12 - Claire & Loupine
Spitäler sind alle gleich. Es riecht nach Desinfektionsmittel, das Licht ist blendend und die Flure breit, leer. Zu viel Heilung wirkt unheilvoll, keine Gemütlichkeit, alles steril und abweisend.
Claire schleicht durch den langen Gang, wendet sich nach rechts bis sie schliesslich vor Loupines Zimmer steht. Sie hört Stimmen, Gelächter. Vorsichtig öffnet sie die Türe, guckt rein. Loupine sitzt in ihrem Bett, die Rückenlehne hochgestellt. Fünf Pflegerinnen und Pfleger haben sich mit ihren Stühlen um das Bett geschart, Lopine erzählt Geschichten von längst vergangenen Zeiten. Die fröhliche Runde hat sich mit Snacks und Getränken eine gemütliche Ecke eingerichtet.
"Leute, genug für heute. Tut mir leid, meine Schwester ist hier. Bitte gebt uns einen Moment, in Ordnung?"
Loupines Gäste blicken sich um, entdecken Claire und verlassen augenblicklich respektvoll das Zimmer.
"Sie haben eine interessante Schwester. So lustig haben wir es selten bei uns", sagt eine junge Pflegerin beim Rausgehen. Claire nickt ihr zu und lächelt. In Richtung Loupine schüttelt sie bloss den Kopf.
"Du bist echt eine Nummer für sich, Schwesterherz!"
Loupine hebt zur Entschuldigung die Arme. "Sorry. Du weisst, wie viel wir zu erzählen wissen. Das ist spannend."
"Geschichte, ja?"
"Unbedingt! Wenn die mich immer noch haben wollen, werde ich an die Schule zurückkehren."
"Du wirst keine Lehrpersonen und Schüler mehr fressen können. Das weisst du schon, oder?"
"Lass uns von was anderem reden, bitte. Fürs Fasten habe ich momentan keinen Nerv."
"Wie geht es dir? Was sagen die Ärzte?"
"Dass ich scharf aussehe in meinem Nachthemd."
"Loupine! Ich meine es ernst."
"Ach komm schon, Claire. Sei doch einmal in deinem unendlichen Leben locker. - Es war ausserirdisches Metall, sie konnten die Blutung stillen und die Wunde heilt gut ab. Es geht mir blendend. In zwei Tagen darf ich raus, wenn die Nähte weg sind."
"Gut, das freut mich. - Und ich bin locker."
"So sieht das heute aus, wenn du locker bist? Ich erinnere mich an eine andere Claire."
"Das ist lange her." Claire setzt sich auf einen Stuhl.
"Rund vierhundert Jahre, ich weiss. Wir haben uns zu lange nicht mehr gesehen."
"Du bist damals aus Europa weg, zurück nach Amerika."
"Nach den Kriegen rund um verschiedene Glaubensrichtungen haben die Menschen in Europa sich wieder gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, wieder wegen des Glaubens. Ich konnte das nicht mehr ertragen! Dreissig Jahre Krieg - bei einer natürlichen Lebenserwartung von rund fünfzig Jahren. Menschen sind dumm, Claire."
"Und? War es in Amerika besser? Nicht, nachdem was ich gehört habe."
"Ja, ich weiss. Völkermord an der Urbevölkerung, Versklavung afrikanischer Bürger, Bruderkrieg. Keinen Deut besser. Wo hast du die ganze Zeit gelebt?"
"Wir waren eine kleine Gruppe, Familie und Freunde. Wir lebten im hohen Norden Asiens, da wo es fast keine Menschen gibt. Auch wir hatten vorerst genug von den ewigen Kriegen. Aber dort trafen wir auf Vampire."
"Ach, hör mir auf mit denen. Die sind sowas von dumm und halten sich gleichzeitig für die Elite unter den Unsterblichen. Grafen - dass ich nicht lache."
Es gibt eine kleine Pause. Loupine nimmt sich etwas Wasser, bevor sie sich wieder an ihre Schwester wendet: "Warum hast du aufgehört, ein Leben als Werwolf zu führen?"
"Nach den beiden grossen Kriegen wusste ich, dass es für mich nur einen Weg gibt. Wäre ich Werwolf geblieben, dann hätte ich womöglich alle männlichen Europäer gefressen. Die Hitzköpfe gaben mir so arg auf die Nerven. Also musste ich an meiner Einstellung arbeiten."
