7 - Tag 05 der neuen Zeitrechnung
Laurie
Früh aufstehen ist ätzend! Alles tut weh, als hätte ich zu viel Sport gemacht. Zuerst bloss einen Fuss, dann den andern. Decke weg, raus aus dem warmen Bett. Badezimmer ohne Licht. Es ist hell genug und ich will nicht alles sehen. Das runde Teil, das mich aus dem Spiegel anblickt, kann unmöglich mein Kopf sein! Duschen, ganz dringend duschen!
Das warme Wasser perlt über mich und rinnt an meinem Körper hinab. Es weckt die Lebensgeister, die da irgendwo drin sind. Eigentlich möchte ich die kleinen Kerlchen mal sehen. Putzig oder hässlich? Ich stelle sie mir putzig vor. Irgendwie süss, wie ... Kevin. Stopp! Laurie Jones - du stehst unter der Dusche und wirst jetzt nicht an Kevin denken!
Beim Kaffee ist er dann wieder da. Das war ganz schön knapp - also vor allem schön. Zum ersten Mal fühle ich so etwas wie Schmetterlinge im Bauch, wenn ich an einen Jungen denke. Wie hätte sich der Kuss wohl angefühlt? Meine Fantasie gibt mir mehrere Gefühlsvarianten zur Auswahl - und mit den meisten davon könnte ich durchaus leben. Scheiss Telefon! Doch Chu hat richtig gehandelt. Denise war zusammengebrochen und wir mussten sie holen gehen. Das tun Freunde nun mal. Der Arzt meinte, das werde schon wieder, wollte sie aber dennoch da behalten. Heute werden wir sie besuchen gehen, das arme Ding.
Die Schule ruft. Wie gestern diese Schreie, die ich beim Gespräch mit Dad gehört habe. Was war da los? Ich werde es erfahren. Fahrrad oder Schulbus? Die Rücklichter des gelben Gefährts beantworten meine Frage. Sport.
Völlig ausser Atem erreiche ich das Schulareal. Die Wirkung der Dusche ist bereits verpufft. Einmal mehr gibt es eine Menschentraube vor der Schule. Mein Fahrrad parke ich an einen Baum und sichere es mit der Kette, bevor ich zum Eingang haste. Chu eilt auf mich zu, sie scheint seltsam fröhlich zu sein. "Chu, was ist denn heute schon wieder los?"
"Saunders! Er ist weg!"
"Wie ... weg? Für immer oder krank?"
"Da steht, dass Sport vorübergehend ausfalle - was echt nicht lustig ist. Aber es steht auch, dass Saunders nicht an unsere Schule zurückkehren wird. Das ist so gut zu hören! Die Mädchen sind ausser sich!"
"Nennt man einen Grund?" Die Schreie! Loupine! Mir wird kalt.
"Laurie! Wen interessiert schon der Grund? Der Kerl ist weg, das ist alles, das zählt. Was ist bloss los mit dir? - Hey, du hast keinen Sport in den nächsten Tagen; das sollte für dich Grund genug zur Freude sein!"
Das stimmt allerdings, doch mich würde der Grund trotzdem interessieren. Chu und ich schlendern zu unseren Spints, schnappen die Bücher und wollen zum Klassenzimmer gehen, als eine Lautsprecherdurchsage uns in die Aula ruft. Schon wieder? Das wird allmählich zur Gewohnheit.
Auf dem Weg dahin kommen wir am Büro der Rektorin vorbei. Franklin scheint echt sauer zu sein. Sie schreit wild um sich und tadelt jemanden echt hässlich. Klingt, wie wenn ich wieder mal Hausarrest kriege. Wenn ich bloss sehen könnte, wen sie derart rügt. Die Person steht auf - Loupine!
Wir drängen in die Aula und belegen Plätze weit vorne. Kevin stösst zu uns, lächelt mich an, als ich mich in die Mitte von uns dreien setze. Schmetterlinge. Der Sheriff betritt die Bühne. Er sieht müde aus.
"Kinder, bitte hört mir zu. Einmal mehr muss ich euch über zwei Todesfälle, die eure Schule betreffen, informieren."
"Hat er gerade 'zwei' gesagt? Wer fehlt?" Chu blickt um sich.
Wir drehen uns, alle anderen tun es uns gleich. Die Cheerleaders heulen. Billie fehlt!
