2 - Tag 01, Monat 01, Jahr 00
Laurie
Der Entschluss, heute eine neue Zeitrechnung zu beginnen, ist naheliegend. Seien wir ehrlich: Die Zeichen stehen dafür besser als beim letzten Event. Damals: Ein schreiender Balg in einer Krippe, sabbernde Ochsen daneben, die Mutter schien high vom göttlichen Glück, vom Weihrauch oder vom Engelsgejammer, schwebend und der Vater war wahrscheinlich überfordert mit der ganzen Situation. Heute: Meine Schulleiterin ist definitiv nicht menschlich und die neue Geschichtslehrerin wirkt zumindest geheimnisvoll, strange. Offensichtlich habe ich es mit seltsamen Wesen zu tun, die sich zaghaft zu erkennen geben. Wenn das nicht ausreicht für eine neue Zeitrechnung, was dann?
Wir schreiben also das Jahr 00 und ich, Laurie Jones, genannt Luzie, besuche den ersten Tag den Unterricht an der Bozeman High - ja, der Name des Kaffs ist mir wieder eingefallen. Es gibt einen Schulbus, der aus meinem Quartier direkt zur Schule fährt.
Meine Mutter habe ich ziemlich intensiv darum gebeten, mich nicht zu fahren. Vater hat einschreiten müssen. Ich war wohl zu deutlich; na egal. Mein Held hat vermittelt. Würde er das doch bloss öfters tun, es war erfrischend. Ab jetzt nehme ich den Bus, basta; obwohl Schulbusse alles andere als attraktiv und bequem sind. In Wahrheit stellen sie eine Art Mini-Highschool-Universum dar, in welchem die gleichen Dschungelgesetze gelten, wie an der Schule.
Loser müssen vorne sitzen, die Helden belümmeln die hinteren Plätze und die Tussen kreischen dazwischen. Mein Sitz steht vorne. Es ist laut, offenbar haben sich die Testosteronhülsen auf ein asiatisches Mädchen eingeschossen, und nun bewerfen sie das Mädchen mit Papierknäueln und lachen über sie. Die Asiatin sitzt regungslos da, liest in einem Buch. Mein Äusseres macht Eindruck, das habe ich gestern schon bemerkt, also setze ich mich ganz einfach neben sie.
"Hi, ich bin Luzie, also eigentlich heisse ich Laurie Jones. Wer bist du?"
"Chu Pheng, hi." Mit warmen, braunen Augen guckt sie mich an und lächelt gar ein wenig.
"Was liest du da?"
"Science-Fiction. Im Moment ein spannendes Buch, in dem es um Zeitreisen und Parallelwelten geht."
"Interessierst du dich schon lange dafür?" Die Idioten haben mit ihrem Balzverhalten aufgehört und widmen sich stattdessen ihren Tussen, was nicht weniger laut geschieht.
"Ja, mich interessiert alles, was mit Zukunft zu tun hat. Ich schreibe selbst an Science-Fiction Romanen."
"Wow. Du siehst nicht wie ein Bücherwurm aus", stelle ich anerkennend fest. Chu ist ausserordentlich trainiert, hat einen stahlharten Körper, soweit ich das im Sitzen beurteilen kann, irgendwie sexy, ihr langes, schwarzes Haar steht ihr gut, vor allem die Fransen im Gesicht, welche ihre Mandelaugen leicht verdecken.
Sie lacht. "Und du nicht wie jemand, der sich für die Zukunft interessiert. Eher für die Unterwelt."
"Touché!" Nun lache auch ich.
"Nehmt euch ein Zimmer!", schreit eine blonde Barbiepuppe aus dem hinteren Bereich. Die Hühnerfarm giggelt und gackert. Ich bereue, heute nicht meine roten Linsen eingesetzt zu haben, schicke ihr dennoch einen tödlichen Blick, der sie zum Ei macht, aus welchem sie einst geschlüpft ist, das dämliche Huhn.
"Ja, ich interessiere mich tatsächlich für das Übernatürliche und die Unterwelt."
"Hübsch gestylt, passend. Ich habe dich gestern schon gesehen. In welcher Klasse bist du?"
"In der neunten; du?"
