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Wortlos wandetst du dich ab und verließt den Raum. Nur schwer konntest du das Verlangen bezwingen, dir einfach das Blut von den Lippen zu lecken. Doch du wolltest authentisch in deiner Rolle als Möchtegernvampir sein. Nahezu lautlos glittest du durch die Flure, bis du das Treppenhaus erreicht hattest. Die Musik wurde mit jedem Schritt lauter und die Stimmen klarer; und das war nicht nur deinem feinen Gehör zuzuschreiben.
Schon nach wenigen Stufen trafst du auf das erste Pärchen, das sich gegenseitig die Zunge tief in den Hals steckte. Du fragtest dich, wie man nach einer knappen Stunde auf einer Feier so viel intus haben konnten. Selbst sahst du Alkohol als Genussmittel an; es war nichts, dass rasch die Kehle hinab gestürzt wurde. Natürlich trankst du auch gern einmal mehr, als gut war, doch zum Einen dauerte es bei Vampiren um Einiges länger, bis das Gift die Sinne verschleierte, zum Anderen zerstörte es euren Körper nicht. Das verdanktet ihr dem Menschenblut, auf das ihr angewiesen wart, und jenes war es auch, dass euch ewig jung und fern vom Tod hielt. Genau betrachtet waren reine, geborenen Vampire niemals untot. Euer Herz schlug noch und die Wahrscheinlichkeit, dass ihr verrückt wurdet und als irre Psychopathen endeten, ging gegen Null. Das erklärte auch die vielen Jahrhunderte, die du hier auf dieser Welt weiltest
Wenn man jedoch einen Vampir schöpfen wollte, erforderte dies im letzten Schritt, einen Ebereschenpflock durch das Herz des werdenden Monsters zu stoßen. Somit starb der Mensch in ihm und das Blutswesen erwachte. Blieb der letzte Schritt aus, quälte sich der Mensch auf dem schmalen Pfad zwischen Leben und Tod und es dürstete ihn nach dem Blut seines vermeintlichen Erschaffers.
Dennoch stelle sich die Frage, warum man als reinblütiger Vampir einen unreinen schöpfen sollte. Halbblüter konnten ihren Hunger nur schwer kontrollieren und ihre Sinne waren verglichen mit den euren geradezu stumpf. Vater hatte dir versucht, eine Antwort zu geben, als du das erste Mal als kleiner Junge davon gehört hattest: ›Es gibt genau drei Gründe, warum die reinen Rassen so etwas tun: aus Langeweile, aus Liebe oder aus Rache‹. Wie du nun dazu stehen solltest, wusstest du nicht.
Inzwischen hattest du die untere Etage erreicht. Dunkle Lichter drangen gedämpft in die Flure und flüsterten von den Geheimnissen, die in den angrenzenden Sälen schwirrten. Die geladenen Spannung war zum Greifen nah. Menschen wogen sich in Takt der Musik, sangen heiter mit. Für einen Moment fühltest du dich auf unbeschreibliche Weise fern, so wie du da am Fuß der Treppe standest. Ein Außenseiter. Ein Sonderling.
Erst als dich ein angetrunkener Rotschopf anrempelte, seine klebrig grüne Götterspeise fast auf deinem Hemd verteilte und dich damit das zweite Mal an einem Tag dazu gezwungen hätte, dein Hemd zu wechseln, rissest du dich aus deiner Starre. »So pass doch auf!«, fauchtest du genervt.
»Sorry Bro, das war nicht mit Absicht«, lallte er und wollte sich an dir vorbeidrängen. Seine falschen Plastikzähne und dunkel geschminkten Augen zerrten die Vampirfigur förmlich ins Lächerliche.
Allerdings hattest du nicht vor, den ahnungslosen Kerl einfach so ungeschoren davonkommen zu lassen. In einer flüssigen Bewegung griffst du ihn am Oberarm und zerrtest ihn vor dich. »Jetzt hör mir ganz genau zu«, zischtest du. Einen Wimpernschlag versuchte er noch, sich zu wehren, aber dann blieben seine Augen in deinem Blick hängen. In der Spieglung seiner Fenster zur Seele konntest du erkennen, wie deine Augen manipulativ bläulich zu glimmen begannen. Fast gleichzeitig wurde der Ausdruck in seinem Gesicht starr. »Du scherst dich jetzt auf der Stelle ins Badezimmer und steckst dir solange den Finger in den Mund, bis du den gesamten Alkohol ausgebrochen hast, der heute den Weg zu deiner Leber fand, ist das klar? Und dass du mir ja keine Sauerei veranstaltest. Du kannst heidenfroh sein, dass deine scheußliche Grütze nicht auf meinen Hemd gelandet ist, sonst wärst du deiner Hände jetzt entledigt.«
Der Kerl blinzelte, als das schwache Leuchten deiner Augen verstummte. »Ich muss ins Badezimmer und mir solange den Finger in den Hals stecken, bis ich allen Alkohol ausgekotzt habe. Ich muss ins Badezimmer und mir solange den Finger in den Hals stecken, bis ich allen Alkohol ausgekotzt habe«, murmelte er repetitiv und setzte sich mit stumpfer Miene in Bewegung. »Ich muss ins Badezimmer und mir solange den Finger in den Hals stecken ...«
Zufrieden wandest du dich ab, mischtest dich unter die Menschen und betratest den Hauptsaal. Einige Gäste hatten das Thema Halloween sehr ernst genommen: verblüffend echte Hexen, Monster und Vampire tanzten wild zu der Musik. Hier und da nippte ein Frankenstein an einem alkoholischen Getränk und an der Bar konntest du sehen, wie eine nicht sehr authentische Toilettenpapiermumie verstohlen mit ihrem umwickelten Ärmel den verschütteten Drink von der Anrichte tupfte. Traurige Gestalt.
