Menschen sind seltsame Lebewesen. Sie werden geboren, ohne lebensfähig zu sein. Wenn sie langsam lebensfähig werden, beginnen sie, sich mit unnötigen Dingen zu beschäftigen, so wie einem Ball nachzurennen, als möchten sie das Leben so schnell als möglich hinter sich bringen. Die einzigen interessanten Jahre sind jene, wenn die Menschen ihre Geschlechtsreife erlangen. Dann geht es so richtig ab, dann macht ihnen das Leben Spass.
Ich kenne mich aus, denn ich habe schon viele Menschen kennengelernt - oder vielleicht sollte ich besser sagen, genossen. Die Kleinen schmecken zwar zart und lecker, aber sie halten nicht lange her. Die Alten sind zäh und bitter, die mag ich nicht. Am liebsten sind mir jene, welche so zwischen fünfzehn und dreissig oder vierzig Jahren haben heranreifen können. Die sind ein Genuss.
Wann es das erste Mal geschah? Ich weiss es nicht mehr. Die Jahrtausende streifen an mir vorüber, wie Sekunden im Leben eines Menschen. Also eigentlich erinnere ich mich genau an jene weit entfernte Nacht, aber ich verdränge es momentan. Ich bin, im Gegensatz zu all jenen, welche ich bloss gebissen und nicht gefressen habe, ein waschechter, rassenreiner Werwolf. Das heisst, ich wurde so geboren, nicht durch einen Biss dazu gemacht.
Ja, das macht einen Unterschied. Wir 'echten' haben Gefühle, wir jagen nicht blind jedem Blutstropfen hinterher. Wir töten nicht des Tötens Willen, sondern weil wir uns ernähren müssen. Kreislauf des Lebens und so. Nur, dass wir in der Nahrungspyramide noch über den Menschen stehen - ich amüsiere mich immer wieder über diesen Irrtum von wegen "höchst entwickeltes Lebewesen" - Ha! Die Menschen können nicht einmal drei Meter fallen, ohne sich lebensgefährlich zu verletzen.
Apropos überleben - ich muss mich in dieser Welt anpassen. Nicht auffallen, lautet die Devise. Ich brauche einen Job, sitze nun am Computer und feile an meiner Bewerbung. Die suchen eine Lehrperson für Geschichte. Mein Ding! Niemand sonst hat die letzten viertausend Jahre so lebendig miterlebt wie ich.
Aber ich stocke beim Lebenslauf. Soll ich echt den dicken Wälzer von etwa tausendfünfhundert Seiten Tagebuch einreichen, nur um hervorzuheben, was ich schon alles erlebt und getan habe? Wie reagiert die Schulleitung wohl auf "Persönliche Assistentin Kaiser Napoleons" oder "Medizinische Betreuerin der Yamato"? Unsterblichkeit kann auch nerven.
Ich stecke in einem Dilemma: Lügen sollte frau nicht, vor allem nicht in einer Bewerbung, und die Wahrheit schreiben kann ich nicht. Was schreibe ich nebenbei in das Feld 'Geschlecht'? Frau? Passt nicht. Weibchen? Passt ebenso wenig. Das Feld ist zu klein, um zu schreiben 'mal das eine, mal das andere'.
Ich bin Loupine Wolff - ich weiss, das ist kitschig, aber ich amüsiere mich immer wieder, wie die Menschen darauf reagieren. Meist gehe ich als attraktive, blonde Frau durch, zumindest den Reaktionen der Männer entnehmend. Die meisten schauen bloss, aber es gibt auch solche, die dämlich starren, mich mit ihren Blicken ausziehen oder mit billigen Anmachsprüchen nerven. Ihnen zeige ich dann besonders gerne meine gelben Augen, die normalerweise von kühlen blauen überdeckt werden. Knurren ist auch hilfreich, damit die vermeintlichen Alphamännchen Leine ziehen. Ich bin eine begabte Knurrerin. Ob ich das bei meinen Eigenschaften erwähnen sollte?
Oh du aufgehender Vollmond, es ist zum Durchdrehen. Apropos Vollmond: Dann ist Schluss mit attraktiv, obwohl ich denke, auch ein ganz süsser Wolf zu sein. Ich liebe mein Fell, grau, mit schwarzen Nuancen an Kopf und Bauch, weisse Pfoten und herrlich lange Zähne. Das Geräusch zersplitternder Knochen und reissenden Fleisches, wenn ich mit meinem kräftigen Kiefer zubeisse, begleitet vom eisenhaltigen Geruch des warmen Menschenblutes; ich kann nicht widerstehen. – Ich habe Hunger.
In der Küche müssten noch einige Plätzchen stehen, die ich gestern nicht geschafft habe. Dazu einen reinen Arabica, frisch gebrüht; die Welt kann so schön sein.
Gestärkt setze ich mich zurück an die Tastatur und lese den Text, den ich bisher geschafft habe. Früher war das weniger kompliziert. Ich ging beispielsweise einfach zum grossen Khan, überzeugte ihn von meiner Treffsicherheit mit dem Bogen und schon hatte ich die Stelle. Die danach fehlenden Soldaten in seiner Armee fielen nicht weiter auf. Aber heute? Ernähre dich halbwegs gesund und schon jagen sie dich.