"Auch. Danke, dass du dich zu mir gesetzt hast. Die Typen nerven mich schon lange. Habe sie im Klettern chancenlos abgehängt und das verdauen sie nun schlecht."
Wir lachen wieder. "Du kletterst?"
"Extremsport, ja. Klettern, Raften, Biken, Snowboarden. Ich liebe es und ich brauche die Herausforderung in der Natur."
"In Montana?"
Chu lächelt. "Ja, in Montana! North Dakota wäre mir zu flach. Hier kannst du hervorragend Snowboarden - da gibt es eine Wintersportanlage, nicht weit von hier. Und der Teton oder der Yellowstone sind ja auch nicht weit entfernt. Machst du auch Sport?"
"Nope. Ausser du zählst Couchsurfing dazu."
Der Bus erreicht das Schulareal. Chu und ich steigen aus, schlendern gemeinsam gegen das Schulhaus und quatschen weiter.
Als erstes haben wir Mathe, was mir sehr gut gefällt. Zahlen lügen nicht. In meinem Kurs sitzen die üblichen Kreaturen, die man an jeder Highschool trifft: Die Supercoolen natürlich und ihre dummen Tussen, es hat Streber, Nerds und Bauern. Normalos hat es wenige. Dummerweise zähle ich schon fast dazu, was mich beunruhigt. Der Freak ist ein Normalo ... wo gibt's denn sowas!
Chu setzt sich in die Reihe neben mir. Mir links voraus sitzt ein rothaariger Typ, der könnte ein Nerd sein. Auf jeden Fall versteht er etwas von Mathe, denn er korrigiert den Lehrer, als dieser bei einer funktionalen Gleichung mit zwei Unbekannten hängenbleibt. Dabei ist es sonnenklar: Die Kurve kann genau gezeichnet werden, auch wenn der Lehrer das nicht sieht. Penner. Penner mit Lohn! Der nervt.
Beim Mittagessen stelle ich mich in die Reihe, Chu hat Musikunterricht in der Mittagspause. Die Coolen plustern sich auf und denken wohl, die Tussen würden dadurch lieber sie vernaschen als das Mittagessen. Dafür habe ich bloss Kopfschütteln übrig, dieses primitiv-animalische Verhalten ist einfach nur doof.
Die Frau hinter der Theke schaut mich an, als ich an der Reihe bin. Unschlüssig, was ich nehmen soll, komme ich kurzzeitig in eine Stresssituation. "Haben Sie vegetarisches Essen?"
"Ja." - Worauf die Dreihundert-Pfund-Schinken-Dame mit den Augen rollt und nach hinten den Befehl für ein Vegi-Menü durchschreit.
"Danke", murmle ich, gehe weiter und nehme mein Essen kurz vor der Kasse entgegen. Bezahlen müssen wir nicht, aber die Klasse angeben. Die Kassierin schaut mich schräg an, als hätte sie Angst vor mir. Hat wohl hier oben im Norden noch nie Tattoos gesehen, die Gute. Dabei haben sich schon die Natives mit Tattoos geschmückt. Bildung ist nicht für jedermann.
Es ist herrliches Frühlingswetter, die Sonne wärmt schon angenehm und man kann draussen sitzen. Ich setze mich an einen freien Tisch im Schatten einer gewaltigen Fichte. Der rothaarige Typ kommt mit seinem Tablett angetrippelt. Er scheint nicht zu wissen, wo er sich setzen kann, ich zeige auf den freien Platz.
"Danke", brummt er. Seine Stimme ist angenehm warm, unerwartet tief.
"Ich bin Laurie. Neu hier ... - Hi."
"Hi, Laurie. Ich bin Kevin. - Schon lange hier. Zu lange."
Dann verspeist Kevin sein Hühnchen und ich mein undefinierbares Vegi-Was-Auch-Immer-Ding, das überraschend gut schmeckt. Kevin und ich reden nicht mehr miteinander. Doch plötzlich schaut er mich an. Mir ist das unangenehm.
"Was?", frage ich ziemlich aggressiv.
"Tut mir leid. Du siehst bloss anders aus als die Mädchen hier. Ist das Gothic?"
Mit leicht geneigtem Kopf schaue ich ihn an. Er hat süsse grüne Augen. "Uh, er kennt sich aus. Ja, das ist es tatsächlich."
"Cool."
