Teil 1
Der Dolch landete genau dort, wo sich sein Herz befand, und Sydney spürte, wie sein Körper erschlaffte. Langsam kniete sie sich nieder und folgte dem sterbenden Soldaten, bis er auf dem Boden lag. Vorsichtig nahm sie ihm den Helm ab und blickte in ein junges, blasses Gesicht. Nach und nach verschwand das dunkle Kobaltblau aus seinen Augen und hinterließ ein warmes, helles Braun. Die Erkenntnis durchflutete sein Gesicht, dann trat unbeschreibliche Trauer in seinen Blick und er öffnete die Lippen, aus denen ein schmales Rinnsal Blut floss.
„Ha-abe ich..."
„Scht", flüsterte Sydney und zog das Tuch von ihrem Mund. Die Augen des Soldaten hefteten sich in seinen letzten Atemzügen auf ihr Gesicht. „Es ist in Ordnung. Es ist vorbei. Lass los."
Der Körper des jungen Mannes erzitterte, dann wich das Leben mit einem letzten Atemzug aus ihm und er verließ diese Welt für immer.
Ein paar Sekunden lang starrte Sydney in die trüben und leblosen Augen des ehemals versklavten Soldaten, dann stand sie auf, wischte sich Dreck und Blut von den Händen und blickte sich um. Akira stand hinter ihr, die Arme verschränkt, ihre Augen so emotionslos wie immer.
„Fertig, Sydney? Wir müssen Toronto noch Bericht erstatten."
Sydney nickte und sah noch einmal zu dem Soldaten hinunter. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, was für ein Leben er gehabt haben mochte, bevor er von den Schergen der Königin gefangen genommen worden war und zu ihrem Sklaven gemacht wurde. Aber das war unwichtig. Es war vorbei und konnte nicht rückgängig gemacht werden. Sie beugte sich hinunter und zog den Dolch aus der Brust des Soldaten. Schnell wischte sie die Klinge an ihrer dunklen Hose ab, dann folgte sie Akira, die ungeduldig vorangegangen war.
Mittlerweile hatte Sydney sich daran gewöhnt, über die Trümmer zerstörter Gebäude zurück zum Hauptquartier zu gehen. Es war normal für sie geworden, ganz anders als zu Beginn.
Sydney schüttelte mit dem Kopf um die Erinnerungen zu vertreiben. Es tat ihr nicht gut, wenn sie zu sehr darüber nachdachte. Sie beschleunigte ihre Schritte und schloss zu Akira auf, die mit ihrem gewohnt festen Gang einfach über all das hinweg lief, als würde es nichts bedeuten. Aber Sydney wusste es besser. Akira hatte alles verloren, genauso wie sie selbst.
Sie kamen zu einem unscheinbaren, zerfallenen Mauerwerk, das einst zu einem einfachen Haus gehört hatte und Akira und Sydney zogen die Tücher wieder über den Mund. Routinierte stellte Sydney sich an die Mauer und betrachtete ihre Fingernägel, während Akira ohne einen weiteren Blick in die Schatten des verfallenen Hauses trat und in ihnen verschwand.
Unauffällig sah Sydney sich um. Der Wind trieb altes Gestrüpp vor sich her und erzeugte ein kratzendes Rascheln, wenn die trockenen Äste über Gestein schrammten. Aber ansonsten war es still und keine Menschenseele war zu sehen. Noch einen winzigen Augenblick lang verharrte sie an der Mauer, dann wandte sie sich ab und verschwand ebenfalls im Haus.
Drinnen war alles voller Schutt und Staub, aber Sydney wusste, wohin sie ihre Füße setzen musste. Seit drei Jahren ging sie diesen Weg fast täglich und sie kannte ihn wie ihre eigene Hosentasche.
Nach wenigen Metern ging sie in die Hocke, legte mehrere Hebel an einem Deckel im Erdboden um und verschob 16 Schalter an ihre richtige Position. Ein Klicken ertönte und Sydney hob den Deckel an. Sie setzte sich an den Rand und rutschte ein Stück in die Tiefe, bis ihre Füße Halt an einer Metallsprosse fanden. Nachdem sie ein weiteres Stück nach unten geklettert war, zog sie den Deckel wieder nach unten und hörte, wie die Hebel sich von selbst wieder zuzogen und die Schalter sich verschoben.
