sie hatte angenommen, dass der Rebelle begeistert sein würde, wenn er davon erfuhr, dass sie beide gemeinsam die Königin töten sollten. Bei diesem Gedanken empfand Sydney immer noch das Bedürfnis, einfach zu lachen. Hysterisch zu lachen. Man konnte die Königin nicht einfach so töten. Sydney hatte sie bisher nicht einmal mit eigenen Augen gesehen.

„Hört zu", sagte Toronto, der Ton des Anführers war aus seiner Stimme verschwunden. „Ich weiß, dass ihr euch jetzt benutzt fühlt. Ich kann das verstehen, aber darauf konnten wir keine Rücksicht nehmen. Dieser Plan ist enorm wichtig. Stellt euch vor, wie unser Leben wäre, wenn die Knochenherrschaft vorbei ist. Wir wären frei."

Ein bitterer Geschmack legte sich auf Sydneys Zunge. Niemand musste ihr sagen, dass es ohne die Königin besser wäre. Kälte füllte ihr Herz und grub ihre Fingernägel in die Handballen.

„Versucht, nicht nur das Negative zu sehen", fügte Veritas deutlich sanfter hinzu und sah die beiden jüngeren Rebellen durch die gelben Augen verständnisvoll an. „Bisher haben wir Mondaugen unsere Magie noch nie mit einer anderen Spezies geteilt. Ihr habt die Ehre, die ersten sein zu dürfen."

„Was nützt uns diese Ehre, wenn wir sterben?", fragte Calgary kalt und Sydney zog leise zischend die Luft ein. Sie stimmte ihm voll und ganz zu, aber es war riskant, in diesem Tonfall mit Toronto und Veritas zu reden.

Der Anführer jedoch seufzte nur und wandte den Blick ab. Schuld lag in seinen Augen und ließ ihn wirken, als wäre er um viele Jahre gealtert. „Wenn ich könnte...", begann er leise und sah nach oben, wo der Mond in die Arena schien. „Wenn ich könnte, würde ich diese Aufgabe übernehmen. Ich würde euch niemals in Gefahr bringen, wenn ich selber diesen Plan ausführen könnte. Aber das geht nunmal nicht. Ich bin zu alt, nicht mehr in der Lage, all die neuen Dinge zu lernen. Ihr beiden seid die Einzigen, die dafür in Frage kommen. Zwei hochrangige, junge Bluttränen."

Sydney betrachtete Toronto eine Weile. Der sonst so starke Anführer wirkte mit einem Mal in dieser großen Arena, gebadet in mystisches Mondlicht, klein und einsam. Sydney rief sich in Erinnerung, dass auch er ein Mensch war, der alles durch die Knochenkönigin verloren hatte. Auch er wollte sich rächen, diesem Durst nach dem Blut der Königin endlich nachkommen, und dass er dazu nicht in der Lage war, musste ihn um den Verstand bringen. Die Rebellin hatte keine Ahnung, wie Torontos Geschichte aussah, aber sie war zweifelsohne nicht weniger schrecklich als die Vergangenheit jeder einzelnen Blutträne.

Sie spürte Calgarys Blick auf sich und sah zu Seite. Der junge Rebelle hatte etwas fragendes in seinen braunen Augen. Sydney seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit zurück zu Toronto. „Wir verstehen Sie. Sie und Ihre Beweggründe. Wir werden uns ausbilden lassen und den Plan ausführen." Kurz huschte ihr Blick zu Calgary, der nickte. Seine Miene war vollkommen ernst, keine Spur von seiner belustigten, anzüglichen Art war in seinem Gesicht zu sehen.

Toronto blickte zwischen Sydney und Calgary hin und her. Sein ganzes Gesicht drückte Dankbarkeit aus. „Ihr wisst nicht, was es mir bedeutet", sagte der Anführer leise, und stand auf. Alle anderen folgten ihm. Toronto schlug sich die Faust auf die Brust und verbeugte sich tief und lange vor den zwei jüngeren Rebellen.

„Ich bin überzeugt davon, dass ihr die richtigen seid", brummte Soweto und schlug Calgary in einer väterlichen Geste auf die Schulter. „Und du, Mädel", er musterte Sydney von oben bis unten, „du bist zweifelsohne aus hartem Holz. Ihr beide seid ein gutes Team."

Calgary grinste zu Sydney herüber und wackelte mit den Augenbrauen. Sydney stöhnte auf und verdrehte die Augen, doch ein winziges Lächeln konnte sie sich nicht verkneifen.

„Schön, dass ihr mit uns arbeiten wollt", sagte Veritas, das Mondlicht ließ sein langes, schimmernd helles Haar wie einen Fluss aus weißem Silber erscheinen. „Ruht euch jetzt aus. Gleich morgen beginnen wir mit eurer Ausbildung. Es wird viel Arbeit und ein harter Weg."

~🩸~

Langsam schlug Sydney die Augen auf. Das angenehme Gefühl, genug Schlaf bekommen zu haben, durchdrang jede Faser ihres Körpers und sie seufzte zufrieden. Wie eine Sumpfkatze streckte sie ihren Körper, bevor sie sich aufsetzte und die Wand anstarrte. Heute würde ihre Ausbildung beginnen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was auf sie zukommen würde, aber es wäre gelogen zu sagen, dass sie sich nicht ein klein wenig freute. Das Wissen der Mondaugen und Bluttränen kombiniert... sie würde stark sein. Vielleicht unbesiegbar.