"Cool? - Das ist alles?" Ich beginne zu glauben, dieser Kevin sei vielleicht doch ein Idiot.
"Nein, das ist nicht alles. Ich möchte deinen Mut haben. Ich möchte auch Tattoos haben und für das einstehen, was ich denke. Aber das kann ich nicht."
"Mut ist das falsche Wort - du musst den ersten Buchstaben austauschen. Wut, das wäre in meinem Fall passender. Aber danke, ... schätze ich." Ich blicke Kevin unsicher an, dann senke ich meinen Kopf.
"Was ist passiert?" - Mann, hat der eine heisse Stimme.
"Meine Mutter ist passiert."
"Du redest nicht gern über dich. Kann ich verstehen, tu ich auch nicht."
"Lass mich raten: Nerd?" Ich wage erneut einen richtigen Dialog. Sprechen; mit echten Menschen, zum zweiten Mal heute.
Er lacht, was ihm gut steht. "Ja, ich glaube schon. Definitiv Nerd. Computer sind intelligenter als Menschen."
"Nicht nur Computer." Mein Blick trifft ihn direkt. Seine Augen faszinieren mich echt. Sein Blick ist friedlich, unschuldig.
"Wie meinst du das?"
Unsicher, was ich nun sagen soll, drücke ich mich um die Antwort herum und stehe kurzerhand auf. "Ich muss noch lernen. Hat mich gefreut, Kevin. Vielleicht sehen wir uns ja in einem Kurs wieder. Mach's gut." - Ich bin eine dämliche Pennerin.
Er schaut mir nach, ich spüre es; aber ich schaue nicht zurück. Wie auf der Flucht - kein Blick zurück, niemals. Highschool ist und bleibt ein Dschungel, in welchem es zu überleben gilt. Überhastet schmeisse ich mein Tablett auf den dafür vorgesehenen Wagen.
"Langsam, meine Dame, das geht so nicht!" Die Matrone von der Essensausgabe winkt mir nach, doch ich verschwinde in den Flur, wissend, dass Mrs. Steamroller mich niemals einholen könnte. Damenklo. Endlich kehrt etwas Ruhe ein und ich kontrolliere meinen Stundenplan. Am Nachmittag steht erstmals Geschichte auf dem Programm. Das kann interessant werden. Auf jeden Fall werde ich mich hinten hinsetzen, damit ich besser beobachten kann.
Mein Spiegelbild wirkt traurig - ich hasse Spiegel und bin gleichzeitig fasziniert von ihnen. Sie übertragen die Wirklichkeit, ohne zu interpretieren. Die Interpretation entsteht im Kopf des Betrachters. Komisch, es riecht nach Lavendel hier.
Langsam streife ich mit meinen schwarz bemalten Fingernägeln durch mein kurzes, schwarzes Haar. Es gibt Momente, da finde ich mich hübsch, meistens jedoch ärgere ich mich darüber, die Langeweile meiner Mutter in meinem Aussehen wiederzufinden. Die kleine Nase sieht frech aus, vor allem mit dem hübschen Piercing, das ich ohne Einwilligung meiner Mutter habe anbringen lassen. Ich fahre über die schwarzen Lippen - heute bin ich ausnahmsweise zufrieden mit meinem Gesicht - wenn da bloss nicht diese Traurigkeit wäre.
Der Rest meines Körpers ist wenig attraktiv. Zu kleine Brüste, hängende Schultern, krummer Rücken. Vielleicht sollte ich mehr Sport machen, wie Chu, aber ich hasse Sport - ist mir zu anstrengend.
"Nicht zu lange in den Spiegel schauen - du könntest eitel werden."
Schockiert drehe ich mich um und sehe die Rektorin aus der Damentoilette stöckeln; sie dreht sich noch einmal um und zwinkert mir zu - dann verschwindet sie.
Ich muss wohl sehr auf mein Ich konzentriert gewesen sein, denn ich habe die grossgewachsene Frau nicht im Spiegel gesehen. Vielleicht habe ich mich auch nur geirrt. Spiegel lügen nicht.
