ICH BIN DIE AUFERSTEHUNG UND DAS LEBEN

»ES WAR SOMMER im Jahr 1381 als ich mit ein paar weiteren Brüdern unseres Klosters nach Sizilien geschickt wurde. Wir handelten mit Wein, Seide und einigen anderen Kostbarkeiten. Freilich stand fernerhin der religiöse Austausch mit anderen Abteien auf unserer Aufgabenliste und Sizilien wurde nicht zufällig ausgewählt.«

Pater Horatius goss sich einen Kelch mit Rotwein ein und bot auch mir etwas davon an. Ich lehnte ab, denn Alkohol stand für mich damals sinnbildlich für eine große Schwäche. Er war für die Menschen das, was für mich deren Blut darstellte. Ganz abgesehen davon, dass mein letzter Rotwein, den ich je getrunken hatte, mit dem Blute Klaus Mikaelsons verunreinigt war.

»Sizilien war die ursprüngliche Heimat meiner Mutter und damit meiner Zieheltern«, fuhr der Pater schließlich fort. »Man musste mich nicht lange bitten, ob ich gerne mitkommen würde. Dort konnte ich meinen Wurzeln nahe sein, wenn auch nur der einen Hälfte. Die Medicis hatten sich – wer hätte es gedacht? – nicht ein einziges Mal bei mir oder meinem Kloster gemeldet. Aber das spielte längst keine Rolle mehr für mich. Ich war mittlerweile einunddreißig Jahre alt und hatte mich mit meinem Dasein als Mönch angefreundet.«

Ein kehliges Lachen kroch seinen Schlund empor, als er den letzten Tropfen Rotwein zu sich genommen hatte und den leeren Kelch auf den Tisch stellte. Schließlich sah mir Horatio tief in die Augen, als wollte er, dass ich mir die nachfolgenden Worte ganz besonders gut einpräge.

»Ich stand mitten im Leben, mein junger Freund«, begann er mit einem Schnalzen zu erklären. »Und dieses Leben liebte ich. Mit all seinen Facetten. Bruder Horatius, so nannte man mich einst. Ich hatte ein Stein im Brett bei unserem Ordensvater Marius und noch viel mehr bei meinem Mitbruder Claudius.«

Ich konnte seinen sehnsüchtigen Blick zu dieser Zeit nicht deuten, aber der Pater redete nicht lange um den heißen Brei herum und gab mir ohne Umschweife zu verstehen, welche besondere Verbindung er und dieser Claudius hatten.

»Denn ich liebte nicht nur mein Dasein als Mönch, die täglichen Gebete und harte Arbeit. Nein, Walther. Was oder vielmehr wen ich am meisten geliebt habe war Bruder Claudius.«

Ich schäme ich mich heute für meine Gesichtsentgleisung, als mir an jenem Tag bewusste wurde, dass Horatio nicht über die brüderliche Liebe zweier befreundeter Mönche sprach. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich zu dieser Zeit noch weniger wusste als Jon Schnee kurz nach seiner Geburt.

»Du fragst dich sicher, was unser Orden gegen diese Verbindung unternommen hat«, sprach er mich an und erwischte mich damit auf dem völlig falschen Fuß.

»Sol-sollte er das?«, fragte ich zurück. Horatio spürte mein Unbehagen und lachte.

»Walther, du bist ja noch ein ganz zartes Pflänzchen, welches erst noch gepflückt werden muss. Ich bin sehr gespannt auf deine Geschichte, aber allzu viel von der Welt gesehen hast du allen Anscheins nach bislang nicht. Doch das ist nicht schlimm. Jetzt, wo du Anschluss zu Gleichgesinnten gefunden hast, wird auch für dich die ein oder andere günstige Verbindung herausspringen. Hässlich bist du ja nicht.«

Wieder lachte der Pater und ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Daraufhin zeigte er Einsicht und wechselte das Thema.