Ein kämpferisches Lächeln legte sich auf die Lippen der Rebellin. Auch wenn sie immer noch darüber nachdachte, dass man sie nicht schon vorher in die Pläne, die sie betrafen, eingeweiht hatte, konnte sie es nicht erwarten, damit zu beginnen. Immer noch erschien es ihr unmöglich, aber Veritas und Toronto hatten so überzeugt geklungen, dass etwas Wahres daran sein musste. Sie und Calgary würden so stark sein, dass sie die Knochenkönigin töten konnten.

Wie so oft schloss sich die Hand der Blutträne um den Ring mit dem Rubin. Zum ersten Mal ließ sie einen Gedanken an ihre Familie zu, rief sich die geliebten und vermissten Gesichter ins Gedächtnis. Sie würde sie rächen. Und nicht nur sie, sondern auch all die anderen Menschen, die durch die Knochenherrschaft so sehr gelitten hatten. Für einen Moment wurde Sydney zurück in die Vergangenheit katapultiert.

Der Geruch von Feuer und Blut in der Luft... Die Schreie der Kinder, die neben den zerstückelten oder verbrannten Körpern ihrer Familien kauerten... Der Rauch, der sich über das Geschehen legte, als wollte er es verbergen... Und die Stimme der Königin, die über dem völlig zerstörten Calanthia magisch verstärkt hallte. „Das ist es, was passieren musste. Ihr wolltet euch mir nicht beugen, also habe ich euch zum Schweigen gebracht. Sehet nun, was Ungerechtigkeit ist. Sehet nun, was Schmerz ist. Sehet und fühlet am eigenen Leib, was ihr aus mir gemacht habt. Ihr habt euren Untergang selbst herbeigeführt, ihr habt mich geschaffen. Sehet nun, was Wahnsinn bedeutet und was ich mit meiner Macht anstellen kann. Die Zeit der Knochen ist angebrochen, die Zeit der Rache. Möge sie niemals enden.

Schaudernd und zitternd kehrte Sydney in die Wirklichkeit zurück. Tränen liefen ungebremst über ihre Wangen und als sie ihre verkrampfte Faust öffnete, hatte sich der Abdruck ihres Rings tief ins Fleisch gegraben. Der Schmerz, den sie nun fast körperlich fühlte, raubte ihr den Atem und es brauchte mehrere Minuten, bis sie die Erinnerungen wieder in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins schieben konnte und tief durchatmete. Es war jedes Mal aufs Neue schlimm, aber es erinnerte sie sehr wirksam an das, für was sie kämpfte.

Voll neuer Entschlossenheit stieg Sydney aus dem Bett und zog sich an.

~🩸~

„Bevor wir mit praktischen Lektionen starten, brauchen wir ein bisschen Theorie. Geschichte, aber auch das System, das hinter all dem steckt." Veritas stand vor Sydney und Calgary, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Im hellen Sonnenlicht sah die Arena genauso schön aus, wie bei Nacht wenn der Mond schien, allerdings fehlte das Mystische, das Magische und Mächtige.

„Als erstes gilt es zu wissen: Mondaugen haben eine sehr enge Verbindung zum Mond. Wir brauchen ihn, so wie ihr die Sonne braucht. Die Strahlen des Mondes sind essenziell für uns. Sie versorgen uns mit der Kraft, Stärke und Magie, durch die wir existieren." Veritas begann, um die beiden jungen Rebellen herumzulaufen. Beide folgten dem Mondauge mit ihren Blicken. „Doch können wir diese Magie, die durch uns hindurchfließt, gezielt nutzen. Das geschieht mit Hilfe von Silber."

Veritas kam auf Sydney und Calgary zu und hob dann den silbernen Reif, der seine langen weißen Haare aus der Stirn hielt, vom Kopf. Er streckte ihn den Bluttränen entgegen und ehrfürchtig nahm Sydney ihn aus den schlanken blauen Fingern. „Auch ohne Silber können wir Magie wirken, meist jedoch nur willkürlich. Ursprünglich war die Mondmagie nicht dazu gedacht, als Waffe zu fungieren. Was mit Silber aber durchaus möglich ist und heutzutage leider auch gebraucht wird."

Das Mondauge sah die beiden Jüngeren eindringlich durch seine gelben Augen an. „Wir Mondaugen haben also auch ohne Silber eine Verbindung zu der Magie des Mondes. Die habt ihr nicht. Ihr seid Menschen, die nichtmagischste Spezies, die je existiert hat." Sydney verengte unmerklich die Augen. Da war sie wieder, diese Anspielung, dass Menschen schwach waren. Schlecht. Unmagisch und hilflos. Als hätte Veritas ihre Gedanken gelesen, blieb er vor ihr stehen und sah sie an. Sein Blick bohrte sich in ihren. Leuchtendes, kristallenes Gelb gegen weiches braun und tiefes Blau. Calgary schaute verwirrt zwischen dem Mondauge und der Rebellin hin und her. Sydney wirkte angespannt, beinahe angriffsbereit, während Veritas Blick kalkulierend war, einschätzend. Hatte er etwas verpasst?

Es kamen Sydney wie Minuten vor, als das Mondauge das Gesicht abwandte und weiter um die beiden Bluttränen herum schritt. Sydney folgte ihm nicht mit ihren Blicken, doch sie konnte das Kribbeln in ihrem Rücken spüren, wenn die Augen dieses mächtigen, magischen Wesens auf ihr lagen.

„Wir werden sehen, in wie weit ihr wirklich bereit seid, zu kämpfen. Fangen wir an."

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