WALTHERS GESCHICHTE

ICH HÖRTE ERST auf, zu rennen, als ich spürte, dass diese Art der Fortbewegung Walther ein Unbehagen bescherte. Ich stoppte an einer großen Trauerweide und ließ meinen alten Freund sanft auf den kalten Waldboden sinken. Er zitterte am ganzen Körper und blickte mich unsicher an.

»Es tut mir leid, Walther«, sagte ich und legte beruhigend meine Hand auf seine Schulter. »Ich hätte es dir eher sagen sollen. Ich bin kein gewöhnlicher Mensch.«

Walther schaute völlig emotionslos in meine Augen. Ich wusste nicht, was gerade in ihm vorging – ob er Angst hatte oder ob er einfach nur froh darüber war, dass ich uns so schnell aus dieser ausweglos erscheinenden Lage befreit hatte. Schließlich öffnete er vorsichtig den Mund.

»Knut, ich weiß, was du bist«, hauchte er mit fester Stimme, sein Blick wurde klarer. »Ich wusste es schon lange, mein Junge. Ich habe dich gesehen, wie du einen jungen Hirsch angegriffen und von ihm getrunken hast. Wenige Tage nachdem wir uns kennengelernt hatten.«

Ich wusste nicht, was ich daraufhin antworten sollte. All die Wochen hatte ich mich darum bemüht, mein finsteres Geheimnis vor ihm zu bewahren, aus Angst, er könnte sich von mir abwenden. Jetzt erfuhr ich, dass Walther bereits alles über mich und meine Lebensweise kannte. Weswegen ist er trotzdem bei mir geblieben?

»Du wusstest es?«, fragte ich ihn zögerlich. »Warum hattest du dann keine Angst vor mir? Ich hätte dich genauso anfallen und aussaugen können.«

»Das hast du aber nicht. Ich war mir immer sicher, dass du das niemals tun würdest«, sagte er und sein Blick wurde sanfter. »Du hast den richtigen Weg gewählt, damit umzugehen.«

»Damit? Ich war nicht der erste Vampir, den du trafst, habe ich recht?«

Walther nickte stumm und ich konnte sehen, wie sich ein paar Tränen in seinen müden Augen sammelten.

»Ich hatte einen Sohn, Vinzenz.«

Walther schloss die Augen und schien in Erinnerungen zu schwelgen. Seine faltigen Mundwinkel zogen sich zu einem schmalen Lächeln nach oben. »Er war ein guter Junge. Du erinnerst mich ein wenig an ihn, Knut. Er hat stets sein Bestes gegeben, um unserer Familie zu helfen. Bereits als kleiner Lütte war er sehr geschickt und verkaufte Holzschnitzereien. Es hätte ein redlicher junger Mann aus ihm werden können. Ein Mädchen hatte er auch schon ins Herz geschlossen und ich war mir sicher, dass den beiden eine wunderbare Zukunft bevorgestanden hätte.« Walther hörte auf zu sprechen und ein Schatten legte sich auf seinem Gesicht.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte ich vorsichtig.

»Er ist gestorben. Zweimal.« Walthers Antwort kam trocken und verbittert über seine zitternden Lippen.

Ich erschrak, denn ich wusste, was es bedeutete, zweimal zu sterben. Wie oft hatte ich mir die letzten Jahre gewünscht, dem Tod ein weiteres Mal gegenüber zu treten. Doch es sollte nicht sein. Dann traf ich diesen älteren Herrn, der mir wieder Hoffnung gab. Aber jetzt merkte ich, dass ich mich in einer Endlosschleife befand. Es gab kein Entkommen vor meiner Identität. Ich würde vielleicht niemals wieder ein halbwegs normales Leben führen können, niemals wieder unter gewöhnlichen Menschen leben. Denn diese hätten sich sofort von mir abgewandt, nachdem sie mich mit dem Hirsch gesehen hätten.

»Wer hat ihn verwandelt?«, wollte ich wissen und befürchtete, einen altbekannten Namen zu hören.

»Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht genau, wann und wie es passiert ist«, fuhr Walther mit seiner Geschichte fort. »Ich weiß nur noch, dass Vinzenz sich irgendwann sehr verändert hat. Er blieb tagsüber meist im Haus und weigerte sich, fast schon gewaltsam, an die Sonne zu gehen. Er war immer gern draußen gewesen. Die Sommer konnten für ihn nicht warm genug sein, doch das interessierte ihn plötzlich nicht mehr.« Walther holte tief Luft und sah mich forschend an. »Du bist auch kein Freund des Sonnenlichts, nicht wahr?«

Ich nickte stumm, während sich eine Wolke vom Vollmond wegschob und ein kühles bleiches Licht auf uns herab schien. Ein unheimliches Heulen erfüllte in diesem Augenblick die Luft des Waldes.

»Wölfe. Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte ich und späte besorgt in den kahlen Winterwald hinaus.

»Diese Tierchen sollten für dich doch kein Problem sein.« Walther konnte nun wieder ein wenig schmunzeln, bevor er mit seiner Erzählung weitermachte.

»Vinzenz war fortan nicht mehr er selbst. Auch seine Persönlichkeit veränderte sich immer weiter. Er war nicht mehr der ausgeglichene junge Mann, der stets freundlich zu jedem gewesen ist. Er war launisch, leicht reizbar und leider manchmal auch gewalttätig.«

»Hat er dir wehgetan?«, fragte ich instinktiv. Auch wenn ich nichts mehr hätte daran ändern können, signalisierte ich dem Alten damit, dass ich noch immer besorgt um ihn war.

»Nein, mir hat er nichts getan. Aber seiner Mutter.« Wieder holte Walther tief Luft und kniff die Augen vor seelischer Qual fest zusammen. »Es war an einem Sonntag. Vinzenz liebte Sonntage. Keine Arbeit. Das gemütliche Zusammensein mit der Familie und die Treffen mit seiner Freundin Elisabeth. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Er sagte, dass er großen Hunger habe. Doch den Sonntagsbraten, den wir uns an diesem wunderbaren Tag hatten leisten können, rührte er nicht an. Er meinte, ihm dürste es nach etwas anderem. Wir wussten nicht, was er meinte, und machten uns umso mehr Sorgen, was mit ihm nicht stimmen könnte. Vor lauter Schreck und Angst schnitt sich meine Frau in den Finger und blutete stark. Das weckte das Monster in unserem Sohn.« Walther brach ab und in Tränen aus.

Ich war wie gelähmt von dieser Geschichte. Konnte es wirklich sein, dass Vampire viel verbreiteter waren, als ich bislang dachte? Und warum mussten immer solch gute Menschen wie mein ehemaliger Herr Friedhelm und dieser gutherzige Mann hier neben mir darunter leiden? Was für eine ungerechte, gottlose Welt war das?

»Ich weiß, was er dann getan hat«, sagte ich, um es Walther zu ersparen, noch weiter über dieses furchtbare Erlebnis zu reden.

Walther nickte stumm.

Eine Weile schwiegen wir. Schließlich wollte ich wissen, was aus Vinzenz geworden war. Walther blickte wieder zu mir auf. Die letzten Tränen flossen noch seine fahlen Wangen herunter, doch seine Augen starrten in Leere.

»Ich habe ihn getötet«, antwortete er und ein Beben ging durch seinen schwachen, mageren Körper.

»Du hast deinen eigenen –« Ich brach meine Worte ab. Zu sehr tat mir Walther leid. Was konnte einem Elternteil Schlimmeres passieren, als das eigene Kind töten zu müssen?

»Schon gut, mein Junge.« Walther beugte sie zu mir und legte beruhigend seine Hand auf meine Schulter. »Es war das Beste für ihn. Er hat sich doch nur gequält in seinem neuen Dasein und er hätte niemals das Leben führen können, das er sich immer erträumt und auf das er so viele Jahre lang hingearbeitet hatte.«

Eine Weile schwiegen wir. Dann musste ich, auch wenn es mir sehr leidtat, eine weitere Frage zu Vinzenz' Todesumstände aussprechen.

