WALTHER

NACHDEM ICH KENZ weit genug hinter mich gelassen hatte, suchte ich in einer verwitterten Scheune Zuflucht, die an einem alten Weg stand, der von dichten Gräsern überwuchert war. Ich war mir sicher, dass dort seit langer Zeit niemand mehr gewesen ist, denn ich kam ohne Probleme herein. Aber auch dieses Mal sollte ich mich irren.

»Oh, beim heiligen Josef! Was hat das Schicksal bloß mit dir armen Tropf angerichtet?«, hörte ich wider Erwarten eine Stimme aus einer uneinsichtigen Ecke der Scheune. »Dir scheint es ja noch um einiges schlechter ergangen zu sein als mir und das will was heißen, nicht?«

»W- wer sind Sie?«, fragte ich und blickte die kleine bucklige Gestalt scharfsinnig und misstrauisch an, die schließlich zu mir gekrochen kam.

Als der Fremde aus dem Schatten trat, erkannte ich einen älteren Mann in ihm. Sein magerer Körper war gezeichnet von harter Arbeit oder schwerer Krankheit. Vielleicht auch beidem, das vermochte ich nicht zu sagen. Sein schütteres graues Haar hing ihm in langen fettigen Loden von der Stirn und sein Bart schien stümperhaft und mit stumpfer Klinge gestutzt worden zu sein. Seine Hände zitterten, obwohl es noch gar nicht so kalt war, denn die dichte Bewölkung ließ die Wärme kaum entweichen. Mit Sicherheit war es kein gewöhnliches Zittern, sondern vielmehr ein weiteres Anzeichen von Alter und Gebrechen. Seine Kleidung gab ein noch jämmerlicheres Bild ab als die meine. Er schien sie aus Lumpen und Jutesäcken zusammengeflickt zu haben. Zusätzliche mit Stroh gefüllte Säcke lagen in einer windgeschützten Ecke. Reste von verschiedenen Nahrungsmitteln verrieten mir außerdem, dass der Alte im Gegensatz zu mir nicht nur zeitweise in der Scheune Schutz suchte. Er lebte hier. Einsam und verstoßen. Er war mir möglicherweise ähnlicher, als ich im ersten Moment dachte.

»Ich, ähm, mein Name ist Knut«, begann ich mich bei dem Herrn vorzustellen. »Ich wollte nicht bei Ihnen einbrechen. Ich habe nur Schutz gesucht.«

Einmal mehr war ich froh darüber, dass ich mich unter Kontrolle hatte. Seit meinen ersten Tagen als Blutsauger habe ich es bislang geschafft, keinem Menschen mehr etwas zuleide zu tun. Tierblut war nach wie vor meine Nahrungsquelle, obgleich ich spürte, dass tief in mir drin die Begierden nach menschlicher Kost nach wie vor existierten.

Der Alte nickte stumm mit dem wacklig wirkenden Kopf und kam weitere Schritte näher. Er beäugte mich eindringlich, schien aber keine Angst zu haben.

»Bitte, glauben Sie mir. Ich habe nichts Böses im Sinn«, sprach ich mit ruhiger Stimme auf ihn ein und hob beschwichtigend die Hände. Auch, um ihn auf Abstand zu mir zu halten, denn ich war mir trotz aller Selbstkontrolle nicht sicher, was mit mir geschehen konnte, nachdem ich so lange den direkten Kontakt zu Menschen vermieden hatte. »Ich wurde verfolgt. Ich habe die Menschen auf dem Markt in Kenz erschreckt«, sagte ich und trat einen Schritt zurück.

Der Alte gab ein gurgelndes, kehliges Geräusch ab, was wohl ein Lachen darstellen sollte. »Das verwundert kaum, mein junger Freund«, sagte er und schmunzelte mich mit seinen gelb-schwarzen Zähnen breit an. »Du hättest dich vielleicht ein wenig herausputzen sollen, bevor du unter Menschen gehst. Du siehst ja aus wie der berüchtigte wilde Mann.«

Mir stockte der Atem. Nicht zum ersten Mal hörte ich an jenem Tag von diesem wilden Mann. Verwirrt fragte ich den Alten, was es damit auf sich hatte.

»Der wilde Mann, nun, darüber erzählt man sich seit mehreren Generationen«, begann er zu berichten. »Man sagt, es seien Menschen oder menschenähnliche Kreaturen, die am ganzen Körper mit dichten Haaren bewachsen sind.« Als er das sagte, grinste er mich noch breiter an und mir wurde klar, dass ich in meiner derzeitigen Verfassung der Vorstellung eines wilden Mannes entsprochen haben musste. »Der wilde Mann soll einzelgängerisch leben, sodass ihn nur wenige je zu Gesicht bekamen. Jedoch wird berichtet, dass er über Riesenkräfte und anderer unmenschlicher Fähigkeiten verfüge.«

Ich wurde nachdenklich bei diesen Worten. Sollte dieser wilde Mann tatsächlich ebenfalls ein Vampir sein?

»Er lebt mit Vorliebe im Wald und gilt bei manchen Leuten als naturverbunden«, fuhr der Alte fort. »Allerdings glauben die meisten, dass der wilde Mann gefährlich ist. Er steht bei ihnen für das leibhaftige Chaos und den Teufel. Er widerspiegelt alle Unarten und gottlosen Charaktereigenschaften, die die fromme Menschheit ablehnt. Hat man sie jedoch einmal in ihrer großen Körperkraft unschädlich gemacht, dann sind sie dem Menschen unterlegen.«

Ich zuckte zusammen. Wenn der wilde Mann wirklich ein Vampir war, dann hatten die Menschen Möglichkeiten, ihn außer Gefecht zu setzten?

