6 - Loupine & Laurie

Laurie

Der heutige Tag war einfach bloss zum Abhaken. Einen Tag Highschool überlebt, ohne einen nennenswerten Schaden davongetragen zu haben. Check!

Die Stimmung an unserer Schule ist gedämpft. Niemand schreit herum, niemand rennt oder johlt in den Gängen - eigentlich mag ich das ganz gut, wenn bloss der Grund ein anderer wäre. Aber ich kann gemütlich durch die Gänge streifen, wie ein Ozenadampfer durch die Phosphorwellen - oder eher ein verrottetes Handelsboot über den Hudson. Egal, ich floate.

Zum Mittagessen treffen wir uns wieder bei unserer Fichte. Vielleicht sollte ich ihr einen Namen geben. Immerhin sehen wir uns täglich. Von heute an nenne ich sie Blutfichte.

Kevin hat auch schon sein Mittagessen geholt und kommt auf mich zu. Ein göttlicher Anblick! Nicht schmelzen, Laurie - stark bleiben. Wenn ich doch bloss nicht so ein Freak wäre!

"Luzie! Rutsch - ich will neben dir sitzen."

Nie bin ich lieber gerutscht als aus diesem Grund. So tun, als ob ich weit rutsche, doch in Wahrheit nur einige Inches Platz machen. Funktioniert immer. Er setzt sich und unsere Arme berühren sich fast.

"Na, ihr zwei? Platz für mich?" Chu setzt sich gegenüber hin und grinst. "Oops - zu früh?"

"Ach wo, schön, dass ihr schon hier seid." Will heissen: Ja, zum Teufel! Dreh noch eine Runde!

Kevin hört das nicht, er verschlingt sein Hühnchen. Ich schicke Chu einen Augenroller, den sie unschuldig quittiert und dabei lacht. Sie formt eine 'Entschuldigung' mit ihrem Mund, dann lache ich auch.

"Kev! Das ist eklig! Dir tropft Mayonnaise auf dein Shirt!" Chu dreht sich demonstrativ weg.

"Sorry, aber ich habe echt Hunger." Er versucht, sich seinen Fleck mit einer Papierserviette wegzuwischen, was den Fleck nur grösser macht.

"Ja, das sieht man. Möchtest du nicht noch mehr Hühnchen?" Sie guckt mich an.

Augenblicklich bewerfe ich sie mit Pommes. Kevin blickt auf und schüttelt den Kopf.

"Ihr zwei seid heute wieder seltsam drauf! Treffen wir uns nachher im Camper?"

"Ich versuche zu kommen. Ich habe noch Nachhilfe." Die zwei schauen mich an, also ob ich plötzlich eine Cheerleaderin wäre.

"Du hast Nachhilfe? Wobei denn? Mit wem?"

"Geschichte. Mit Miss Wolff." Das sage ich nur sehr leise, schaue meine Freunde dabei schüchtern an.

Chu wirft ihr Besteck auf den Tisch. "Bist du noch zu retten? Mit dem Werwolf?" Chu schüttelt mich. "Hast du nun endgültig Selbstmordgedanken oder ein tödliches Virus, von welchem wir noch nichts wissen?"

"Im Ernst, Luzie, das solltest du dir noch einmal überlegen. Allein mit Loupine?"

"Ach, du nennst sie Loupine, Kevin?" Mein Schock scheint auf meiner Stirn geschrieben; Kevin lacht.

"Eifersüchtig?"

"Nein, was soll das! Sicher nicht!" Aber Chu gegenüber nickt eifrig mit dem Kopf. Wir drei lachen.

"Jetzt mal ernsthaft. Warum machst du das?"

"Erstens habe ich keine Wahl, denn sie hat sich mir aufgedrängt. Zweitens habe ich dadurch vielleicht eine Chance, mehr zu erfahren." Zudem erzähle ich meinen Freunden die Situation mit meiner Mutter und dass Miss Wolff sie offensichtlich kennt.

"Das ist schräg! Die Geschichte wird immer undurchsichtiger und ich habe immer mehr das Gefühl, wir sollten die Finger davon lassen."

"Kevin, du bist super am Computer. Aber im echten Leben bist du etwas zu ängstlich, echt." Chu schaut ihn streng an.

"Es gibt Mädchen, die schätzen das - hoffe ich." Dabei räumt er die Reste unseres Essens weg; ich schmunzle.