"Ein Leben als Mensch, als unsterblicher Mensch?"
"Richtig hart wurde es, als ich Danny kennenlernte. Weisst du, er wird älter; ich hingegen bleibe immer gleich oder altere nur sehr langsam. Das ist nicht immer einfach zu ertragen."
"Hat Laurie unsere Kräfte?"
"Ich bin mir nicht sicher. Als ich sie zur Welt brachte, schrie sie nicht wie ein Menschenbaby, sie knurrte und grunzte. Die Hebamme war ziemlich irritiert, erinnere ich mich. Das war lustig. Laurie hat aber nie etwas in der Richtung getan oder gespürt."
"Ich denke doch; sie spürt es. Es fühlt sich so an, wenn ich sie umarme. Ich denke, sie ist wie wir, weiss es jedoch noch nicht."
"Ich weiss nicht, ob ich mich für sie freuen soll oder ob ich ihr einen Fluch mitgebe. Die Zeiten werden kaum besser. Vor allem nicht für unsereins."
"Ich möchte dich gerne noch etwas fragen, kleine Schwester."
"Was denn, Loupine?"
"Warum hast du begonnen mich zu jagen? Du wusstest, wer ich bin."
Claire hat Tränen in den Augen. "Ich habe befürchtet, dass du mir diese Frage irgendwann stellen wirst. Wir kamen damals hierher, weil es ungeklärte Morde gab. Ich war frisch bei der CIA und hatte kurz zuvor Danny getroffen. Ich glaube, ich wollte mir selbst beweisen, welch guter Mensch ich sein kann."
"Aber du bist kein Mensch, Claire."
"Ich weiss; dank dir weiss ich das heute wieder. Ich hatte damals sofort bemerkt, dass die Opfer niemals von Bären, sondern von Werwölfen gerissen wurden. Ich vermutete unsere Cousins hinter den Angriffen. Ich wusste zuerst nicht, dass du es warst."
"Und als du es wusstest?"
"Was hätte ich denn tun sollen? Meinen Vorgesetzten sagen: Stopp, das ist kein böser Werwolf, das ist meine Schwester! Alles, was ich tun konnte, war hoffen, dass du noch immer so schnell bist wir früher, Loupine. Und du bist es! Wir hatten keine Chance. Ich war stolz auf dich."
"Dann war das alles nur Show? Zwischen uns alles okay? Ich werde kein Wandteppich?"
Claire fällt ihrer Schwester um den Hals. Danny kommt herein, nachdem er kurz angeklopft hat.
"Was ist denn hier los? Worüber weint ihr denn?"
"Wir haben einander wiedergefunden, Danny. Loupine ist meine Schwester."
"Weiss ich doch schon seit Area51, Claire. Du bist nicht die Einzige, die hier Geheimnisse hat. Loupine und ich sind uns damals begegnet. Mein Magazin war leer, sie hätte mich töten können. Sie knurrte bloss, kam auf mich zu und sagte, ich solle gefälligst gut auf ihre Schwester aufpassen, sonst käme sie eines Nachts wieder und beende das hier."
Claire schaut Loupine empört an, diese blickt bloss unschuldig zur Decke.
"Wie nimmt es Laurie auf, dass ihre Mutter ein Werwolf ist?"
"Hör bloss auf damit! Sie ist ausser sich vor Freude! Sie hat bereits angefangen ein Buch über ihre Erlebnisse und ihr Leben unter Wölfen zu schreiben! Im Musikunterricht übt sie knurren - die Gesangslehrerin hat sich schon mehrmals beklagt."
"Gutes Mädchen! Fergie zu ärgern macht sicher Spass. Welcher Teenager hat schon Freude an Kirchenmusik? Da würde ich auch knurren, wenn ich könnte."
"Danny!"
Loupine lacht und klopft Danny auf die Schulter. "Soll ich mit ihr reden? Ich glaube, wir haben sowieso noch einiges zu klären, Laurie und ich."
"Das wäre sehr nett von dir, Loupine. Bevor wir gehen, muss ich dir noch etwas sagen: Du wirst offiziell wegen deiner Morde angeklagt werden. Claire und ich werden versuchen, mildernde Umstände für dich zu erlangen, weil du uns entscheidend geholfen hast. Aber zu einer Verhandlung musst du erscheinen."
"Damit habe ich gerechnet, und ich werde diesmal nicht wegrennen. Ich verspreche euch, zu erscheinen."
