SABINE
»WIE ZUM HENKER bist du denn drauf, Walther?« Sabine fauchte mich entrüstet an und hielt den Arm des Nachtwächters fester umklammert. »Einen Teufel werde ich tun, meine Beute wieder gehen zu lassen, ohne auch nur einen Schluck Blut getrunken zu haben!«
Ein leichter Nieselregen setzte ein und das letzte schwache Licht der zerbrochenen Laterne erlosch, wodurch die Gasse in eine gespenstische Dunkelheit gehüllt wurde. Aber ich konnte das wütende Funkeln in Sabines Augen deutlich erkennen. Ebenso hörte ich den ängstlichen Nachtwächter schwer atmen und mit den Zähnen klappern.
Unweigerlich musste ich beim Anblick dieses alten Mannes an Walther denken. Dem Mann, dem ich so viel zu verdanken hatte und von dem ich mich zu früh verabschieden musste. Vor allen Dingen dachte ich an die letzten qualvollen Minuten meines ehemaligen Herrn, Friedhelm, welche sich wie eine Lanze in meine Erinnerungen bohrten. Ich wollte nicht, dass auch dieser unschuldige Mann starb. Ob durch das bestialische Werk dieser Vampirin oder durch eine Herzattacke – ich musste seinen Tod verhindern und Sabine von meiner Art zu leben überzeugen. Kein Mensch sollte mehr durch einen Vampir zu Leid und Tod kommen.
»Wir brauchen ihn nicht«, sagte ich mit flehender Stimme. »Ich brauche ihn nicht, um zu überleben und du brauchst ihn auch nicht.«
Sabine starrte mich verächtlich an und zog den Nachtwächter ruckartig ein Stück näher an sich heran. »Was redest du da für einen Unsinn? Bist du auf irgendeiner kirchlichen Mission? Willst du mich auch davon überzeugen, auf Gott zu vertrauen und mich dann in eine Gruft packen, damit ich dort den qualvollen Hungertod erleide? Das kannst du vergessen, mein Freund! Von solchen Predigern habe ich die Schnauze gestrichen voll. Wie konnten sie es nur schaffen, einen Blutsauger in ihre Reihen zu locken?«
Sie wandte sich mit einem letzten abfälligen Schnauben von mir ab und schlug ihre Reißzähne in den Hals des Mannes, noch ehe ich mich regen konnte.
Ich hatte versagt. Doch ich musste wenigstens dafür sorgen, dass ich nicht auf zweierlei Weise versagte, denn das erste Mal seit sehr langer Zeit stieg mir in diesem Augenblick der Geruch frischen Menschenblutes in die Nase. Ich drehte diesem Schauspiel den Rücken zu und hielt mir die Ohren zu. Ich wollte es weder sehen, noch hören und schon gar nicht riechen. Letzteres konnte ich freilich nicht verhindern. Ich spürte wie, angeregt durch den Geruch, auch meine Reißzähne wuchsen und die Venen unter meinen Augen hervortraten.
Ich zitterte, doch wurde meine Aufmerksamkeit schlagartig auf ein Geräusch, das vom anderen Ende der Gasse zu mir drang, gelenkt. Eine vollgefressene Ratte machte sich über allerlei Abfall her. Ich hatte nur eine Wahl, meine Instinkte zu befriedigen, ohne mich ebenfalls an dem Mann zu bedienen. In Vampirgeschwindigkeit lief ich zu dem Nager und schnappte ihn. Ratten standen normalerweise nicht auf meinem Speiseplan. Selbst als Vampir behielt ich doch eine gewisse Abneigung gegen derlei Schädlinge und Krankheitsüberträger, auch wenn ich wohl davon ausgehen konnte, sicher nicht vom schwarzen Tod heimgesucht zu werden.
»Was wird das denn, wenn es fertig ist?« Sabine ließ von ihrem Mitternachtsmahl ab, um mir einen angewiderten Blick zuzuwerfen, als ich gerade meine Zähne in den kleinen zappelnden Leib der Ratte schlug. Ein kurzes schrilles Quieken und die Ratte hatte ihren letzten schmerzerfüllten Atemzug getan.