»Wie hast du ihn umgebracht?« Die Worte kamen mir heiser und zitternde über die Lippen. Ich hätte verstehen können, wenn Walther sie nicht beantworten wollte, doch er deutete mit einer Kopfbewegung zu der alten Weide neben uns.

»Mit einem gewöhnlichen Stück Holz«, antwortete er alsdann und zuckte fast schon amüsiert mit der Schulter.

»Holz?« Ich schaute ihn verdutzt an. Sollte es noch mehr als Sonnenlicht geben, dass einen Vampir töten konnte? Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was mir Klaus damals erzählt hatte, aber ich war mir sicher, niemals etwas von Holz gehört zu haben.

»Wusstest du das etwa nicht?«, fragte mich Walther verwundert. »Das erzählt man sich doch schon seit langer Zeit. Einen Dämon der Nacht oder Vampir, wie du es nennst, tötet man mit einem Holzpflock durchs Herz. Es hört sich brutal an, aber ich war froh, dass es so schnell ging. Ich werde jedoch nie den Anblick vergessen, wie mein Sohn sich grau verfärbte und leblos neben mir zusammensackte. Aber es lag ein erlösendes Lächeln auf seinem Gesicht. Das gab mir Trost. Ich hatte ihn erlöst von diesem Fluch, diesem Unglück.«

Walther hielt erneut inne und auf seinem Antlitz zeichnete sich eine Mischung aus Trauer und Erleichterung ab.

»Es tut gut, endlich mit jemandem darüber reden zu können«, sagte er schließlich und nickte zufrieden.

»Was hast du dann gemacht? Die Leute werden sicher Fragen gestellt haben, was mit deiner Frau und Vinzenz geschehen ist.« Nun, da Walther einmal angefangen hatte zu reden, wollte ich alles darüber wissen. Noch nie zuvor konnte auch ich frei über solche Dinge sprechen. Es tat gut, war aber gleichsam beängstigend.

»Ich habe unser Haus angezündet und bin geflohen«, antwortete Walther nach einer Weile. »Und seit dem bin ich ohne festen Wohnsitz. Ohne Familie. Ohne Freunde. Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe, Knut. Auch, wenn du die gleiche Bürde wie mein Vinzenz zu tragen hast. Ich wünschte, er wäre so stark gewesen wie du.«

»Ich bin nicht stark«, dementierte ich seine Aussage sofort. »Ich bin genauso schwach, wie Vinzenz es war. Ich habe viel schlimmere Dinge getan als er. Doch ich hatte mehr Zeit, mich damit abzufinden und einen neuen Weg zu gehen. Es ist aber jeden Tag ein Kampf, den ich mit mir selbst ausfechten muss. Ich kann weder dir noch mir versprechen, dass ich nicht irgendwann wieder einem Menschen wehtue. Bei diesen Räubern habe ich meine Beherrschung verloren. Es werden weitere solcher Momente kommen und ich werde nicht immer ein guter Vampir sein können.«

»Aber du versuchst es und das tut nicht jeder.«

Walthers Worte verwirrten mich. Kannte er noch mehr Vampire? Ich hätte ihn so gern weitere Fragen gestellt, doch wir wurden von einem neuerlichen Wolfsgeheul unterbrochen. Und dieses Mal schien es deutlich näher zu sein.

»Vielleicht sollten wir von hier verschwinden. Ich habe heute keine Lust mehr, auf weitere Probleme. Komm mit, Walther, mein Guter. Wir finden bestimmt eine andere Bleibe.« Ich half dem Alten auf die Beine und wollte mich gerade umdrehen, als ich hinter mir ein Knurren hörte.

Ein riesiger grauer Wolf stand mit gefletschten Zähnen wenige Meter entfernt und seine goldgelben Augen leuchteten bedrohlich aus der Dunkelheit zu uns herüber.

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