"Bitte beruhigt euch. Wie ihr bestimmt schon aus den sozialen Medien und den Nachrichten wisst, eure Kollegin Billie Stenton wurde gestern Abend brutal ermordet, wie auch euer Sportlehrer, Mister Saunders. Die Umstände sind noch nicht geklärt. Wir suchen nach Zeugen. Wir werden die Schule einige Tage schliessen müssen, bis wir den Täter dieser abscheulichen Mordserie geschnappt haben."
Inzwischen ist Miss Franklin zu uns gestossen, von Loupine fehlt jede Spur. Franklin tritt ans Mikrofon. Im Saal wird es schlagartig ruhig.
"Liebe Schülerinnen und Schüler. Wir sind alle fassungslos, unsere Schule und ganz Bozeman werden von einem Terror heimgesucht, den niemand von uns verdient. Der Sheriff wird Unterstützung aus Washington erhalten, das FBI wird den Fall übernehmen; er hat höchste Priorität. Man schickt uns auch eine Truppe Spezialisten des Militärs. Bozeman wird einige Tage lang im Ausnahmezustand sein. Heute Nachmittag wird der Bürgermeister informieren.
Eure Eltern werden in diesem Moment durch meine Mitarbeiterinnen benachrichtigt. Die Schule bleibt bis auf weiteres geschlossen. Bitte haltet euch an die Weisungen der Behörden und seid nie allein unterwegs. Nach Einbruch der Dunkelheit solltet ihr euch nicht mehr draussen bewegen. Wer die Stadt während dieser Zeit verlassen will, soll das tun. Ich werde euch informieren, wenn wir den Betrieb wieder aufnehmen können. Das ist im Moment alles, was wir sagen können."
Franklin ist wütend, das spüre ich bis hierher. Sie ärgert sich über die Polizeipräsenz, das ist klar; aber aus welchem Grund? Was hat mir Loupine verschwiegen? Wir verlassen mit den anderen zusammen die Aula, ich vermeide jeden Blickkontakt mit der Rektorin; bloss weg hier.
Bei unserer Blutfichte setzen wir uns an den Tisch. Wir haben alle Angst. Krass, was da abläuft. "Was nun? Sollen wir zum Wohnwagen fahren, damit wir reden können? - Chu, was ist los mit dir? Geht es dir gut? Kevin, hole uns Getränke bitte."
Chu sitzt bleich und mit krummem Rücken da. "Ich kann es nicht fassen. Saunders und Billie. Dieser Arsch hat Billie auf dem Gewissen! Seit einiger Zeit hat er sich vor allem auf sie konzentriert."
Kevin bringt uns Cola, er setzt sich gegenüber.
"Komm her!", ich umarme sie. "Es ist schlimm, was mit Billie geschehen ist. Wir kennen die Umstände nicht. Aber es ist vorbei, der Typ ist Geschichte."
"Apropos Geschichte: Hat jemand von euch Miss Wolff gesehen? Sie war nicht in der Aula."
"Sie war im Büro der Rektorin. Es schien, als habe sich Franklin mächtig über Loupine aufgeregt."
"Meint ihr, es war sie? Miss Wolff hat Billie und Saunders ...? Das wäre abgefahren, ich meine schockierend." Kevin schüttelt seine roten Locken.
"Wir wissen es nicht, Kev. Möglich wäre es aber schon - denke ich. Es ist alles zu verwirrend. Wollen wir? Geht es wieder, Chu?" Sie nickt und dankt mir. Kevin ist mit dem Pickup seines Grossvaters hier. Praktisch, mein Fahrrad legen wir hinten rauf. Als Kevin in Chus Strasse einbiegt, sehen wir den auffälligen Mustang vor ihrem Haus stehen. Kevin stoppt.
"Loupine! Was will sie hier?"
"Lasst es uns herausfinden. Ich habe euch doch von gestern erzählt. Ich denke, sie steckt in der Klemme. Fahr schon, Kev. Ich denke, sie ist keine Gefahr für uns."
Chu krümelt sich in ihren Sitz. "Und wenn du dich irrst, Laurie? Ich traue ihr nicht. Ich habe Angst."
"Ich möchte auch nicht als Hamburger enden, Luzie! - Autsch!" Den Schlag hat er verdient, verbunden mit einem bösen Blick.
"Fahr schon! Vertraut mir - sie ist nicht grundsätzlich bösartig."
Loupine sitzt entspannt im Garten und unterhält sich mit Chus Mutter. Sie trinken Limo. Was für ein abartiges Bild. Obwohl, was ist daran schräg? Eine attraktive Blondine trinkt Limo mit Lucy Liu - hey, noch eine Lucy. Chu hat mir nie erzählt, wie schön ihre Mutter ist - nun, von irgendwo hat sie es.