»Das ist es, was wir tun sollten«, sagte ich zu Sabine, nachdem ich meinen Hunger an der Ratte gestillt hatte und wieder klar denken konnte, obwohl das Blut des Nachtwächters verführerisch seinen Hals entlang floss.
Noch lebte er. Vielleicht konnte ich ihn retten.
»Hör mir zu, Sabine. Wir Vampire brauchen Blut, aber wir müssen nicht unbedingt –«
»Sag niemals dieses Wort! Hörst du?« Sabines Schrei ließ nicht nur mich zusammenzucken, auch ein paar weitere Ratten rannten aufgeschreckt in die Finsternis.
»Wa- was meinst du? Welches Wort?«, stammelte ich, mir keiner Schuld bewusst.
»Vampir«, spuckte Sabine aus. »Das ist es, wie sie uns nennen.«
»Sie?« Ich war verwirrt. Von wem redete Sabine da eigentlich die ganze Zeit? Was für Prediger meinte sie?
»Du kommst nicht aus dieser Gegend, richtig?«, fragte Sabine mich und ließ endlich von ihrem Opfer ab, welches keuchend zu ihren Füßen zusammenbrach. »Glaub mir, du wärst nicht hier, wenn du von ihnen wüsstest und dem, was sie mit Leuten wie uns machen.«
»Wer sind sie? Was machen sie?« Ich blickte Sabine eindringlich in die Augen, sie jedoch senkte traurig den Blick.
Es musste schon etwas Furchtbares sein, von dem sie da sprach, wenn es selbst einer so starken Frau wie ihr Kummer bereitete.
»Gegenfrage. Warum bist du hier?«, fragte sie anstatt mir zu antworten.
»Ich habe das ganze Land nach Gleichgesinnten abgesucht. Ich konnte nicht der Einzige meiner Art sein«, begann ich eine Kurzfassung meiner Reise zu erzählen. »Ich hörte immer wieder Gerüchte über Vam-. Von uns. Ich wollte nicht mehr allein an die Nacht gefesselt sein und ich wollte den Menschen die Angst vor uns nehmen.«
»Verstehe.« Sabines Blick blieb auf der toten Ratte hängen. »Du willst uns vom Menschenblut abkehren. Wir sollen Tierblut trinken, ja? Wie lange bist du schon ein Blutsauger?«
»Seit einigen Jahrzehnten. Im Mai 1539 wurde ich unfreiwillig verwandelt und zu einem Monster gemacht. Ich habe an jenem Abend unzählige Menschen qualvoll getötet. Manche davon haben mir sehr viel bedeutet. Eine junge Frau ist nur deshalb gestorben, weil ich zu feige war, mich erwischen zu lassen. Ich wollte so nicht mehr leben.«
Zu meiner Überraschung änderte sich Sabines Gesichtsausdruck, als sie meine Geschichte hörte. Ihr Blick schweifte melancholisch durch die Gassen und ruhte schließlich auf dem schwach keuchenden Nachtwächter.