"Zumindest einige Hausmannsqualitäten hast du." Chu rollt mit den Augen.

"Ich werde mich mit Loupine treffen und danach sofort zu euch in den Camper kommen, damit ich euch berichten kann, was ich erfahren habe. Passt das für euch?"

Wir verabreden uns für den späteren Nachmittag und trennen uns, denn die Nachmittagsstunden haben wir alle in verschiedenen Kursen.

Mein Kurs ist Psychologie - da bin ich mal gespannt, was der Lehrer erzählt, wenn ich von Werwölfen und Vampiren berichte.

***

Loupine

Nachhilfe mit Laurie Jones, die sich lustigerweise Luzie nennt. Sie hat ja keine Ahnung!

Zugegeben, ich bin auch leicht nervös auf unser Zusammentreffen, denn ich weiss nicht, wie viel von Claire in der Kleinen steckt.

Da ist sie ja! "Hallo, Laurie. Willkommen, setz dich."

"Guten Tag, Miss Wolff. Danke."

"Du kannst mich Loupine nennen. Schliesslich werden wir viel Zeit miteinander verbringen."

"Okay. Worüber wollen wir heute reden?"

"Unser Thema sind die Kreuzzüge und die Tempelritter. Aber eventuell hast du auch noch andere Fragen." Die Kleine blickt mich interessiert an.

"Das ist durchaus möglich. Warum hast du mich angesprochen? Dir ging es nicht um Nachhilfe, korrekt?"

"Du bist ein schlaues Mädchen, Luzie. Dir kann ich nichts vormachen. Du nennst dich Luzie - von Luzifer. Weisst du, womit du dich da einlässt?"

"Ich denke ja, warum?"

"Aber weisst du es auch wirklich? Er versteht keinen Spass, wenn es um seinen Namen geht."

"Du kennst ihn. Als wir uns zum ersten Mal sahen, im Büro der Rektorin. Hast du das auch gespürt?"

"Ja, Luzie. Ich glaube, dein Blick hat mich ebenso getroffen, wie meiner dich."

"Du hast geknurrt, bei Billie. Du bist ein Werwolf."

Wow, sie ist tatsächlich die kleine Claire! Kein Blatt vor den Mund nehmend; geradeaus, direkt. Da muss ich doch leicht lachen. "Ich merke, Luzie, du bist ziemlich clever. Ja, ich bin ein Werwolf. Aber ich weiss nicht, wieviel du von uns weisst."

"Wow! Nicht viel, ehrlich gesagt. Das, was man so auf Wattpad liest oder aus Hollywood sehen kann. Mehr nicht. Ich denke, das ist ziemlich wenig."

"Ja, da hast du recht. Süss! Du liest Werwolfgeschichten auf Wattpad? Gut! Viele davon sind richtig gute Unterhaltung. Und lesen macht sowieso gescheit! Aber die Realität ist wohl leicht anders."

"Du musst mir alles erzählen! Dein Unterricht ist fantastisch. Hast du das wirklich alles selbst miterlebt? Die Ritter, die Kaiser, die Weltkriege - ich meine ... das alles?"

"Ja, Luzie, habe ich. Und ich muss dir sagen, es war nicht immer nur Spass. Wenn du so lebst wie ich, dann hast du ein anderes Zeitgefühl. Ich meine, für mich ist die Zeit nicht etwas Endliches. Für mich ist es bloss ein Raster, das mir hilft, das Erlebte zu ordnen."

"Seit wann lebst du schon?"

"Ich wurde zur Zeit von Nofretete geboren. Das heisst, etwa eintausendvierhundert Jahre vor eurer Zeitrechnung."

"Du meinst, vor der Christlichen Zeitrechnung. Meine hat mal eben vor vier Tagen begonnen."

"Du hast eine eigene Zeitrechnung angesetzt?" Da bin ich nun doch gespannt, was das interessante Mädchen berichtet.

"Ja. Als ich dich und unsere Rektorin traf, war das für mich Grund genug, eine neue Zeitrechnung anzufangen."

Wieder muss ich lachen. "Du bist wirklich erstaunlich, Luzie. Wie hast du das über mich herausgefunden?"

"Ich hatte zuerst bloss eine Ahnung. Dann aber habe ich von dir geträumt."

