WOLFSANGRIFF
EINE WEILE BLIEB der Wolf stehen und starrte uns grimmig an. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht, dass dies kein normales Tier war. Niemals zuvor hatte ich ein solches Leuchten in den Augen eines Wolfes gesehen.
»Normalerweise greifen sie keine Menschen an«, flüsterte Walther. »Ich bin auf meinen Wanderungen schon welchen begegnet und sie schienen mehr Angst vor mir zu haben, als ich vor ihnen hätte haben müssen. Sie werden so stark bejagt, sie haben allen Grund, unsereins zu fürchten.«
Ich konnte Walther nur zustimmen. Ich war immer ein Freund unserer Mitgeschöpfe gewesen und jetzt, da ich selbst zum Monster geworden war, erkannte ich, dass Raubtiere wie Wölfe und Bären bei Weitem nicht ihrem grausamen Ruf entsprachen.
»Vielleicht sollten wir uns langsam von ihm entfernen, dann bekommt er keine Angst und lässt uns in Ruhe.« Walther hob beschwichtigend die Hände und trat ein paar Schritte zurück.
Ich jedoch spannte jeden meiner Muskeln an und war darauf vorbereitet, den alten Mann jeder Zeit erneut zu packen und in Vampirgeschwindigkeit davonzutragen. Doch es sollte alles anders kommen.
Als ich mich umsah, erkannte ich, dass wir von weiteren Wölfen umzingelt waren. Sie schienen aus allen Winkeln des Waldes hervorzukommen und alle hatten sie diese sonderbaren Augen. Goldgelbe Augen, die uns fixierten wie Beute. Zum ersten Mal fühlte ich mich wieder schwach und hilflos wie ein normaler Mensch. Walther jedoch stand aufrecht neben mir und blickte den Tieren mutig ins Antlitz.
»Das sind nur Viecher, Knut. Kein Grund zur Sorge. Sie werden gleich wieder verschwinden, wirst sehen.« Ich konnte Walthers Zuversicht nicht teilen. Mich überkam ein unangenehmes Gefühl als ich diese Wölfe beobachtete, wie sie langsam näher kamen und uns nicht aus den Augen ließen.
»Los, halt dich an mir fest!«, schlug ich Walther vor und hoffte, dass ich es schaffen konnte, die Wölfe derart mit meiner Geschwindigkeit zu überraschen, dass sie danach nie wieder einem Menschen zu nahe kommen würden.
Aber einer der Wölfe kam bereits auf uns zugesprungen und ich war erschrocken über die Schnelligkeit, die dieses Tier an meiner statt an den Tag legte. Er stürzte sich auf mich und es gelang mir gerade so, seinen monströsen Kiefern auszuweichen. Zwei andere hatten sich im selben Augenblick auf den armen Walther gestürzt und ihn unsanft zu Fall gebracht. Ich hörte ihn um Hilfe rufen, doch ich musste zunächst drei weitere Angreifer abschütteln.
Ich hatte nicht nur die Geschwindigkeit dieser seltsamen Wölfe unterschätzt, sondern auch ihre Stärke. Sie schienen mir an Kraft und Schnelligkeit ebenbürtig zu sein. Ich führte fast schon einen bizarren Tanz auf, um ihren Bissen auszuweichen, und schaffte es nur mit größter Mühe, einen von ihnen am Hals zu packen und ihm das Genick zu brechen. Das elende Jaulen des Wolfes ließ seine Rudelgefährten aufschrecken und von Walther ablassen. Ich nutzte diesen kurzen Augenblick ihrer Verwirrung, schnappte mir den Alten und raste mit ihm davon in den schützenden Wald.
Nach einer Weile hielt ich auf einer kleinen Lichtung an und sah gerade noch ein paar Füchse, Dachse und anderes Getier vor unserem plötzlichen Erscheinen flüchten. Ich erschrak, merkte aber schnell, dass wir allein waren. Ich legte Walther ein zweites Mal in dieser Nacht auf den kalten Winterboden und erkannte erst in diesem Augenblick, in welch miserablen Zustand mein Freund sich befand. Die Wölfe hatten ihn mehrfach gebissen. Aus tiefen Fleischwunden rann unaufhörlich Blut und bedeckte seinen Körper. Auch an meiner Kleidung klebte der rote Lebenssaft. Alles roch danach.
Ich spürte, wie die Adern unter meinen Augen hervortraten und meine Zähne wuchsen. Voller Scham und Mitleid wandte ich mich von Walther ab. Ich wollte ihm für heute nicht noch mehr Angst und Trauer bescheren. Er sollte sich durch mich nicht erneut an seinen Sohn Vinzenz erinnern müssen, wie er vor all diesen ungezählten Tagen seine eigene Mutter, Walthers Ehefrau, umbrachte.
»Knut, geht es dir gut?«, keuchte Walther und rang sich ein gurgelndes Lachen ab. Er liebte es genauso sehr wie einst Friedhelm, diese Reime aus meinem Namen zu bilden. Ich jedoch hasste meinen Namen noch immer so, wie ich es damals tat, als mein Vater ihn oft in unwirschem Ton durch unser Haus brüllte.