Verwirrt stelle ich fest, dass es bereits eng wird, noch pünktlich zur Geschichtslektion zu gelangen. Obwohl es nicht gestattet ist, durch die Gänge zu rennen, eile ich zum Klassenzimmer für Geschichte, das ich als eine der letzten erreiche. Ausser Atem, wie immer. Mein Plan geht auf, die hintersten Plätze, auf welchen sich für gewöhnlich die Jungs lümmeln, sind frei geblieben. Ganz vorne müsste jemand den Boden aufnehmen, denn die Blödmänner sitzen sabbernd auf den vordersten Stühlen.
Wobei ich echt zugeben muss: Miss Wolff ist eine attraktive Frau. Wenn ich so einen Körper hätte, würde ich mich vielleicht auch bunter anziehen. Miss Wolff trägt heute einen, meiner Meinung nach, etwas zu kurzen Rock. Ihre Bluse wird im Brustbereich deutlich gedehnt und lässt den Puls der Jungs wohl in die Höhe schnellen und ihre Fantasie in die Hose rutschen. Dazu hat Miss Wolff ihr blondes Haar zu einem schönen Zopf geflochten, der ihr auf der linken Kopfseite herunterbaumelt. Die Frau hat Klasse. Sie lächelt und betrachtet uns mit ihren wachen, blauen Augen. Dann schreibt sie etwas in das Klassenbuch.
"Ich wusste bisher nicht, dass Geschichte so sexy sein kann. Das wird bestimmt eine heisse Saison", murmelt einer der Idioten aus der vordersten Reihe. Seine Gefolgsleute nicken anerkennend und lachen dreckig.
Ohne von ihrem Buch aufzuschauen, steigt sie auf die Provokation ein. "Und Sie sind?"
"Trentin - Trentin Robertson, Miss Wolff. Angenehm." Der Idiot lehnt sich zurück, seine Beine sind gespreizt.
"Trentin Trentin Robertson", sie hebt den Kopf und fixiert den Doofmann mit ihrem Blick, "zu Ihren Hauptfächern Arroganz und Überheblichkeit gehört dann wohl auch noch Sport. Sie fühlen sich mächtig. Ich blicke für einmal über Ihre sexistische Bemerkung hinweg. Aber seien Sie sich über Folgendes im Klaren: Ich habe hier die Macht, Sie sind bloss geduldet. Sie haben keine Ahnung davon, wie tödlich Ihre Arroganz sein kann. Die Geschichte, weswegen Sie hauptsächlich hier sind, wird Sie das lehren."
Im Saal könnte man ein Haar auf den Boden fallen hören. Nicht ein einziges Mal hat sie geblinzelt. Nach einigen Sekunden, welche mir wie Minuten vorkommen, knickt Trentin ein. "Bitte entschuldigen Sie meine Bemerkung, Miss Wolff. Sie war unangebracht." Er senkt den Kopf und dreht verlegen seinen Bleistift zwischen den Fingern. Ich lächle; ich mag sie jetzt schon.
"Unser Thema in nächster Zeit wird das Mittelalter sein. Es geht mir hauptsächlich darum, Sie darüber aufzuklären, wie primitiv die Menschen damals leben mussten und Ihnen dabei die romantischen Bilder von hübschen Burgen, welche Hollywood Ihnen vermittelt hat, durch die Realität zu ersetzen. Lassen Sie sich darauf ein und folgen Sie mir auf eine Reise, welche Sie fordern wird. Am Ende werden Sie nicht bloss mehr wissen, Sie werden auch anders denken. Sind Sie bereit dazu?"
Noch nie hat eine Schulstunde so spannend begonnen. Die Frau schafft es mit wenigen Worten, den ganzen Saal von zuhörenden Jugendlichen einzunehmen und zu begeistern. Von ihr geht etwas aus, was ich noch nicht zu deuten vermag, aber es ist nicht ihr verführerisches Parfüm, das sie auch heute wieder aufgetragen hat.
Chu dreht sich zu mir um und formt mit ihrem Mund die Worte "Oh mein Gott! Wow!", tonlos, dabei rollt sie mit den Augen. Zur Antwort nicke ich und forme in der gleichen Art "Ich weiss!"
Nach der Geschichtsstunde treffen wir uns draussen, bei den Bussen, denn für heute ist Schluss. "Das war der Hammer! Wie die den Typen zur Schnecke gemacht hat!" Chu wirft ihren Rucksack auf eine Wartebank.