Luzie erzählt mir ihren Traum als sie ohnmächtig war. Genau das hätte ich vermeiden wollen. Sie ist empfänglich, und er hat sie vorgewarnt. Ich muss das arme Ding unbedingt retten; sie scheint eine ehrliche Seele zu haben. Nein, Luzifer! Dieses Mädchen kriegst du nicht! Und wenn ich dafür sterben muss!

"Luzie, das ist sehr ernst. Du musst mir alles erzählen."

"Wie ist es, wenn man Menschen frisst? Ich meine, bist du nicht auch zur Hälfte menschlich?"

Sie lenkt ab, ich steige vorerst drauf ein. "Nein, ich bin ein Wolf. Mein Aussehen ist bloss Tarnung, nicht Gefühl."

"Aber du suchst dir deine Opfer aus, habe ich recht?"

"Und wieder erstaunst du mich. Ja, das stimmt."

"Dann hast du Stil und bist nicht eine seelenlose Killermaschine."

"Laurie Jones, ich sehe, wir verstehen uns." Und mehr Stil als du habe ich sowieso, du schwarze Vogelscheuche.

"Hast du Peter getötet?"

Achtung, Fangfrage. Einen Moment zögere ich, entscheide mich aber für die Wahrheit. "Ja, Laurie, habe ich. Es war keine meiner besten Taten, das kannst du mir glauben."

"Er war danach ein Zombie. Wieso?"

"Du hast ihn gesehen?"

"Er hat Chun und mich verfolgt. Wir konnten gerade mal so abhauen."

"Ich habe ihn nicht richtig erwischt, beim ersten Mal, meine ich. Er war verdammt stark!"

"Kennst du so etwas wie Reue?"

"Du sprichst wieder Peter an. Ja, er war ein süsser, toller Junge. Auch wir machen Fehler, Laurie, und wir sind uns dessen bewusst. Im Gegensatz zu euch Menschen aber lernen wir aus unseren Fehlern und machen nie den gleichen zweimal."

"Autsch. Ja, darin sind wir wohl Weltmeister. Wie die Fliegen, die immer wieder gegen die gleiche Scheibe knallen. Voll dämlich. Und Trentin? Warst das auch du?"

"Er hatte es verdient. Er war ein Schwein und eine Gefahr für alle Mädchen hier. Der musste weg, basta!"

"Aber töten? Hätte es da nicht andere Möglichkeiten gegeben?"

"Betriebswirtschaftlich betrachtet - nein. Minimaler Aufwand, maximaler Gewinn."

"Du denkst betriebswirtschaftlich?"

"Ein Begriff, den ich vor einigen Jahren bei euch Menschen aufgegriffen habe. Gefiel mir irgendwie, der Gedanke von Aufwand und Ertrag."

"Was weisst du über unsere Rektorin? Ist dir da etwas aufgefallen?"

Jetzt heisst es aufpassen. Die Kleine ist langsam zu neugierig. "Michelle Solange? Ja, aber darüber möchte ich nicht sprechen. Lass uns zur Geschichte zurückkehren und mit der Arbeit anfangen."

"Damals, vor einigen Jahren, gab es hier brutale und unaufgeklärte Mordfälle. Weisst du etwas darüber?"

Genug! Sie kommt mir zu nah! Woher weiss sie das alles?

"Hör zu, Luzie, wenn du nicht über Geschichte reden willst, ist die heutige Sitzung vorbei. Geh nun und lies im Buch das Kapitel zu den Templern nach. Wir sehen uns nächste Woche wieder."

"Aber ich habe noch viele Fragen."

"Kein Aber!", nun muss ich doch leicht knurren, was ich zu vermeiden hoffte. "Geh jetzt, bevor ich mich ärgern muss."

Sie packt, leicht eingeschüchtert, ihre Sachen und verschwindet. Da werde ich sehr vorsichtig sein müssen, mit der kleinen Claire.

***

Laurie

Das war ja vielleicht strange. Ich unterhielt mich soeben mit einem echten Werwolf, der zudem verdammt gut aussieht und verführerisch riecht. Und ich mag sie! Mann, ich bin ein richtiger Freak!

Ich liebe Bozeman! Hier ist echt was los!

Wie war das am Ende unseres Gesprächs? Sie hat mich angeknurrt und regelrecht rausgeworfen. Als wir auf die Todesfälle in der Region zu sprechen kamen. Ich muss wissen, was damals geschehen ist.