»Ich kenne dieses Gefühl. Keiner von uns will das sein, was er ist. Aber wir können nichts gegen unsere Natur tun, Walther. Auch ich habe viele Jahre lang versucht, mich von Tierblut zu ernähren. Irgendwann hat meine Natur ihr Vorrecht mit aller Kraft zurückgefordert und ich habe wie im Wahn ein ganzes Dorf niedergemetzelt.« Sabines Blick verfinsterte sich und ich sah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte. »Ich hasse auch mich dafür, was ich bin. Ich habe diese Menschen wie Vieh abgeschlachtet. Nicht weil ich meinen Durst nach Blut stillen wollte, nein, bloß, weil ich es konnte und wollte. Ich habe Männer jeden Alters, Frauen und auch Kinder in Stücke gerissen und mir einen Spaß daraus gemacht, sie aus den Teilen unterschiedlicher Menschen und Tieren zu einem grotesken Mischwesen wieder zusammenzusetzen. Und ich habe so etwas nicht nur einmal getan. Ich tat es wieder und wieder, über mehrere Jahrzehnte hindurch. Ich war in England, in Frankreich, Spanien und sogar in Russland. Überall habe ich meine blutige Spur hinterlassen. Nach jedem Mal fühlte ich mich, als würde ich vor Schmerz und Kummer innerlich zerreißen, doch dann tat ich es erneut und abermals. Versuche nicht, mir einzureden, dass ich ein besserer Mensch werden könnte, wenn ich mich von Ratten und Tauben ernähre. Das wird nicht geschehen.«
Ich konnte ihr Herz schlagen hören und sah, wie sie zitterte. Sie war ein gebrochenes Wesen, genau wie ich. Nur hatte ich noch Hoffnung. Was konnte ich tun, um auch Sabine wieder Zuversicht und Vertrauen zu sich selbst zu geben?
Dann geschah etwas, mit dem ich in dieser Situation nicht gerechnet hätte. Sabine beugte sich zu dem immer schwächer werdenden Nachtwächter herunter, biss sich ins eigene Handgelenk und gab ihm ihr Blut zu trinken. Die Bisswunde am Hals des Mannes verheilte daraufhin und er bekam wieder Farbe im Gesicht, soweit ich das in dieser Dunkelheit erkennen konnte. Dann blickte sie ihm tief in die Augen und befahl ihm, alles eben erlebte zu vergessen und sich punkt ein Uhr an einer anderen Stelle der Stadt aufzustellen, um die Zeit anzusagen.
»Wir können auch Gutes bewirken.« Sabine blickte dem Mann nach, bis er hinter der nächsten Ecke in die Nacht verschwand.
»Und darauf sollten wir bauen, Sabine. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Dunkle in uns gewinnt. Vielleicht sehen das dann auch irgendwann die Menschen und haben keine Furcht mehr vor uns.«
Sabine schaute mich ausdruckslos an. Dann stand sie auf und klopfte sich den Schmutz aus ihrem regennassen Kleid.
»Weißt du was? Ein bisschen beneide ich dich, für deine gutgläubige Art. Das Leben muss schön sein, wenn man so viel Hoffnung hat. Aber es sind nicht nur wir, vor denen man Angst haben muss. Nicht alle Menschen sind wehrlose Opfer.«
»Ich weiß, es gibt gute und böse Menschen. Ich habe einige schlimme Erfahrungen sammeln müssen auf meiner Reise«, sagte ich etwas unsicher, da mir Sabines Blick verriet, dass sie nicht die üblichen Gemeinheiten der Menschheit ansprach.
»Lass mich raten«, fuhr Sabine fort und musterte mich neugierig. »Du hast dich im ganzen Land umgehört, wo man Blutsauger wie dich finden kann und jetzt bist du hier in der Gegend gelandet. Dann hast du vermutlich von Calw gehört.«
»Kalb – du meinst Kalb. Ja, man sagte mir, dass ich beim Kalb suchen soll. Ich habe aber keine Ahnung –«
Sabine verfiel in ein fast schon hysterisches Lachen. Ich verstand die Welt nicht mehr. »Du bist auf der Suche nach der Bruderschaft.«
»Der Bruderschaft?«, fragte ich und schüttelte den Kopf. »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«
»Natürlich nicht. Der Pater tut alles dafür, dass sein Geheimbund auch geheim bleibt.«
»Aber du kennst ihn. Richtig, Sabine?«
»Vielleicht«, sagte sie und grinste geheimnisvoll.
»Kannst du mich zu ihnen bringen?«
»Könnte ich. Aber ich bin nicht sicher, ob du das wirklich willst.«
»Deswegen bin ich hier«, antwortete ich verwirrt.
»Dann folge mir und sage später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
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