8 - Tödliche Neugier
Laurie stellt ihr Fahrrad in die Garage. Erfreut stellt sie fest, dass ihre Mutter nicht zuhause ist. Die Unterhaltung im Wohnwagen hat das Mädchen neugierig gemacht. Sie fühlt sich sicher, vertraut auf ihren Spürsinn. Im Wohnzimmer liegen die Schlüssel zu Moms Wagen. Laurie eilt die Treppe hoch, in ihr Zimmer und packt einige Sachen in eine Sporttasche. Fotoapparat, Taschenlampe, Mütze, Handschuhe und eine warme Decke. Sie schnappt sich auch einen leeren Rucksack. Laurie streichelt kurz ihren Teddy Pummel. Unten stibitzt sie sich die Autoschlüssel, legt eine kleine Notiz auf die Ablage und schleicht wieder in die Garage.
Laurie setzt sich ans Lenkrad des Toyotas. Sie befestigt ihr Handy am Armaturenbrett und tippt eine Karten-App an. Das Navi des Wagens ist ihr zu kompliziert, zudem möchte sie nicht, dass ihre Mutter später weiss, wo sie wirklich hinfährt.
Per Knopfdruck öffnet sich das Garagentor, Laurie startet den Wagen und rollt geräuschlos aus der Garage. Zum ersten Mal ist das Mädchen dankbar, dass ihre Mutter einen Hybrid fährt. Elektrisch kann man sich unbemerkt davonschleichen. Der Wagen gleitet über die Strasse, schon bald hat Laurie den Stadtrand erreicht.
Die kurvige Strasse in die Berge verlangt ihr einiges an Geschick ab, sie hat noch nicht die Routine wie andere Kids in ihrem Alter. Sie hatte bisher keinen Grund, selbst zu fahren, obwohl sie längst den Führerausweis besitzt. Dann und wann gerät sie auf den Seitenstreifen, was sie jeweils ruckartig korrigiert.
Laurie fährt am Parkplatz beim Aussichtspunkt vorbei. Ein Schauer überkommt sie, es wird ihr kalt. Hier haben Peter und Trentin ihren Tod gefunden. Mit einem Mal wird ihr bewusst, dass ihre Idee womöglich nicht die beste sei, doch sie fährt weiter.
Plötzlich denkt Laurie an ihren Traum. Die Rehe, sie kann die Tiere noch grasen sehen. Dann der Wolf. War das wirklich Loupine? Wer sonst? Sie denkt kurzzeitig an ihren Pummel und an ihr Zimmer. Das Handy am Armaturenbrett piepst. Laurie hat die Abzweigung links verpasst.
"Pummel, worauf habe ich mich bloss eingelassen?" Laurie stoppt den Wagen und beginnt mit einem Wendemanöver. Auf der engen und unübersichtlichen Strasse ist das nicht einfach. Von rechts sieht sie einen riesigen Schatten auf sich zuschiessen, der Schatten brüllt bestialisch, Laurie schreit und beschleunigt. Der Toyota landet im Gras, hinter ihm schiesst der gewaltige Truck immer noch hupend vorbei.
Der sonore Sound des Drucklufthorns senkt sich um einen Ton, sobald der Truck den Toyota passiert hat. Laurie legt den Kopf auf das Lenkrad. Einige Lämpchen blinken, ein elektrisches Piepsen mach sie darauf aufmerksam, dass der Wagen noch immer eingeschaltet ist und auf ihre Befehle wartet. Laurie legt den Rückwärtsgang ein, gibt mit dem rechten Fuss sachte Energie und rollt aus dem Strassengraben.
Dann fährt sie zurück in Richtung Stadt. Diesmal verpasst sie die Ausfahrt nicht, biegt rechts ab und folgt dem schmalen Weg in das Seitental. Laurie fährt sehr langsam, beobachtet dabei den blauen Punkt auf ihrem Handy. Etwa drei Kurven vor dem Gebäude zweigt ein Waldweg ab. Dort parkt das Mädchen den Wagen. Aus diversen Filmen weiss sie, dass sie rückwärts einparken muss, um im Notfall schneller fliehen zu können. Ihr Handy stellt sie auf Flugmodus, denn sie will nicht durch eine eintreffende Nachricht entdeckt werden. Das Telefon legt sie dennoch in ihren Rucksack.
Vorsichtig verlässt Laurie ihren 'Parkplatz'. Sie schmunzelt, als sie sich darüber klar wird, dass ihre schwarze Kleidung heute Abend von Vorteil ist. Das Mädchen schleicht bergan, etwas abseits der Strasse. Langsam zunehmender, stechender Schmerz in ihrer Seite erinnert sie daran, vielleicht doch etwas mehr Sport zu machen. Der Wald hat kein richtiges Unterholz. Fichten stehen nah beieinander, einzelne Büsche stehen dazwischen, wodurch sie gut vorankommt, aber weniger Deckung hat. "Blutfichte. Bitte sei heute Abend auf meiner Seite."