»Wir hatten in Sizilien eine schöne Zeit und ebenso viel Arbeit. Wir handelten nicht nur, wir packten kräftig mit an und wenn ich sagte, dass es Sommer war, dann meine ich auch Sommer. Die Sonne schien unablässig auf uns herab und wie du dir sicher vorstellen kannst, sind Mönchskutten nicht gerade das, was man als luftig bezeichnen würde. Doch wir hatten auch Glück, dass das Meer nicht weit entfernt war. Ich liebe das Meer. Ich frage mich oft, warum ich nicht einfach dortgeblieben bin. Aber nach all diesen Vorfällen, hätte es keinen Sinn gemacht, schätze ich.«

»Vorfälle?«, fragte ich vorsichtig, doch konnte ich mir denken, welche Anekdote seines langen Lebens Horatio mir als Nächstes erzählen wollte.

»Ich schätze dich so ein, dass du weißt, dass mein menschliches Leben schließlich auf dieser idyllischen und sonnenverwöhnten Insel ein jähes Ende nehmen sollte. Welcher Ort hätte auch passender sein können, um in ein lichtscheues Wesen verwandelt zu werden, welches anstelle von rotem Wein das rote Blut seiner Mitmenschen verzehrt?«

»Wie? Wer?«, waren die einzigen zwei Wörter, die ich daraufhin herausbringen konnte. Ich spürte, wie eine alte Wut in mir entflammte. Konnte es möglich sein, dass die Mikaelsons auch diesen ehemaligen Ordensbruder um sein friedliches Leben gebracht hatten?

»Wie immer, wenn eine furchtbare Geschichte erzählt wird, beginnt diese zunächst harmlos und so war es auch bei mir.« Horatio schenkte sich einen weiteren Kelch Wein ein und ging einige Momente in sich, bevor er stumm nickte und schließlich weitererzählte.

»Der 21. August 1381. Die Sonne schien, die Vögel sangen und wir bereiteten uns auf unsere Abreise vor, die am nächsten Tag auf dem Plan stand. Wir hatten unseren Eselskarren voll beladen und freuten uns darauf, unsere Brüder im hohen Norden Italiens wiederzusehen. Doch plötzlich tauchten drei junge Leute vor dem Kloster auf und baten um Asyl. Sie waren auf der Flucht. Vor wem, das sagten sie nicht.«

Drei junge Leute? Diese Information ließ mich hellhörig werden.

»Eine junge Frau und ihre beiden Brüder?«, fragte ich ohne Umschweife nach.

»Eine Frau und zwei Männer, ja. Aber nur einer von ihnen war ihr Bruder«, widerlegte der Pater meinen Verdacht. »Ihr Name war Aurora de Martel. Sie war ein hübsches kleines Ding. Langes rotes Haar, verträumte Augen. Jeder nahm ihr sofort die Geschichte ab, dass sie in Not geraten war. Ihr Bruder, Tristan de Martel, war stets um Höflichkeit bemüht, er passte sich an, obwohl er beteuerte, seinen Glauben vor langer Zeit abgelegt zu haben. Er tat mir leid. Ich dachte schon, mein Leben hatte es nicht gut mit mir gemeint. Aber was konnte diesen Menschen zugestoßen sein, dass sie sogar ihren Glauben verloren hatten?«

»Und der zweite Mann?«, fragte ich ungeduldig nach.

»Lucien Castle. Etwas zu arrogant für meinen Geschmack. Verzeih mir, aber irgendwie mochte ich ihn nicht. Doch die Türen eines Klosters standen für Hilfesuchende stets offen. Oder zumindest jene Türen des Nebengebäudes. Du weißt ja, Frauen und so. Und diese Frau stellte sich als derart liebreizend heraus, dass sie es schaffte, sämtliche Mönche in ihrem Umkreis für sich zu begeistern. Das, mein lieber Walther, wurde tatsächlich schnell zu einem Ärgernis. Vor allem, weil ihr Bruder derart besessen von ihr zu sein schien. Je länger ich über diese Leute nachdenke, desto seltsamer kommen sie mir vor. Aber weiter im Text. Für Claudius und mich war es von Vorteil, dass die Aufmerksamkeit unserer Brüder auf andere Dinge gelenkt war. Wenn wir nur nicht so leichtsinnig gewesen wären, uns ausgerechnet von Tristan erwischen zu lassen.«

»Erwischen?«, stellte ich die nächste Frage, die auf meine unschuldige Unwissenheit zurückzuführen war.