»Ja, mir geht es gut«, antwortete ich schnell und atmete mehrmals tief ein und aus, um meinen Blutdurst unter Kontrolle zu bringen.
»Du musst dich nicht vor mir verstecken. Ich kenne dieses Gesicht. Ich weiß, dass du mir nichts tust.« Walthers Stimme klang beängstigend schwach. Als ich ihn wieder ansah, erkannte ich, dass auch das letzte Bisschen Gesichtsfarbe aus seinem Antlitz verschwand. Er starb.
»Walther, ich kann dich retten«, sagte ich, als ich mich an die heilende Wirkung des Vampirblutes erinnerte. »Ich gebe dir mein Blut, dann heilen deine Wunden und du wirst ganz schnell wieder gesund. Du musst nicht leiden.«
Ich biss mir ins eigene Handgelenk und hielt dieses Walther hin. Dieser lehnte jedoch ab.
»Das ist lieb gemeint, Knut. Aber wir sollten das Schicksal nicht noch weiter herausfordern. Meine Zeit ist gekommen«, sagte er und schob mein Handgelenk von sich.
»Sag so was nicht! Du darfst mich doch nicht einfach allein lassen. Ich brauche dich. Ich hab niemanden sonst.« Ich war verzweifelt, denn ich wollte nicht den einzigen Menschen verlieren, der noch an meiner Seite war.
Vor allem jetzt nicht, da er mein Geheimnis kannte und damit keine Probleme hatte. Er war der ideale Freund für mich. Aber vielleicht hatte er recht.
»Ich bin alt, Knut. Ich habe mein Leben gelebt. Es ist Zeit für mich, zu meinem Sohn zu gehen. Ich will ihm in die Augen schauen und ihn um Vergebung bitten.« Walthers Stimme war nur noch sehr leise zu hören und ich spürte, wie das Leben bereits aus seinem Körper wich. »Du, mein lieber Knut. Du bist stärker, als du denkst. Kein anderer Vampir könnte so ruhig neben einem hilflosen, blutenden Menschen hocken und um ihn trauern, anstatt ihn auszusaugen, wie es seine Natur ist. Du kannst es einmal weit bringen, wenn du an deinen Zielen festhältst.«
Walther schloss die Augen und ich hatte Angst, dass dies bereits seine letzten Worte gewesen sein könnten. Doch dann sah er mich ein weiteres Mal eindringlich an.
»Knut, es gibt noch mehr Vampire auf der Welt und sie sind so einsam und verlassen, wie du es einst warst. Du könntest ihnen helfen, sich besser in ihrem neuen Leben zurechtzufinden«, sagte er heiser und seine Augen hörten bereits auf zu glänzen. »Suche sie und zeige ihnen den richtigen Weg. Sie brauchen jemanden wie dich. Und jetzt, Knut, lass mich gehen. Ich danke dir für al-«
Walther sackte leblos in meinen Armen zusammen. Er war gegangen.
Ich stand der Welt und meinem Dasein erneut völlig allein gegenüber. Aber ich hatte ein neues Ziel vor Augen. Walther hatte recht. Ich hatte es geschafft, das Verlangen nach Menschenblut zu kontrollieren. Ich konnte das tun, was anderen wie mir verwehrt blieb. Ich konnte mit Menschen reden, mit ihnen zusammen sein, ohne sie abschlachten zu wollen. Vielleicht war es wirklich möglich, dies auch anderen Vampiren beizubringen. Ich nahm mir ganz fest vor, dieses Ziel von jener Nacht an zu verfolgen, denn dadurch hatte ich wieder eine Aufgabe. Ich konnte nützlich für andere sein und musste nicht mehr allein leben. Allerdings wusste ich nicht, wie es mir gelingen sollte, die anderen Vampire zu finden. Aber wenn es das Schicksal gut mit mir meinen würde, was ich nach meiner Zeit mit Walther verdient hatte, wie ich fand, würde ich früher oder später einem Vampir begegnen. Dann würde ich Walthers Versprechen einlösen und ihm helfen.
Doch ich entschloss in jener Nacht noch etwas. Etwas, das mir schon lange auf der Seele brannte. Ich wollte fortan nicht mehr Knut sein. Dieser Name hatte mir niemals Glück gebracht. Ich bekam die Stimme meines Vaters nicht aus dem Kopf, der ihn immer wieder zornig rief und auch die Mikaelsons kannten mich unter diesem dümmlichen Namen. Wikinger hin oder her. Es war einfach nicht der Name, der mir gehören sollte. Ich wollte unter einem anderen Namen bekannt werden und es gab nur eine Wahl, die mir als passend erschien.
Walther war es, der mich zu einem besseren Vampir machte, und so wollte ich mich fortan nennen.
Walther.
Damit zog ich einen endgültigen Schlussstrich unter mein altes Leben. Das Neue sollte mir mit Walthers Segen mehr Glück bringen. Es schien mir in dieser Nacht noch fern und unrealistisch zu sein, doch ich blickte hoffnungsvoll in meine neue Zukunft.
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