Etwas höher als das Gebäude legt sich Laurie auf die Lauer. Sie kann das Gelände gut überblicken. Scheinwerfer, wie man sie in Sportstadien oder auf Industrieanlagen verwendet, beleuchten den Vorplatz. Nirgends ist eine Spur von Franklin zu sehen. Einige Männer in Overalls hantieren mit Kisten. Andere in Uniform stehen daneben. Diese Männer sind bewaffnet. Das scheint wertvolles Material zu sein, das die Männer dort umherschieben.
Laurie schiesst einige Bilder. Ihre Kamera hat ein starkes Zoom, sie kann sogar die ausdruckslosen Gesichter erkennen. Die Beschriftung der Kisten jedoch ist zu klein. Sie muss versuchen, näher an das Gelände heranzukriechen. Vorsichtig schleicht Laurie vorwärts, möglichst ohne ein Geräusch zu verursachen. Auf einmal stolpert sie, fällt hin und bleibt liegen. "Mist, hoffentlich hat das niemand gehört", tadelt sie sich selbst.
Unten auf dem Platz nimmt sie keine Veränderungen wahr. Die Männer machen weiter wie zuvor. Als Laurie nah genug ist, nimmt sie wiederum die Kamera und stellt den Sucher auf die Kisten scharf.
"Blut, Luzie Jones. Es ist Blut. Du hattest recht."
Laurie lässt die Kamera fallen und dreht sich panisch um. Hinter ihr steht ein Reh. Vor ihren Augen verwandelt sich das Reh allmählich in einen Menschen - in Miss Franklin! Sie reibt sich die Stirn, dann dreht sie den Kopf. Laurie blickt in leuchtend violette Augen.
***
"Kevin! Willkommen. Chu ist schon im Wohnwagen. Kommt Laurie auch noch?"
"Ja, Mr. Pheng, sie wird auch kommen. Wir möchten einen Filmabend machen. Netflix."
"Schön. Was wollt ihr euch denn ansehen, hein? Gruselfilme?"
"Bloss nicht, davon haben wir hier genug! Ich bin sogar bereit, eine kitschige Gefühlsschnulze zu ertragen. Bloss kein Blut - nicht heute Abend."
"Schlimme Sache, stimmt. Wenn ihr Lust auf Pizza habt, dann kommt ins Haus. Ich stehe gerade in der Küche. Viel Spass, euch dreien!"
"Danke, Mr. Pheng." Kevin geht aussenrum, durch den Garten. Aus dem Wohnwagen dröhnt laute Musik. Anklopfen kann er sich demnach sparen.
"Chu?", schreit er in die Musik hinein.
Der schwarz behaarte Kopf der Sportlerin schwenkt um den Kühlschrank. "Nerdie! Komm rein! Bringst du Laurie gleich mit?"
"Ehm, nein. Eigentlich hoffte ich, sie sei schon hier." Kevin klettert in den Wohnwagen.
Chu dreht due Musik leiser. "Nein, ist sie nicht. Hi, erstmal." Die zwei umarmen sich kurz.
"Das ist seltsam. Laurie ist nie zu spät."
"Ehm ..., ausser immer! Das meintest du doch, Kev, oder etwa nicht?"
Die beiden lachen, dann gibt Chu ihrem Freund eine Cola. "Lass uns quatschen, sie kommt bestimmt bald."
"Dein Dad ist echt in Ordnung! Er macht Pizza für uns."
Chu lacht. "Ja, Daddy ist okay. Er hätte Barkeeper werden sollen, oder ein Restaurant eröffnen. Er ist echt der beste Koch, den ich kenne. Mom muss nie kochen."
"Wie ist das, wenn man eine Mutter und einen Vater hat?"
"Was meinst du damit?", Chu dreht die Musik noch leiser.
"Ich wohne bei meinen Grosseltern. Mein Dad ist der grosse Mr. Unbekannt und meine Mutter hat mich kurz nach der Geburt bei ihren Eltern abgeladen."
Sie setzt sich auf die Couch. "Komm her - was faselst du da? Du kennst deine Eltern nicht?"
"Nein. Deshalb bin ich auch so oft im Internet. Ich suche nach ihren Spuren. Grandma sagt, ich soll es lassen. Aber ich will es wissen."
"Wow! Das muss hart sein. Darum sprichst du nie von dir?"
"Ja, auch." Kevin nimmt einen Schluck Cola. Es entsteht eine kleine Pause der Stille.