"Ja! Sie sollte auch Psychologie unterrichten - da würde ich auf jeden Fall hingehen!"
Chu lacht. "Sie ist ein deutlicher Gewinn gegenüber dem Langweiler, den wir vor ihr hatten. Der war so ein klassischer Geschichtslehrer mit Hornbrille, verstaubt, Mottengeruch, Kaffee und Zigaretten."
"Warum ging der weg? Pensioniert?"
"Keine Ahnung. Der war eines Tages plötzlich nicht mehr da. Der Sheriff hat ihn auch nicht gefunden. Hat sich wohl in ein Museum stellen lassen. Niemand wird ihn vermissen."
"Und wie ist die Rektorin so?"
"Franklin? Warum meinst du?" Chu schaut mich fragend an. "Das war auch so eine merkwürdige Sache, damals. Es ist etwa drei Jahre her, ich war noch in der Middle. Aber es gab eine grosse Aufregung. Man hat den früheren Schulleiter mit herausgerissenem Herzen in der Nähe von Bridger, in den Bergen, gefunden. Der Mord wurde nie aufgeklärt, man gab einem Bären die Schuld. Die Franklin ist dann bloss wenige Tage danach eingestellt worden. Niemand kannte sie, aber sie macht einen guten Job. Sie ist fair und taff; aber ihr Parfüm ist nicht mein Geschmack."
"Krasse Sache mit dem alten Rektor. Scheint eine aufregende Gegend zu sein, dieses Bozeman. Auf mich wirkt die Franklin eigenartig. Ich bin mir da noch nicht sicher."
"Wo warst du vorher; ich meine vor dem hier?" Chu zeigt mit ihrem Arm auf die Umgebung. Die Busfahrer kommen. Wir steigen ein und setzen uns wie gewohnt in die zweite Reihe.
"Sag schon. Wo warst du vorher?"
Ich habe schon gehofft, um diese Frage herumzukommen. "Hier und da. Wir ziehen immer wieder um."
"Lass mich raten: Dein Dad ist in der Army."
"Nein. Wir zogen immer meinetwegen um."
Chu zieht die Augenbrauen hoch. "Hast du eine Bank ausgeraubt? Oder zu viele Leute erschreckt?"
Wir lachen, obwohl mein Herz sticht und mir zeigt, wo meine Traurigkeit ihre Quelle hat. "Meine Mom will nur das Beste für mich. Also gab es immer dann einen Wechsel, wenn es in der Schule nicht mehr lief."
Chu senkt den Kopf. "Tut mir leid. Das ist hart."
"Schon gut. Konntest du ja nicht wissen. Ich möchte bloss nicht darüber reden."
"Versteh ich gut." Es entsteht eine kleine Pause. Dann fasst mich Chu plötzlich am Arm. "Hey, du solltest mal mitkommen, in die Berge, meine ich. Da kannst du schreien, so laut du willst, wenn dir danach ist. Da hört dich keiner."
"Ausser die Bären."
Der Bus hält in meinem Quartier und ich steige aus. Froh darüber, etwas alleine zu sein, setze ich mich in den Garten. Die frische Luft tut gut; es sind sogar einige Vögel zu hören. Montana! Natur pur. Und Geheimnisse - nicht aufgeklärte Morde und verschwundene Personen; plötzlich erinnere ich mich daran, dass ich die Franklin nicht im Spiegel gesehen habe, doch der Gedanke ist auch gleich wieder weg. Mom hat mich entdeckt.
"Laurie! Komm doch rein, was sitzt du auch draussen, Schatz."
"Es ist warm hier, Mom." Augenrollen.
Schon kommt sie angeschwirrt mit einem Tablett mit Getränken und Keksen drauf. Sie trägt wieder ihren unausstehlichen Hausanzug mit den hässlichen Blümchen drauf. Aufgesetzte Fröhlichkeit - fehlen bloss die Lockenwickler und mir würde schlecht.
"Wie war dein Tag?"
Augenrollen. "Wir werden noch einige Tage hierbleiben können. Sie hassen mich noch nicht. Also ganz gut, denke ich." Dann stopfe ich mir einen Keks in den Mund, um nicht weiterreden zu müssen.
"Du brauchst nicht unfreundlich zu sein, junge Dame."