***
Am späteren Nachmittag sitzt Laurie bei Loupine am Krankenbett. "Aber ich darf dich auch einfach Loupine nennen, oder? Tante klingt so verstaubt."
"Sicher, Luzie. - Wie läuft es in der Schule?"
"Mann, da ist echt was los! Die neue Rektorin ist eine starke und faire Frau. Stell dir vor: Sie hat den Mathelehrer fristlos entlassen, weil er von Mathe keine Ahnung habe! Wir haben nun einen neuen, viel jüngeren Typen in Mathe. Die Mädchen sitzen alle vorne."
Loupine lacht herzhaft. "Teenies - und ihre Hormone! Herrlich! Apropos Hormone: Wie läuft es mit Kevin?"
Laurie rutscht nervös hin und her, zupft sich ihren schwarzen Rock zurecht. "Er hatte ziemlich Mühe damit, dass wir zwei verwandt sind. Aber er sagt, er mag dich trotzdem leiden, auch wenn du nun sowas wie Familie bist."
"Na, das klingt schon mal nicht schlecht. Und? Wie küsst er? Heiss?"
"Loupine! Du bist unmöglich! - Ja, heiss, leidenschaftlich. Gar nicht wie ein Nerd."
"Schön für dich! Lass ihn zappeln, dann kannst du alles von ihm haben. Männer sind einfache Wesen. Gib ihnen Süsses, dann tragen sie dich auf Händen." Beide lachen.
"Wirst du uns verlassen müssen?"
"Vielleicht ja, das wird vor Gericht entschieden. Ich muss da antreten; wegen Peter, Trentin und so. Dann gibt's da auch noch einige alte Fälle, die hoffentlich verjährt sind. Es klingt nicht so gut für mich."
"Ich will nicht, dass du gehst."
"Tja, mit wollen hat das wenig zu tun, Luzie. Wie lebt es sich so, mit einem Werwolf als Mutter?"
"Das ist der Hammer! Mein Leben hat sich total verändert. Da ist nichts mehr von Langeweile. Ich glaube, Mom ist auch glücklich darüber, dass sie sich nicht mehr verstellen muss; und Dad sowieso. Ich kann es nicht fassen, dass sie mich beide so rabenschwarz angelogen haben! Wo doch ich die Schwarze bin in dieser Familie!"
"Nicht mehr. Und sie haben es zu deinem Schutz getan. Spürst du Kräfte in dir?"
"Manchmal. Ich hatte bei dir diese seltsamen Gefühle. Und bei der Franklin sowieso."
"Wie fühlte es sich an? Kalt?"
"Nein, eher heiss. Kribbeln, Energiefluss - so in der Art. Kalt wird mir nur, wenn du knurrst."
"Das ist gut. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, einen Wolf in dir zu entdecken. Lass ihm Zeit, sich seinen Raum zu nehmen. Wenn er sich das erste Mal zeigt, lass ihn gewähren; kämpfe nicht dagegen an."
"Mom hat dagegen angekämpft?"
"Nein, Claire hat sich aus freiem Willen dazu entschieden, den Wolf kontrollieren zu lernen. Und ich werde nun das Gleiche tun."
"Heisst das, ich werde Menschen töten? Das will ich nicht. Ich habe Angst vor meinem Wolf."
"Brauchst du nicht, Luzie. Wir sind da, deine Mutter und ich. Ruf mich, wenn du ihn spürst. Ich werde dir helfen, ihn zu akzeptieren und zu kontrollieren."
"Als Nachhilfe?"
Loupine schmunzelt. "Ja, Nachhilfe. Das klingt doch gut. Und danach kannst du an deinem Kevin knabbern."
"Das ist jetzt aber nicht nett, Tantchen."
Loupine knurrt: "Nenne mich nie wieder Tantchen. Ich bin noch keine zehntausend Jahre alt, hörst du? Ich habe noch alle Zähne und sämtliche Krallen - und ich bin noch immer schneller als du, Welpe!"
"Kevin wird ganz schön zu beissen haben daran, was für eine Familie wir sind." Laurie lacht.
"Beissen hat in unserer Familie eine lange Tradition, weisst du - da wird er sich also wohlfühlen. Komm her, Wölfchen - Zwischenknuddel!"
Nach einer langen Umarmung verabschieden sie sich, Laurie fährt heim.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top