Zu unserer Rektorin hat sie mir auch keine Auskünfte gegeben. Sie weiss definitiv mehr, als sie zugibt. Darüber findet vielleicht Kevin etwas heraus, mein süsser, starker Nerd. Wer hätte das gedacht: Eine knappe Woche hier und schon gefällt mir ein Junge. Hmm.

In meinem Kopf drehen die Gedanken. Heute bin ich mit einem Fahrrad hergefahren und radle nun heimwärts, das heisst, ich werde zu Chu fahren, muss aber vorher meine Eltern informieren.

"Mom? Hi. Ich bin auf dem Heimweg, fahre aber gleich zu Chu. Wir arbeiten an unserem Projekt."

"Hi, Laurie. Wills du mich fragen, ob das in Ordnung ist?"

"Ehm, ... ja, denke schon, irgendwie. Aber ich bin schon auf dem Weg zu ihr."

"Also gut. Macht nicht zu lange. Danke, dass du mich informiert hast. Sei bitte vorsichtig."

"Ja, Mom, bin ich." Es wird mir nichts mehr passieren. Der Zombie ist tot und der Wolf steht irgendwie auf meiner Seite. Ich denke, ich bin in Sicherheit - aber das weiss niemand. Meine Mom hat sich verändert. Ein drittes Rätsel, das ich irgendwann lösen muss.

Ordentlich schiebe ich das Fahrrad durch das Gartentor und stelle es an den Zaun. Im Anhänger brennt Licht, sie sind demnach bereits da.

"Hallo ihr beiden! Ich bin zurück und habe euch viel zu erzählen!"

Kevin schaut mich an - von Chu keine Spur.

"Hi, Luzie. Du musst bloss mit mir Vorlieb nehmen, Chu wollte noch eine Runde rennen gehen."

"Wie? Etwa allein?" Keine gute Idee, Chu.

"Nein, sie ist mit Denise unterwegs. Glaube, das ist für beide richtig."

"Okay. Dann nur wir beide?" Hat er soeben gelächelt?

"Ja, nur wir. Nun erzähl schon von Loupine! Wie war die Nachhilfe?"

"Wow, ich kann dir gar nicht sagen, wie abgefahren das war!" Ich erzähle ihm alles, unser Gespräch, was ich erfahren habe und wo sie ausgewichen ist. Wir stehen in der Küchenregion und trinken Cola.

"Da wäre ich gerne dabei gewesen. Wow. Nirgendwo im Netz habe ich von einem Interview mit einem Werwolf gelesen."

"Im Buch, dem Film und der Serie geht es um einen Vampir; stimmt, kein Werwolf. Aber Brad Pitt war toll."

"Ach, ich denke, Loupine war auch nicht schlecht."

"Lass uns arbeiten, Nerdie!"

"Immer noch eifersüchtig? - Autsch! Lass das! Immer schlägst du mich."

"Achte auf deine Worte und du kannst die Schläge umgehen."

"Setz dich, Gruftie. Dann zeige ich dir, was das Netz für uns aufbewahrt hat. Und keine Getränke in der Nähe des Computers! Also: Du wolltest wissen, was an der Bozeman High nicht stimmt? Sieh her."

Kevin berichtet mir von den Beobachtungen an unserer Schule. Seit der Zeit, wo die vielen Menschen verschwanden, tauchen die Vermissten teilweise wieder auf. Aber sie waren verändert, als ob sie schlimme Dinge erlebt hätten. Kein Psychologe habe bisher herausgefunden, was die Menschen verändert habe.

"Es ist, als ob man ihre Festplatte gelöscht hat. Boom - alles weg. Sie können zwar noch sprechen und sich im Alltag durchschlagen. Aber sie haben keine Gefühle mehr, kein Empfinden."

"Keine Seele" ... murmle ich leise.

Kevin schaut mich schockiert an. "Warte, Moment mal, wovon sprichst du? Damit wäre ich vorsichtig."

"Kev! Wir haben es mit Werwölfen zu tun, mit Zombies und, wer weiss, vielleicht auch mit Vampiren. Loupine wollte mir nicht verraten, was die Franklin ist. Aber sie weiss es."

Kevin lehnt sich zurück und ich neige mich zu ihm rüber. Plötzlich liege ich in seinem Arm, was sich sehr gut anfühlt. Er streichelt mein Haar.