»Wie kann man den wilden Mann bezwingen?«, fragte ich, ohne mir anmerken zu lassen, dass die Antwort in mir Unbehagen auslöste.

Der Alte gab wieder sein gurgelndes Lachen ab und zwinkerte mir zu. »Nun, unterschätze niemals die Macht, die Frauen auf uns Männer ausüben«, begann er kichernd zu antworten.

Ich erinnerte mich säuerlich an mein Zusammentreffen mit Rebekah Mikaelson. Nur, dass es in diesem Fall wohl eher die wilde Maid war.

»Man kann den wilden Mann durch fleischliche Verführung unschädlich machen. Weibliche Tugend wirkt gleichwohl Wunder. Alkohol ebenfalls und, wer daran glaubt, kann es durch einen geeigneten Zauber schaffen«, zählte der Mann weitere Möglichkeiten auf. »Natürlich kann man den wilden Mann auch einfach durch Waffengewalt zur Strecke bringen und wenn er doch noch leben sollte, kann man ihn einsperren und im Käfig halten wie ein Tier oder ein Irren.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man einen Vampir in einen Käfig halten konnte. Wenn der Alte recht haben sollte, dann ist der sagenhafte wilde Mann ganz sicher kein Vampir und vielleicht auch nur eine Legende.

»Hab keine Angst, mein junger Freund«, sagte der Alte und tätschelte meinen Arm, als sei ich eine alte Mähre. »Das sind alles nur Ammenmärchen. So etwas wie einen wilden Mann gibt es nicht und auch sonst keine dieser schauerlichen Kreaturen, von denen man sagt, dass sie sich in unseren Wäldern aufhalten.«

»Wenn er wüsste«, dachte ich, entschied mich aber, meinen neuen Freund lediglich milde anzulächeln.

»Ach, Himmel! Wie unhöflich von mir«, rief der Alte plötzlich und fasste sich an die Stirn. »Ich habe dir noch gar nicht meinen Namen verraten. Ich bin Walther«, sagte er und reichte mir seine zittrige Hand.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich bin Knut. Bis vor ein paar Jahren war ich Bursche auf einem Gutshof«, begann auch ich etwas von mir zu erzählen, wobei ich gewisse Details natürlich ausließ. »Mein Herr ist gestorben und seit dem bin ich unterwegs, um mir eine neue Bleibe zu suchen.«

»Mit wenig Erfolg, wie mir scheint.« Walther lachte aus voller Kehle und brachte zum Ende seines Lachanfalls nichts weiter als ein röchelndes Husten heraus.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte ich ihn, als ich sah, dass der Alte zu schwächeln begann.

»Du kannst dir ja nicht mal selbst helfen«, lehnte er winkend ab und ließ sich auf einen der strohgefüllten Jutesäcke fallen. »Einen Becher mit Wasser könntest du mir bringen, wenn du unbedingt möchtest. Nicht weit von hier ist ein kleiner Bach, und wasch dich selbst auch gleich darin. Du hast es bitter nötig!«

Wieder lachte der Alte und gluckste dabei wie ein großes Baby. Ich hatte ihn noch nicht lange gekannt und wusste nichts über ihn und warum er hier draußen allein in dieser Scheune hockte, aber ich mochte ihn vom ersten Augenblick an. Er hatte etwas sehr Gütiges und Liebenswertes an sich, auch, wenn er mit der Wahrheit über meinen Zustand nicht gerade hinterm Berg blieb.

Ich musste ihm jedoch recht geben, als ich wenig später mein eigenes Spiegelbild in dem Bach erblickte. Nach allem, was Walther mir über den wilden Mann erzählt hatte, entsprach ich dieser Beschreibung auf ungeheuerliche Weise. Ich fasste den Entschluss, seinem Rat zu folgen und mich wieder mehr meiner Körperpflege zu widmen. Es half schließlich nichts, meinen Blutdurst zu kontrollieren, wenn ich aufgrund meines abschreckenden Äußeren dennoch nicht unter Menschen sein konnte. Fast schon beiläufig bemerkte ich, dass ich nicht einmal an Blut denken musste, seit ich Walther traf. Ich hatte es also geschafft. Jahrelanger Konsum von Tierblut hatte mich resistent gemacht, gegenüber dem Drang, Menschenblut zu trinken. Ich spürte, wie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Gefühl der Freude in mir aufkam. Das gab mir Hoffnung, meine Pläne von einem möglichst normalen Leben verwirklichen zu können.

Doch eine Sache stand weiterhin zwischen mir und der Normalität. Das Sonnenlicht. Selbst bei dichter Bewölkung spürte ich ein Brennen auf der Haut und diese rötete sich, als wenn ich stundenlang in der prallen Sonne gearbeitet hätte. Direkte Sonnenstrahlung verbrannte mich komplett. Ob es wohl irgendetwas gebe, dass mich auch von diesem Fluch befreien konnte? Die Mikaelsons schienen doch eine Möglichkeit gefunden zu haben.

Die Mikaelsons.

Es schien, als sollte meine Rache an ihnen nicht der einzige Grund sein, weshalb ich diese verfluchte Familie wiederfinden musste.

Aber für diesen Tag wollte ich nicht mehr daran denken und auch an sonst nichts Negatives. Ich wollte meine neu gewonnene Freiheit genießen, mit einem Menschen unter einem Dach leben zu können, ohne ihn als meine nächste Mahlzeit zu betrachten. Walther vertraute mir und ich ihm. An diesem Tag, Dienstag, den ersten Oktober 1546 blickte ich zuversichtlich in meine Zukunft.

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