"Du magst Laurie, nicht wahr?"
"Ja, ich mag sie sogar sehr. Sie hat mich gesehen, einfach so, mitten in der Masse. Sie ist direkt, unbekümmert, ehrlich. Sie ist so, wie wir Menschen alle sein sollten. Einfach sie selbst."
"Ja, ich weiss, was du meinst. War bei mir auch so. Sie hat sich einfach für mich eingesetzt, ohne nachzufragen, ohne mich zu kennen. Sie ist schon eine tolle Frau. Sie sollte bloss etwas mehr Sport machen!" Beide lachen.
"Das sollte ich wohl auch. Du könntest unsere Fitnesstrainerin werden, Chu."
"Weg mit der Cola! Dort drüben steht Wasser. Das wird ganz schön hart für euch zwei, das darfst du mir glauben!"
"Wo bleibt sie nur? Ich rufe sie an."
Chu schmunzelt. "Süss. Tu das. Ich richte die Snacks an."
Kevin wählt Lauries Nummer. Sofort wird er an einen Beantworter umgeleitet, das Telefon scheint ausgeschaltet zu sein. Er versucht es ein zweites Mal. "Das ist seltsam. Laurie stellt ihr Telefon nie aus. Chu - ich habe Angst."
"Hast du ihre Nummer von zuhause?"
"Ja." Kevin wählt die Nummer.
"Ja bitte?"
"Mrs. Jones? Hier ist Kevin. Ist Laurie zuhause?"
"Hi, Kevin, nein. Sie wollte doch zu euch zum Filmabend. So steht es auf dem Zettel, der hier liegt. Deshalb hat sie auch meinen Wagen genommen - wegen der Getränke, steht hier. Ist sie nicht bei euch?"
"Nein, Mrs. Jones, ist sie nicht."
"Bleibt, wo ihr seid. Mein Mann und ich kommen sofort."
Die Verbindung wird unterbrochen.
"Und?" Chu blickt Kevin fragend an.
"Ihre Eltern kommen her. Da stimmt was nicht, Chu."
"Lass uns ins Haus gehen." Chu stellt die Musik aus und löscht beim Hinausgehen das Licht. Nur wenig später biegt ein moderner, giftgrüner Camaro in die Einfahrt.
Praktisch gleichzeitig treten alle in Chus Haus. Ihr Dad begrüsst Lauries Eltern. "Hi, ich bin Boyu Pheng und das ist meine Frau Lan. Herzlich willkommen in unserem Haus."
"Hi. Danny und Claire Jones, sehr erfreut."
Chus Vater führt alle durch einen offenen Flur, vorbei an der freistehenden Kochkombination, hinunter in den etwas abgesenkten Wohnraum, wo die gewaltige, ums Eck gezogene Couch steht, an deren Rand ein grosszügiger Kamin den Raum elegant abgrenzt. Alle setzen sich auf die Couch. Chus Mutter bringt Wasser. Vorerst herrscht eine bedrückende Stille, welche Claire schliesslich durchbricht.
"Also. Was ist hier los? Wo ist meine Tochter?"
"Mrs. Jones, wir wissen es nicht. Wir waren zum Filmabend verabredet. Laurie sollte die Getränke mitbringen. Kevin und ich waren schon da, sie ist nicht gekommen und ihr Telefon ist ausgestellt."
"Bitte nicht!" Lauries Vater nimmt sein eigenes Telefon zur Hand und tippt einige Dinge ein. "Flugmodus! Ich hatte sie gebeten, das Ding immer bei sich zu haben! Nicht erreichbar, Claire, nicht einmal für uns."
"Wo kann sie hin sein? Kommt schon, erzählt mir endlich, was hier los ist!"
Chu erschreckt sich ob der Stärke, die in Mrs. Jones Stimme mitklingt. Das ist gar nicht die Langweilerin, die Laurie immer beschrieben hat.
"Mrs. Jones, wir müssen Ihnen einiges erzählen, denke ich."
***
Laurie sitzt auf dem feuchten Gras, ihr Rucksack liegt mindestens einen Meter von ihr entfernt. Neben Miss Franklin sind vier von den bewaffneten Männern aufgetaucht. Ihre milchigen, seelenlosen Augen sehen furchteinflössend aus. Laurie zittert am ganzen Körper.
"Tja, Miss Jones, du hättest wohl auf dein Haustier hören sollen. Hat Loupine dich nicht ausdrücklich vor mir gewarnt?"
"Sie sind eine Gestaltwandlerin. Aber nicht nur. Was sind Sie?"