"Chen Lu, Schatz! Kinder, da seid ihr ja! Das ist alles sehr schrecklich. Ich bin froh, dass es euch gut geht. Miss Wolff hat mir alles erzählt."
Alles? Wohl kaum, wie mir ihr bettelnder Blick bestätigt. Mein Grinsen versuche ich so gut wie möglich zu verstecken, verstehe und werde das Spiel mitspielen. "Miss Wolff, wir haben doch heute keine Nachhilfe, oder?"
"Nein, Laurie. Ich möchte etwas anderes mit euch besprechen und habe deshalb hier auf euch gewartet. Dabei konnte ich deine Mutter kennenlernen, Chu. Vielen Dank für den netten Empfang, Mrs. Pheng."
"Nennen Sie mich Lan, Loupine, bitte." Chus Mutter verabschiedet sich von Loupine, räumt die Getränke weg und lässt uns allein.
Im Wohnwagen setzen wir uns an den Tisch. Drei Augenpaare, die sich gespannt auf einen blonden Lockenkopf richten; schräg. Chen Lu - Chu ist demnach eine Abkürzung. Sieh an, meine Freundin hat auch ihre kleinen Geheimnisse.
"Ihr liegt richtig, wie mir Luzie gestern bestätigt hat. Ihr wisst, was ich bin. Nun stellt endlich eure Fragen." Sie lehnt sich entspannt zurück.
"Das warst wieder du, gestern Nacht? Ich habe die Schreie gehört."
Loupine senkt den Blick. "Seit vielen Jahren versuche ich, mich besser kontrollieren zu lernen. Der Tag gestern war aufwühlend - aber dazu später mehr. Als ich dann diesen Lustmolch mit der Tusse gesehen habe, ist es passiert. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich schäme mich auch dafür."
Chu reisst die Augen auf und weicht zurück, sie hat sichtbar Angst. Kevin ist bleich und grün zugleich. Die Einzige, die lächelt, bin ich. "Saunders zähle ich in die gleiche Kategorie wie Trentin. Um den ist es nicht schade. Aber Billie! Sie war dumm, sicher, aber deswegen hätte man sie nicht gleich töten müssen. Dummheit ist kein Verbrechen. Das war kein Meisterstück von dir, Loupine, bei allem Respekt."
Kevin geht raus, ihm ist schlecht geworden.
Loupine fixiert mich mit ihren schönen, blauen Augen. "Du hast immer noch keine Ahnung, Luzie. Was du tust, ist gefährlich. Naiv und gefährlich. Du bist aber schon die zweite heute, die mich wegen gestern Nacht rügt."
"Franklin! Was ist sie?"
"Nicht jetzt, Luzie, ich habe nur wenig Zeit. Sie hat mich rausgeworfen und mir gedroht. Ich soll die Stadt verlassen, sonst hetzt sie mir den Sheriff auf meinen schönen Pelz."
Diese Bemerkung bringt nun auch Kevin, der inzwischen wieder hereingekommen ist und Chu etwas zum Lächeln. Die Stimmung entspannt sich.
"Wow, ich fasse es nicht. Wir sitzen hier mit einem echten Werwolf und trinken Limo. Das glaubt mir kein Mensch, wenn ich das in meinen Blog schreibe."
"Da hast du womöglich recht. Vor mir braucht ihr euch nicht zu fürchten, das hat Luzie euch zu Recht gesagt. Du bist das Computergenie. Kevin, richtig?"
"Ja, Miss Wolff."
"Loupine, bitte."
"Freut mich. Ja, ich bin der Nerd - das sieht man doch."
Sie lacht und wirft ihr Haar nach hinten. "Stimmt. Wenn du deine Klamotten besser aussuchen würdest, hättest du einen heissen Körper, mein Junge." Chu und ich lachen hemmungslos über Loupines Bemerkung.
"Halt, Timeout! Ich nehme keine Bekleidungsratschläge von einem Werwolf entgegen und von einer Lehrerin schon gar nicht. Wie alt bist du eigentlich?"
"Alt - Aber ich habe mich verdammt gut gehalten." Sie wirft sich in Pose, ihre Bluse spannt.
"Das ... ist allerdings wahr, stimmt." Kevin mustert sie einen Moment zu lange.
"Was wolltest du uns sagen, Loupine?" Diesen Flirt zwischen den beiden muss ich unterbrechen. Geht ja gar nicht!
"Wow, immer langsam, Luzie. Kein Grund zu knurren! Er ist tausendfach zu jung für mich. Aber du solltest zu ihm Sorge tragen. Er ist ein guter Kerl - und die sind selten genug."
