IV
2. Kapitel
Anna, Neuzeit
,,Komm schon, das wird witzig!"
,,Ja, Mann, das ist doch nur so ne Legende, um kleinen Kindern Angst einzujagen."
,,Schon klar, aber gruselig ist es trotzdem. Vor allem, weil ich immer wieder gehört hab, dass es bei manchen wirklich geklappt hat."
,,Und wenn schon, was soll schon passieren? Soweit ich weiß, ist das psychisch bedingt. Die Leute bilden sich nur ein, dass sie wirklich Ihren Geist gesehen haben. Das hängt wohl mit dem Kerzenlicht zusammen."
,,Alles klar, Frau Psychologin!"
Allgemeines Gelächter folgte. Doch ich war nicht so blöd zu glauben, dass die anderen die Aktion nicht mindestens genauso gruselig fanden wie ich. Einzig Mirjam nahm ich ihre Vorfreude auf dieses dämliche Partyspiel wirklich ab. Sie würden auslosen, in welcher Reihenfolge sie das Badezimmer betreten würden. Und mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte ich mich unbehaglicher bei der Vorstellung, gleich an der Reihe zu sein. Ich war blass um die Nase und noch stiller als sonst; die Stirn sorgenvoll gerunzelt. Nervös wischte ich mir die Hände an den Hosen ab und ließ sich mir mein Haar wie einen Schleier vors Gesicht fallen. Ich bereute nicht länger mit offenen Haaren gekommen zu sein. Ich war verflucht dankbar, mich jetzt dahinter verstecken zu können und nahm das, was um mich herum passierte, nur noch wie durch dichten Nebel wahr.
,,Anna, du bist dran! Du darfst als Erste!"
Kalte Furcht griff mit eisernen Klauen nach meinem Herzen. Es kostete mich unvorstellbar viel Kraft, mich nicht auf dem Absatz umzudrehen und dieses schreckliche Spielchen ganz weit hinter mir zu lassen. Mit zitternden Fingern nahm ich die Kerze entgegen, die Mirjam mir reichte. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ich konnte kaum glauben, dass ich mich doch tatsächlich von Mirjam hatte beschwatzen lassen, bei diesem kranken Spiel mitzumachen. Aber schön, ich war kein Feigling, irgendwie würde ich diesen Wahnsinn schon durchstehen. Wenigstens dieses eine Mal. Denn das schwor ich mir, ein zweites Mal würde es nicht geben. Niemals.
Einmal noch atmete ich tief durch, bevor ich das Badezimmer betrat. Das Badezimmer, in dem ich bereits von einem spöttisch lächelnden Ganzkörperspiegel erwartet wurde. Dann galt es, die Tür hinter mir zu schließen und das Licht zu löschen.
Stille umwaberte mich. Eine Stille, die sich unmöglich mit der friedlichen Ruhe vergleichen ließ, die ich noch vor wenigen Stunden draußen auf der Veranda verspürt hatte. Diese Stille hier war fies. Sie lauerte mir auf. Wartete regelrecht darauf, dass ich einen Fehler machte.
Mit zitternden Knien bewegte ich mich vorsichtig auf den Spiegel zu. Schritt für Schritt. Die Kerze in meiner Linken so fest umklammert, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Der flackernde Kerzenschein warf düstere Schatten auf die Szenerie und sorgte nicht gerade dafür, dass ich mich besser fühlte. Die Augen weit aufgerissen, damit mir ja nichts entging, räusperte ich mich vernehmlich.
,,Svarta Madam", flüsterte ich. Angstvoll hielt ich den Atem an. Nichts geschah. Noch nicht.
,,Svarta Madam", brachte ich den Fluch ein zweites Mal über die Lippen. Meine Augen brannten und meine Schultern waren vor Anstrengung verkrampft. Alles in mir war angespannt. Ich war auf alles gefasst. Dachte ich.
,,Svarta Madam." Ich keuchte. Mein Entsetzen blieb mir in der Kehle stecken. Ich wollte einfach nur noch raus hier! Sofort! Weg von Ihr. Doch es gelang mir nicht. Ich stand wie angewurzelt, während ich innerlich schrie. So laut wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Hab keine Angst, Anna! Ich tu dir nichts! Ich heiße Merle. Mit der schwarzen Madame habe ich nichts zu tun.
Es ist so unfassbar schwer zu beschreiben, was der Klang Ihrer Stimme in mir auslöste. So schwer! Einerseits beruhigte er mich. Sie klang nett. Aber andererseits machte mich diese Tatsache fast noch panischer.
Es tut mir ehrlich leid, dass ich dir solche Angst eingejagt habe. Aber es musste leider sein. Du hast meinen Brief nicht geöffnet und ich konnte nicht länger warten, dass du ihn von dir aus liest. Es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dass du ihn liest. Gib mir die Chance, dir darin alles zu erklären! Bitte! Die Wahrheit ist zu wichtig und zu mächtig, um sie einfach zu ignorieren. Du musst verstehen, wie der Fluch wirkt, damit du dich vor ihm schützen kannst. Ich weiß, wie beängstigend das jetzt alles für dich klingt. Aber ich verspreche dir, dass du schon bald alles begreifen wirst. Im Leben ist vieles nicht so, wie man denkt. Und nicht jedes Mädchen bekommt das Märchen, das es sich sehnlichst wünscht. Das musste auch ich damals schmerzlich am eigenen Leibe erfahren. Doch weil die Menschen mit der Wahrheit oft nichts anzufangen wissen, haben zum Beispiel die Gebrüder Grimm die Geschichte meiner Mutter ein wenig zurechtgestutzt. Falls du wissen willst, wie es ihr wirklich ergangen ist, frag nach ,,Sonne, Mond und Thalia". Falls du verstehen willst, wie es zu alledem kam, nach Mary Tudor. Mit ihr hat alles begonnen. Und doch darfst du nicht ihr die Schuld daran geben. Im Leben ist nicht alles schwarz-weiß. Vergiss das nicht. Und nun geh wieder raus zu deinen Freunden! Genieß dein Leben, solange du noch kannst!
Die Kerze flackerte stärker. Ein Windhauch umspielte meinen Körper und es kam mir vor, als hauchte mir jemand einen Kuss hinter meine linke Ohrmuschel. Eine Gänsehaut überzog meine Arme und meinen Nacken, rieselte über meinen Rücken nach unten. Dann erlosch die Kerze und überlies mich mir selbst in der Dunkelheit des Badezimmers.
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