Sydney atmete auf und ließ ihre Stirn gegen ihre Hand sinken, welche eine der Metallsprossen umklammerte. Wieder trat das Bild des Soldaten vor ihre Augen, sie sah wie die dunklen, kobaltblauen Schatten aus seinem Blick wichen und der ursprünglichen Farbe Platz machten. Die Furcht und Trauer darin hatte sie schon in so vielen Gesichtern davor gesehen, und trotzdem nahm es sie immer wieder von neuem mit.
Die junge Frau fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und machte sich an den Abstieg. Noch war es dunkel, aber als sie unten angekommen war, flammten wie durch Geisterhand die Fackeln an den Wänden auf und leuchteten ihr den Weg. Mit schnellen Schritten lief sie durch durch den unterirdischen Gang geradewegs auf eine Eisentür zu, die nach wenigen Metern im schwachen Schein der Fackeln sichtbar wurde.
Sydney hieb mit der Faust gegen das feste, kalte Eisen, und beinahe unmittelbar danach öffnete sich ein winziges Fach. Sie legte ihren Zeigefinger hinein und spürte, wie die winzige Nadel durch ihre Haut drang. Sydney zog den Finger wieder zurück, drückte die Haut neben dem Einstich zusammen und ein kleiner Blutstropfen erschien. Sie schmierte ihn auf das Metall der Tür und ein Summen ertönte, dass ihr durch Mark und Bein fuhr.
Mit einem Quietschen wurde die Tür zur Seite geschoben und Sydney trat hindurch. Sie wartete nicht, bis sie sich wieder schloss, sondern ging durch den hellbeleuchteten Gang weiter. Der Teppichboden war staubig, dämpfte aber die Schritte ihrer Stiefel. Trotzdem hörte Akira sie und sah von ihrem Dolch auf, den sie mit einem Tuch gesäubert hatte.
„Keine Probleme?", fragte sie und Sydney schüttelte den Kopf.
Gemeinsam gingen sie in den rechten Gang, der gesäumt war von Türen, die in weitere Gänge führten. Doch Sydney und Akira beachteten keine von ihnen, sie marschierten schnurstracks bis zum Ende und liefen durch den Bogen in den zweiten Teil des Ganges, hinter dessen Türen sich die Waschräume und Toiletten waren. Akira bog, dicht gefolgt von Sydney links ab und die beiden jungen Frauen gelangten in das Herzstück der Rebellenunterkunft, ein großer, runder Raum, dessen Boden mit weißen, roten und hellblauen Fliesen ausgelegt war. Dreizehn weitere Eisentüren führten in die wichtigsten Räume des Quartiers, ansonsten war der Raum kalt und leer.
Akira lief auf die mittlere Tür zu und hieb ihre Faust mit einem festen Schlag auf das kalte Eisen. „Toronto? Atlanta und Sydney wollen Bericht erstatten, Außenpatrouille."
Eine Weile herrschte Stille, dann sagte eine Männerstimme: „Atlanta und Sydney, gestattet. Kommt herein."
Die Tür schob sich zur Seite und gab Blick frei auf einen Raum, in dem ein dunkler Holzschreibtisch stand. Dahinter saß der Mann, ohne den es die Bluttränen nicht geben würde. Toronto war ein Mann Mitte vierzig, mit dichten braunen Haaren, die von einzelnen silbernen Strähnen durchzogen waren. Sein prüfender Blick legte sich auf Akira und Sydney, und die beiden schlugen ihre Faust aufs Herz und verbeugten sich knapp.
„Was gibt es zu berichten?", fragte Toronto, nachdem Sydney und Akira sich auch wieder grade hingestellt hatten.
„Wir sind zwei Soldaten begegnet. Sie wollten uns angreifen, sind aber gescheitert." Akiras Gesicht blieb ausdruckslos.
„Konntet ihr sie befreien?" Torontos Stirn legte sich ein wenig in Falten.