Doch plötzlich trafen deine kristallblauen Augen auf ein Paar schokoladenfarbende genau vor dir. Dein Atem stockte. Abrupt bliebst du stehen und konntest so vermeiden, dass du das hübsche Mädchen über den Haufen liefst. Sie war so zart, selbst wenn sie nicht zu den kleinsten Frauen gehörte, die du je gesehen hattest: nur einen knappen Kopf war sie kleiner als du. Ihre Haut hatte den sanften Ton von Milchkaffee - das konntest du trotz der flackernden Lichter ausmachen - und harmonierte ausgezeichnet mit den mandelförmigen Augen, den hohen Wangenknochen und der schmalen Nase. Die winzigen, krausen Löckchen hatte die junge Frau zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, doch die Strähnen waren so wirr, dass sie eher eine fluffige Kugel als einen Zopf formten. Einer der Korkenzieherlöckchen war ihr ins das hübsche Gesicht gefallen und kitzelte das Mädchen an den vollen, passend zum Kostüm rot geschminkten Lippen, welche sie zu einem hinreißenden Lächeln verzogen hatte. Dazu trug die südlich herstammende Schönheit ein übergroßes, weißes Hemd mit vereinzelten Kunstblutflecken, gepaart mit einer ebenso verschmierten, gleichfarbigen Stoffhose. Um ihr Kostüm abzurunden, hatte sie typisch blaue Krankenschwestercrocs an. Wäre das hier keine Halloween-Party und hättest du sie auf einer Intensivstation angetroffen, wäre vermutlich die einzige Frage gewesen, ob sie den Patient hatte retten können.
Noch dazu sah Maria in dieser Kleidung hinreißend aus.
»Du warst ja nicht allzu sparsam mit dem Kunstblut.« Lächelnd legte sie den Kopf schief. »Wie viel hast du denn für dieses Outfit fließen lassen?«
Ein leises Lachen entwich deiner Kehle und beim darauffolgenden Grinsen entblößtest du deine nadelspitzen Fänge. »Ist das wirklich die erste Frage, die du mir stellst?«
Maria kratze sich an der Nase. »Was ist denn deiner Meinung nach eine geeignete erste Frage auf einer Halloween-Party?«
»Vielleicht ...« Langsam beugtest du dich zu ihr hinab, sodass du ihre zarten Duft nach Zimt vernehmen konntest. Dein Atem strich über ihren weichen Nacken und ihre Härchen stellten sich auf. »Versteckt sich unter dem falschen Vampir-Kostüm auch ein echter Vampir?«, wispertest du und ließt sie mit einer Gänsehaut zurück.
Zum Teufel, wie sehr dich ihre Blicke erregten, die sich wie Dolche in deinen festen Rücken bohrten, als du zur Bar schlendertest. Schon dein ganzes Leben lang konntest du spüren, wenn dich jemand beobachte. Woher diese intuitive Fähigkeit stammte, konntest du nicht sagen.
Selbstverständlich hättest du den Gunst der Stunde dazu nutzen können, Malia in ein Gespräch zu vertiefen, doch wo blieben dann Neugier, Spannung und das Spiel?
Die tanzenden Menschen wichen dir auf deinem Weg unbewusst aus, sodass du von keiner der dummen Gestalten angerempelt wurdest. So gelangtest du vollends unbeschwert an die Bar. Galant rutschtest du auf einen der Hocker und wiesest den Barkeeper - John sein Name, wenn du dich nicht täuschtest - wortlos an, der normalerweise unten in der Küche half, dir einen Rotwein einzuschenken. Zwar weiß Gott kein typisches Getränk auf einer solchen Feier, dennoch eins deiner liebsten. Nur Sekunden später stellte er dir ein geschwungenes Glas mit dem vorzüglichen Tropfen hin, dabei steht darauf bedacht, dir nicht direkt in die Augen zu sehen. Wahrscheinlich hatte das Gesindel ihm schon deutlich gemacht, dass der bloße Augenkontakt ausreichte, um ihn jegliche Dinge machen zu lassen, ob er wollte oder nicht. Vater hatte sogar vor einigen Dekaden einen Diener mit furchtbar frechem Mundwerk dazu manipuliert, sich die eigene Zunge abzubeißen. Und solche Geschichten prägen sich anscheinend in die Köpfe der Angestellten ein. Einer überlebte immer, um es weiterzuerzählen.
Genüsslich nipptest du an deinem Wein und drehtest dich langsam zu den stechenden Blicken um, die sich nach wie vor noch wie Feuer in deinen Rücken fraßen. Tatsächlich musterte dich Maria immer noch interessiert. Allerdings löste sie ihren Schokoladenblick von dir, als ein durchtrainierter Quarterback hinter sie trat, seine Arme um das süße Menschlein legte und ihr einen zarten Kuss auf den Hals drückte. Mit einem Mal verdunkelte sich deine Miene; anschließend verschlucktest du dich fast an deinem Rotwein, als Maria zu lachen begann und dem Tölpel einen Kuss gab, den dieser selbstverständlich ohne zu zögernd erwiderte.
Nun hustend versuchtest du, wieder zu Atem zu kommen und musstest dich gleichzeitig tunlichst zügeln, das Glas nicht einfach zwischen deinen Fingern splittern zu lassen wie eine Seifenblase.
Und plötzlich konntest du Eva voll und ganz verstehen, wie man sich stundenlang über einen dummen Menschen echauffieren konnte.
Der Kerl sah doch neben dir wie ein Bauerntrampel aus!
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