"Passt zu meinem Image", murmle ich, wobei einige Kekskrümel aus meinem Mund fallen. Beim Reingehen werfe ich noch rasch "Hausaufgaben" in ihre Richtung, dann fliegt die Türe ins Schloss.
Mein Zimmer ist mein Reich, meine Gruft. Einzig der kleine, hellbraune Pummel, mein Teddybär, erinnert daran, dass der Freak in diesem Raum einst ein süsses Mädchen war. Musik dröhnt aus den gewaltigen Lautsprechern, während ich auf meinem Bett liege und über den Tag nachdenke. Irgendwo schreit Mom, die Musik soll leiser gedreht werden. Ich muss mich wohl in der Drehrichtung geirrt haben, denn sie wird lauter.
Plötzlich ist die Musik weg. Dad setzt sich zu mir aufs Bett und ich falle ihm um den Hals.
"War es so schlimm?"
"Im Gegenteil! Die Schule ist super, Dad. Wir hatten Mathe. Der Lehrer taugt nichts, eine riesige Enttäuschung; da werde ich nichts lernen - eher er von mir."
"Und das soll 'super' sein?" Dad schüttelt den Kopf und wuschelt lachend mein Haar.
"Hör auf (was so viel heisst wie: ich mag das), Dad. Das meinte ich nicht. Am Nachmittag hatten wir Geschichte, bei Miss Wolff. Die mag ich, die ist richtig gut drauf. Irgendwas hat sie an sich, was Dunkles."
"Hört sich spannend an. War der Unterricht besser als Mathe?"
Nach und nach erzähle ich meinem Dad alles, was ich heute erfahren und erlebt habe, von den Beobachtungen, von Chu und von Kevin und davon, dass das Essen ganz geniessbar war.
"Ich finde es schön, hast du schon neue Freunde gewonnen, Luzie." Mein Dad ist der Einzige, der mich Luzie nennt und das respektiert.
Nach einer kleinen Pause fügt er dann doch noch an, was ich befürchtet habe. Aber er macht das in seiner eigenen 'Dad-Art' - da kann ich unmöglich widersprechen, und er weiss das. "Deine Mutter ist eine komplizierte Frau mit einem guten Herzen. Gib ihr bitte eine Chance, und sei es bloss meinetwegen. In Ordnung, meine Grosse?"
"Ich versuche es, Dad. Versprochen."
"Das reicht mir schon. Und nun komm, das Nachtessen ist bereit."
***
Spät am Abend sitzen die Eltern draussen, es ist ungewöhnlich warm für Frühling.
"Claire, möchtest du auch ein Glas Wein, mein Schatz?"
"Oh ja, bitte. Das ist lieb von dir, Danny." Die Mutter lehnt sich an die warme, hölzerne Hauswand und guckt in den Himmel. Der Vater erscheint wenig später mit zwei Gläsern Rotwein auf der Veranda. "Hier." Er reicht seiner Frau ein Glas und setzt sich neben sie.
"Das tut gut. - Wie geht es ihr? Hat sie dir vom Tag erzählt?"
"Du weisst, wie sie ist. Ja, sie hat mir alles erzählt. Sie ist begeistert von der Bozeman High."
"Bloss nicht! Aber schön, dass sie sich wenigstens dir öffnet. Ich glaube, ich habe sie verloren."
"Ach was, das kommt schon wieder. Ihr zwei seid einander ähnlicher, als du denkst."
"Ist nicht wahr!" Claire gibt sich gespielt empört, Danny lacht.
"Doch, mein Schatz. Stell dir vor, Laurie vermutet bereits seltsame Wesen und Verschwörungen an dieser Schule."
"Hat sie was davon gesagt? Du weisst schon."
"Ja, hat sie. Es scheint, als sei die Sache noch immer Gesprächsstoff hier."
Claire stösst Luft aus, seufzt. "Blutschule. Haben wir Laurie in Gefahr gebracht?"
Daniel Jones sieht in die Ferne. "Das weiss ich nicht, mein Schatz. Das ist eher dein Gebiet, und du hast diesen Ort bewusst gewählt. Ich hoffe nicht. Sie ist ein gutes Mädchen. Du solltest vielleicht etwas offener sein zu ihr."
"Das geht nicht, Danny. Und das weisst du."
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