Zudem braucht es unglaublich viele Papiere und Zeugnisse, um eine vernünftige Anstellung zu erhalten. Niemand fragt mich nach meinen Fähigkeiten, sie wollen bloss die richtigen Papiere sehen. Menschen sind simple Lebewesen.
"Mögen Sie Kinder?", fragte die letzte Schulleiterin im Anstellungsgespräch.
"Und wie!", lautete meine prompte Antwort.
Die Stelle habe ich nicht gekriegt. Ich galt als zu vernarrt in die süssen, kleinen, quengelnden Dinger, die so hübsch kreischen, wenn ich zubeisse. Aber das hier scheint mir geeignet zu sein. Dozentin an einer Hochschule. Nicht mehr ganz so frisch, die Schüler, aber okay. Ausserdem muss ich eine Anstellung haben, wenn ich nicht zu sehr auffallen will. Streng dich an, Loupine!
Drei Stunden und vier Kaffees später ist es vollbracht, die Plätzchen sind weg. Meine Bewerbung liegt vor mir. Ich bin überzeugt, eine gute Lehrerin für Geschichte zu sein. Ich werde meinen Studentinnen und Studenten die Geschichte so schildern, wie sie war. Aus der Sicht einer Augenzeugin.
In den von Menschen verfassten Büchern steht nirgends geschrieben, wie feucht und muffig sich eine Pyramide von innen anfühlt, wie es in der Hütte des Wikingerherrschers stank oder wie sich die Schreie der Kinder anhörten, wenn sie in den Kohleminen Europas verschüttet wurden. Geschichte ist nicht eine chronologische Aufzählung trockener Fakten, verbunden mit Interpretation des Autors; Geschichte besteht aus Spuren vergangenen Lebens, inklusive aller Gefühle.
Ich werde mit meinem blonden Lockenkopf den Vorlesungssaal betreten, die wissensdurstigen jungen Menschen begrüssen und ihnen mit Hingabe ihre eigene Geschichte erzählen. Sie werden mich lieben, oder sterben.
***
Wow - ein Brief von der Schule. Ich kann zum Vorstellungsgespräch erscheinen. Dieses Mal darf ich es nicht versauen. Ich werde mir Mühe geben, alles richtig zu machen.
Vor dem Spiegel versuche ich, mich an alle verführerischen Details der Schminktechnik zu erinnern. Ich habe schon so viele attraktive Frauen getroffen, da muss doch auch etwas für mich dabei sein. Dezent, wie Charlize Theron oder doch lieber auffällig wie Madonna? Dezent. Ich bin eine vornehme, aber zurückhaltende Lady, die Geschichte studiert hat. Brille? Nein, wirkt zu aufgesetzt.
Mit meinem 66er Mustang Cabrio fahre ich zur Schule und parke die Perle auf einem freien Stellplatz für Besucher oder zumindest gleich daneben. Ein Jüngling, wahrscheinlich einer der Schüler pfeift. Na ja, er pfeift noch.
Staunend betrete ich das vollkommen geschmacklose Gebäude. Da hat wohl jemand am Geld gespart. Es sieht aus wie die HLM in Frankreich oder die Betonbauten im ehemaligen Ostdeutschland. Beiger Elementbau mit Flachdach. Würg.
Passend zum Gebäude ist die Empfangsdame beim Rektoratsbüro. Lieber würde ich fasten, als die zu beknabbern.
Als kleiner Leckerbissen stellt sich jedoch dann die Rektorin der Schule heraus. Brünette, etwa um die vierzig Jahre alt, sportlich trainiert, feste Brüste. Ich werde mich konzentrieren müssen.
Sie bittet mich, am Konferenztisch Platz zu nehmen und lässt mir ein Wasser bringen.
"Welche Referenzen haben Sie, Frau Wolff?"
"Ich habe schon vielen einflussreichen Personen gedient und dabei sehr viel über Geschichte gelernt."
Sie lächelt. "Ich meine, wo haben Sie schon unterrichtet?"
"Das wäre meine erste Stelle. Aber niemand kennt die Geschichte der Menschheit besser als ich."
Erneut lächelt sie; ich schmelze langsam vor mich hin und meine Augen werden gelb.
"Das sind grosse Worte, Frau Wolff. Eigentlich brauche ich Zeugnisse und Empfehlungen. Sie sind mir jedoch sympathisch und wir brauchen unbedingt eine Lehrperson für Geschichte. Ich schlage Ihnen daher vor, die nächsten vier Wochen in Probe zu arbeiten. Wenn Sie sich gut anstellen, dann haben sie die Stelle auf sicher. Wie klingt das für Sie?"
Sie schaut mit ihren braunen Augen über den dunklen Brillenrand, legt ihr Haar kokett zur Seite und lächelt.
"Ich bin einverstanden, Frau Franklin", beeile ich mich zu sagen. Wow, ich habe die Stelle.
Wir reichen uns zum Abschied die Hand. Sie hat einen warmen, angenehmen Händedruck, der mich eine seltsame Energie spüren lässt.
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