„Ja." Sydney nickte. „Beide haben sich nach der Befreiung erinnert und konnten loslassen."
„Sehr gut." Die Falten verschwanden und Toronto lehnte sich zufrieden zurück. „Ihr seid für den Rest des Tages freigestellt. Geht duschen und schlaft euch aus. Morgen geht es für euch weiter."
Sydney und Akira verbeugten sich ein weiteres Mal, und wollten grade aus dem Zimmer des Oberhaupts treten, als Toronto noch einmal die Stimme erhob. „Atlanta?"
Akira versteifte sich und wandte sich widerstrebend um. „Ja?"
„Kann ich dich noch kurz sprechen?"
Sydney warf ihrer Patrouillenpartnerin einen kurzen, verwunderten Seitenblick zu, doch Akira würdigte sie keines Blickes. Kurz zögerte sie, doch dann öffnete sie die Tür und trat hinaus. Akira würde schon zurecht kommen.
Eilig durchquerte Sydney den Raum, und ging den gleichen Weg zurück durch den Gang mit den Waschräumen, bis sie durch den Torbogen trat und zu den Wohnräumen gelangte. Bei der Tür mit der Nummer 467 trat sie ein. Zwei Frauen kamen ihr entgegen und Sydney nickte ihnen freundlich zu. Sie ging an den beiden vorbei, bis sie zu der dritten Tür von rechts kam. Ihr Name stand mit Farbe nachlässig gepinselt darauf, direkt unter einem weiteren Namen, der übermalt worden war. Doch Sydney konnte ihn trotzdem lesen und fuhr mit den Fingerspitzen darüber, so, wie sie es immer tat, fühlte die Farbtropfen, die hinuntergelaufen und getrocknet waren. Adelaide.
Als Sydney vor fünf Jahren hier eingezogen war, hatte der Name dort schon gestanden. Toronto hatte damals gesagt, dass es nur richtig wäre, wenn sie in ihr Zimmer zog, weil ihre Namen aus der gleichen Familie stammten. Mehr als einmal hatte sie sich als junges Mädchen gewünscht, Adelaide gekannt zu haben. Immer wieder, wenn sie spätabends in dem schmalen Bett gelegen hatte und nicht schlafen konnte, hatte sie sich ausgemalt, was sie beide wohl gemeinsam hätten, und was sie sonst noch verband, als ihr Name. Sydney würde es nie erfahren.
Sie drückte die Klinke der Zimmertür hinunter und trat in den kleinen Raum. Direkt der Tür gegenüber befand sich das schmale Bett, links war ein Wandschrank und rechts befand sich ihre Waffenwand. Sydney schloss die Tür hinter sich und zog ihren den Gürtel aus, an dem die Scheide mit dem Dolch befestigt war. Sie hängte alles ordentlich zurück und entledigte sich dann sämtlicher Klamotten. Dann wickelte sie sich in ein Handtuch und trat in den Flur.
Draußen begegnete sie Manila, die grade von der Dusche kam. „Hey Sydney." Lächelnd blieb sie stehen. „Wie war's?"
Die Anführerin der zweiten Außenpatrouille lächelte gequält zurück. „Wie immer. Akira und ich konnten zwei Soldaten befreien, die uns begegnet sind."
Manila musterte sie und sagte dann mitfühlend: „Es nimmt dich immer noch mit, oder?"
Sydney wandte den Kopf ab und seufzte. „Wie sollte es anders sein? Jedes Mal beende ich ein Leben, auch wenn ich die Soldaten damit befreie."
Nachdenklich nickte Manila. „Genau deshalb bin ich nicht bei der Patrouille dabei. Ich könnte es nicht ertragen, jemanden zu töten, vor allem wenn ich weiß, dass die Person unschuldig ist." Sie kratzte sich an der Schläfe und räusperte sich. „Also dann, man sieht sich."
Sie ging an Sydney vorbei in ihr Zimmer. Für einen Wimpernschlag lang stand die junge Frau gedankenversunken im Flur, dann atmete sie zittrig ein und machte sich auf den Weg zur Dusche.
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