"Warum nennst du dich Luzie? Dein Name ist so schön!"

"Ich bin mehr in der Welt des Luzifers zuhause als in der Welt meiner Mom."

"Du meinst, du tust das aus Protest?"

"Ja, ich denke schon, schätze ich."

Kevin lächelt. Ich mag das und ziehe meine Mundwinkel ebenfalls nach oben.

"Das solltest du nicht. Denn unter dieser farblosen Fassade steckt ein hübsches Mädchen." Sein Gesicht kommt meinem immer näher und ich schliesse langsam meine Augen.

Plötzlich klingelt mein Telefon. Manchmal könnte ich das Ding in den tiefsten Canyon Nevadas werfen! Dennoch greife ich danach. "Es ist Chu!"

***

Loupine steigt in ihren Mustang und startet den starken Motor. Mit durchdrehenden Reifen schlingert sie in Richtung Bridger Road. Ohne sich um die Verkehrsregeln zu kümmern, jagt sie ihren Wagen aus der Stadt. Auf der kurvigen Strecke in die Berge beruhigt sie sich langsam wieder.

"Mist! Neugierige Göre! Beinah hätte sie mich gehabt. Ich habe weit mehr offenbart, als ich ihr hätte zeigen wollen. Die Kleine hat mich voll erwischt."

Ein Reh kreuzt die Strasse, Loupine muss stark bremsen, ihr Wagen gerät erneut ins Schlingern. Beim Parkplatz des Aussichtspunktes biegt sie ein, lässt den Wagen sich drehen und schlittert über den Kiesplatz. Staub wirbelt auf, die Kupplung stinkt. Als der Wagen steht, steigt sie aus, geht einige Schritte und schreit hemmungslos ihren Frust heraus.

"Warum muss ich so sein? Warum kann das nicht endlich ein Ende haben? Wann darf ich mit einer letzten Aufgabe meine Ruhe finden?" Sie erinnert sich an ähnliche Situationen im Reich der Pharaonen, zur Zeit der Kreuzritter und während der vielen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts. Loupine ist müde.

Ihre feine Nase riecht Lavendel. Alarmiert pirscht sie zu ihrem Mustang. Loupine sieht Michelle im offenen Auto vorbeifahren, startet den Wagen und folgt ihrer Chefin. Michelle zweigt auf eine Seitenstrasse ab. Loupine stoppt und beobachtet. Michelle schreitet auf eine gewaltige Halle zu, vor welcher viele bewaffnete Männer Posten bezogen haben. Die Rektorin erteilt militärische Befehle, die Männer rennen in Stellung. Ein Lieferwagen fährt auf das Gelände und parkt rückwärts vor dem Tor. Die Männer öffnen die Türen des Fahrzeuges und ziehen die Ladung heraus.

Loupine hält den Atem an. Da werden Menschen ausgeladen. Die Männer tragen scheinbar leblose Körper in die Halle. Loupine will zurück in die Stadt fahren, sie hat genug gesehen.

"Sieh an! Die Wöflin schnuppert an Orten, die sie nichts angehen. Du bist dumm, Loupine! Schade, ich dachte, ich könnte dich für meine Zwecke einbinden, aber das scheint nicht der Fall zu sein."

Michelle Solange steht hinter Loupine und fixiert sie mit ihren violetten Augen. Neben der Rektorin stehen vier bewaffnete Männer und richten ihre Waffen auf die Blondine.

"Wenn sie sich verwandelt, erschiesst ihr sie! Keine Bange, wir haben Silberpatronen geladen, Loupine. Die werden dich töten, also wehre dich nicht."

"Was bist du wirklich, Michelle? Du bist kein normaler Vampir, soviel ist klar."

"Das wirst du nun leider nicht mehr herausfinden, du dummes Pelzvieh. Warum musstest du dich auch bloss an die kleine Göre heranmachen. Sie wird die Nächste sein, das neugierige Biest!"

Loupine knurrt, die Männer heben ihre Waffen. Mit einem gewaltigen Satz springt die Blondine hoch, dreht sich in der Luft um die eigene Achse und landet elegant auf ihren Füssen, dann ist sie auch schon im Dickicht verschwunden. Die Schüsse erreichen sie nicht mehr. Sekunden später trägt Michelle vier Waffen zum Wagen und lässt die zerfetzten Leichen ihrer erfolglosen Jäger im Wald zurück.