"Du hast das Reh gesehen. Du bist intelligent, empfänglich und stellst die richtigen Fragen, kleine Luzie. Das mag ich an dir; hast du wohl von deiner Mutter. Deine Neugier hingegen mag ich weniger; die hast du eindeutig von deinem Dad. Vielleicht wirst du erfahren, was ich bin, vielleicht auch nicht. Eher nicht." Die Rektorin dreht sich zu ihren Männern.
"Schnappt euch ihr Zeugs und führt meine kleine Schlampe in einen Aufnahmeraum. Worauf wartet ihr? Und lasst den lächerlichen Wagen verschwinden, mit dem sie hergekommen ist!"
Die Männer stossen einen unmenschlichen, schrillen Schrei aus. Dann packen sie Laurie an Armen und Beinen. Sie kann sich nicht wehren, die Kerle sind stark. Als sie das Gebäude erreichen, steht Michelle bereits da. Sie lächelt, als die Männer Laurie an ihr vorbeitragen.
Hinter dem Tor liegt eine grosse Halle. Die Männer tragen Laurie durch eine weitere Tür, hinter welcher ein langer Gang liegt. Die Wände sind aus rohem Beton, an der Decke hängen gewöhnliche Leuchtstoffröhren, die summen, es ist kühl und riecht klinisch sauber. Laurie wird am Ende des Ganges, kurz bevor sie eine Art Lift erreichen, links in einen Raum getragen. Der Raum ist ganz in weiss gestrichen. In der Mitte hängt eine Operationsleuchte von der Decke und darunter steht eine Liege mit grünem Polster. Die Männer fixieren Laurie auf der Liege, legen ihr enge Bandagen um den Körper und ziehen die Gurten fest.
Michelle setzt sich auf den schwarzen Hocker neben der Liege. "Hast du schon Angst, kleine Miss Jones?" Sie spricht langsam. Ihre Stimme ist hallend, tief.
Laurie fährt der Schrecken in Mark und Bein. "Loupine wird mich retten. Ich weiss es."
Michelle lacht schallend, schrill. "Loupine? Das tausendjährige Kuscheltier? Niemals. Du glaubst an ihre Kräfte, nicht wahr? Dann mach dich auf eine ganz neue Erfahrung gefasst, Luzie Claire Jones. Denn nun wirst du lernen, was echte Kräfte sind!" Miss Franklin nimmt Lauries Hand. Augenblicklich schiesst heisse Energie durch ihren Körper. Laurie weiss nicht, was geschieht, dann wird alles schwarz.
***
"Wie war das? Seid ihr noch zu retten? Ich glaube, ich dreh gleich durch!" Claire Jones ist aufgestanden und tigert nervös im Wohnzimmer auf und ab.
Chu und Kevin sitzen geknickt auf dem Sofa, ihre Köpfe hängen. Chus Eltern versuchen, die Szene zu begreifen.
Claire bleibt stehen. "Es gibt bisher vier Tote, richtig? Und ihr naiven Teenager denkt, ihr seid dem gewachsen? Oh Mann!"
"Claire, beruhige dich, bitte. Dein Wutausbruch hilft nun auch nicht weiter."
"Danny! Deine Ruhe möchte ich einmal haben! Das ist deine Tochter, die da draussen verschollen ist! Verstehst du das? Und ich bin daran schuld!" Claire setzt sich und weint. Danny nimmt sie in den Arm.
"Claire, vielleicht solltest du unseren Freunden hier zuerst einmal erklären, wer du wirklich bist. Danach können wir die Rettung unserer Tochter organisieren."
Claire schluchzt, fasst sich und atmet stark ein und aus. "Mein Name ist Commander Claire Jones. Ich leite eine streng geheime Truppe erfahrener Kämpfer der CIA. Wir jagen diesen Wolf seit vielen Jahren." Claire hat ihren Kopf gesenkt und spricht nur leise.
Kevin räuspert sich. Claire bewegt sich müde und schaut ihn fragend an.
"Ehm, ... Mrs. Jones, da ist noch etwas. Es geht nicht um Miss Wolff. Loupine Wolff hat sich heute auf unsere Seite geschlagen und uns gewarnt. Ich fürchte, wir haben es mit weit gefährlicheren Wesen zu tun."
"Bitte sage mir, dass das nicht wahr ist."
Kevin hebt entschuldigend die Schultern, Chu weint und nickt, ihr Vater hat sie längst in den Arm genommen. Aus der Küche riecht es verführerisch nach Pizza.
Claire wirft ihre Arme in die Höhe und dreht den Kopf hin und her. "Scheisse, verdammt!" Sie stützt sich zwischen den Händen auf. Ganz leise sagt sie nach einer kurzen Pause: "Danny - dein Gebiet. Du bist dran!" Dabei schaut sie ihren Mann an.
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