Chu giggelt. Ich nerve mich. Kevin trinkt verlegen etwas Limo und schielt zu mir; dann lache ich auch. Wir sind vielleicht eine seltsame Truppe!
Loupine fasst sich als erste wieder und stützt ihre Arme auf den Tisch. "Zurück zu ernsthaften Themen. Hört mir zu: Gestern Nacht, nach unserem Gespräch, Luzie, wollte ich etwas allein sein, weil ich mich aufgeregt hatte, und fuhr dazu in die Berge."
Loupine erzählt uns von den Beobachtungen, die sie gemacht hat. Kevin öffnet seinen Laptop.
"Das ist verrückt, Loupine. Das deckt sich mit einigen Vermutungen, die ich im Darknet gefunden habe. Da spricht man von Versuchen an Menschen. Schaut her."
"Du solltest die Finger vom Darknet lassen, Kevin. Kein sicherer Ort für einen Jungen wie dich."
"Keine Bange, ich weiss, was ich mache. Aber danke für den Tipp, Frau Lehrerin."
Kevin zeigt uns seine Entdeckungen. Offenbar geht es um dieses Labor, von welchem wir schon einmal gesprochen haben. Und genau dort sollen grausame Versuche durchgeführt werden, wie Kevin damals schon vermutete. Man spricht von veränderter Psyche bei den betroffenen Menschen - und die entsprechenden Ergebnisse können gegen hohe Bitcoin-Beträge erworben werden. Loupine hat nun herausgefunden, dass die Franklin tatsächlich in diesem Geschäft mit drinsteckt. Das kann kein Zufall sein. Wir müssen unbedingt erfahren, was dort vor sich geht.
"Eure Nachforschungen sind gefährlich. Ihr solltet meine Beobachtungen an den Sheriff weitergeben. Ich kann das nicht tun, ich muss fliehen. Aber ich werde in der Nähe bleiben und auf euch aufpassen. Trotzdem solltet ihr eure Nachforschungen einstellen und euch eine Weile ruhig verhalten. Vor allem du, Laurie Jones! Haltet euch fern von Michelle. Sie ist gefährlich; tödlich!"
"Werden wir uns wiedersehen?"
"Ja, Luzie, werden wir. Ich kann dir nicht sagen, wann und wo, aber wir sehen uns wieder - falls du auf dich aufpassen kannst."
Loupine steht auf und verabschiedet sich von uns. Als wir uns kurz drücken, schiesst wieder diese eigenartige Energie durch meinen Körper. Wenig später rauscht ihr Mustang aus der Stadt. Wir stehen draussen im Garten.
Chu blickt ihr nach. "Sieh an, sie ist gar nicht übel. Du hattest recht, Laurie. Ich denke, wir können ihr vertrauen."
"Die hat richtig Klasse. Ein zahmer Werwolf - wer hätte das gedacht."
"Zahm? Ich denke, da wären Trentin und Saunders bestimmt nicht deiner Meinung, Kev." Wir lachen. "Chu? Möchtest du uns nicht etwas erzählen?"
"Was denn Laurie?"
"Du heisst Chen Lu."
"Und? Du nennst dich auch Luzie. Da ist doch nichts dabei. Chu ist eine Abkürzung."
"Aber dein Name ist so schön. Warum hast du ihn uns nicht gesagt? Chen Lu Pheng - das klingt richtig romantisch. Und deine Mutter ist ein verdammtes Model! Sie sieht aus, wie Lucy Liu. Nun wissen wir auch, woher du das hast, du Biest."
"Ach wo, hört auf, alle beide. Was machen wir jetzt? Loupine hat uns gewarnt. Wir sollten auf sie hören, sie weiss bestimmt, wovon sie spricht."
"Ich werde meine Entdeckung dem Sheriff schicken. Seine Spezialisten können dann weitere Untersuchungen machen. Wir sollten es aber als unsere Beobachtung darstellen und Loupine nicht erwähnen. Was denkt ihr?"
Wir beschliessen, unsere Nachforschungen vorerst einzustellen und verabreden uns für heute zu einem Netflix-Abend im Wohnwagen. Kevin bringt die Snacks und ich die Getränke.
"Leute, ich muss nach Hause. Ich muss unbedingt mit meiner Mom reden. Irgendwie spüre ich das. Ich hau ab. Wir sehen uns dann heute Abend." Fahrrad runter vom Pickup und schon radle ich heimwärts; aber nicht für ein Gespräch mit meiner Mutter.
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