Loupine hechtet in ihren Mustang, startet und rast in Richtung Tal davon. Beim Busbahnhof parkt sie den Wagen ordentlich am Rand, steigt aus und setzt sich auf eine Bank. Mit der Ruhe kehren auch die Gedanken an längst vergangene Zeiten zurück, an eine ähnliche Flucht.

Loupine flieht. Sie ist der Wolf, der von der Meute gejagt wird, hinter ihr die Jäger, ihr dicht auf den Fersen in ihren Jeeps und Pickups, begleitet von den blinkenden Lichtern der Polizeifahrzeuge. Schüsse peitschen, Projektile streifen an ihrem Fell vorüber, verfehlen sie um Haaresbreite. Loupine ist ausser Atem, hechtet hinter jeden rettenden Baum, den sie entdeckt. Sie schlägt Haken wie ein Hase, kann im Dickicht entkommen. Erst als sie die Stimmen leiser werden hört, verlangsamt sie ihren Lauf und trottet auf die Anhöhe zu.

Sie riskiert einen Blick zurück, überschaut den Parkplatz. Dort steht sie! Die gefährliche Jägerin, die tödliche Verfolgerin. Stark, entschlossen, unbesiegbar. Loupine prägt sich ihr Gesicht ein. Sie wird sich in dieser Gegend eine Zeit lang nicht mehr zeigen können. Diese Killerin ist anders als alle vor ihr. Zum ersten Mal in ihrem sehr langen Leben verspürt Loupine so etwas wie Angst.

Geräusche von Schritten lassen Loupine aus ihrem Traum erwachen. Sie blickt hinter sich und entdeckt den Sportlehrer, wie er aus dem Kino schlendert, Arm in Arm mit der dämlichen Cheerleaderin. Froh über diese Abwechslung schleicht die attraktive Blondine hinter ihren Mustang und verwandelt sich langsam in den Wolf, der heute keinerlei Angst verspüren wird.

Zur gleichen Zeit hat Laurie ihr Zuhause erreicht. Ihr Vater wartet auf sie im Garten. "Luzie, setze dich noch einen Moment zu mir, bitte."

"Dad? Was gibt es?"

"Ich möchte gerne wissen, welches Projekt ihr bearbeitet, deine Freunde und du. Bitte erzähle mir, worum es dabei geht."

"Hat Mom dich geschickt?"

"Nein, Luzie. Ich habe nur Angst, das ist alles."

"Angst? Wovor denn, Dad? Wir arbeiten für die Schule." Laurie setzt sich neben ihren Vater auf die Veranda.

Er blickt zum Himmel. "Wir waren schon einmal hier, deine Mutter und ich. Damals war deine Mutter auch an einem Projekt dran."

Laurie lacht. "Mom hatte Projekte? Schwer zu glauben."

"In ihr steckt mehr, als du denkst, Luzie. Ich wünschte, ihr würdet euch besser verstehen. Aber nun erzähle mir von eurem Projekt."

Laurie berichtet ihrem Vater von den Nachforschungen und von ihrem Gespräch mit Miss Wolff. Er unterbricht sie nicht, hört bloss aufmerksam zu.

"Du magst sie, diese Miss Wolff, nicht wahr?"

"Ja, Dad, ich mag sie. Sie ist anders als alle Lehrer, die ich bisher getroffen habe."

"Versprich mir eines, meine Grosse: Sei bitte vorsichtig und trage dein Telefon immer bei dir, damit ich dich im Notfall finden kann."

"Dad, du machst mir Angst. Ja, ich verspreche es dir, aber du musst dir keine Sorgen machen. Wir sind sehr vorsichtig."

Etwas weiter entfernt, irgendwo in der Stadt sind Schreie zu hören, als wollten sie die letzte Bemerkung widerlegen. Laurie und ihr Vater gehen ins Haus, sie dreht kurz den Kopf in Richtung des Lärms.

Der Boden neben der Parkbank ist getränkt vom Blut der beiden Körper, deren Reste verstreut auf dem Gras liegen. Der grosse, graue Wolf leckt sich die Pfoten und trottet auf einen klassischen Mustang zu. Hinter dem Wagen streckt sich Loupine, betrachtet ihre blutigen Hände und schreit erneut zum Himmel.

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