»Gehen wir besser nicht weiter ins Detail, was?«, stellte der Pater fest und grinste ein undefinierbares Grinsen. »Jedenfalls zeigte sich unser Gast als äußerst verständnisvoll und meinte, dass auch er ein Geheimnis mit sich herumtrug. Allerdings, behauptete er, dass es sich um ein sehr viel furchtbareres Geheimnis handeln würde, und er wünschte sich, Beichte bei jemanden ablegen zu dürfen. Selbstverständlich gewährten wir ihm diese Bitte und erwarteten ein Geständnis über einen Diebstahl, eine unschickliche Verbindung wie die unsere oder gar zu seiner Schwester, was uns nicht verwundert hätte. Einen Mord vielleicht sogar. Aber was dann geschah, übertraf jede Vorstellung, die ein Mensch über das Wort Furchtbar nur haben konnte.«

»Er hat euch angegriffen?«, stellte ich eine neuerliche Vermutung auf.

»Er hat uns Wein eingeschenkt.« Die Antwort kam so nüchtern wie überraschend. »Anschließend begann er zu erzählen und behauptete, dass das, was wir da täten«, wieder schmunzelte Horatio auffällig, »längst keine Sünde sei. Dann erzählte er doch noch von seinen Verbrechen und den Menschen, denen er das Leben genommen hatte. Unglücklicherweise hatten Claudius und ich bereits mehr als die Hälfte unseres Weinkelches gelehrt, als uns bewusste wurde, dass wir mit einem Mörder bei Tisch saßen. Du kannst dir sicher vorstellen, dass wir annahmen, unser Wein wäre vergiftet. Wir hielten Tristan für die menschgewordene Rache Gottes für unser anstößiges Verhalten. Aber wir sollten uns irren. Tristan hatte ebenso wenig mit dem Herrgott zu tun, wie Feuer mit Wasser. Er war der Teufel und als solcher präsentierte er sich uns daraufhin.«

Horatio verstummte, dann veränderten sich seine Gesichtszüge zu der hässlichen Fratze eines Vampirs.

»Welchen Schock wir damals erlitten haben, brauche ich dir sicherlich nicht näher zu erklären, Walther.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann ging alles ganz schnell. Tristan griff nach einem Brotmesser und behauptete, dass er uns erlösen könne. Hörst du? Erlösen! Wir könnten frei sein von den klösterlichen Zwängen und von den christlichen Werten, die unserer Liebe mit so viel Hass und Gleichgültigkeit gegenüberstanden. Wenn er fertig wäre, würden wir ein neues Leben führen können. Wir bräuchten uns nie wieder verstecken – hat er behauptet. Was für eine elende Lüge.«

Wieder lachte Horatio.

»Alles schien ihm wahrlich Spaß zu machen. Unsere ängstlichen und fragenden Gesichter und unsere Blicke, welche das Brotmesser nicht aus den Augen ließen. Dann stellte er uns die Frage, wer das Messer als Erster in die Brust seines Bruders rammen wolle. Das wäre der größte Liebesbeweis, den wir machen könnten, behauptete er. Natürlich nahmen wir die Beine in die Hand und flüchteten. Weit kamen wir nicht. Denn Tristan war schneller als alles, was wir je gesehen hatten. Ehe wir uns versahen, wurde alles schwarz um uns herum. Als wir wieder aufwachten, war es bereits Nacht und Tristan sowie seine beiden Begleiter längst verschwunden. Ein Martyrium begann. Wir wussten nicht, was mit uns geschehen war. Die anderen Mönche suchten bereits nach uns und fanden uns schließlich völlig entrückt zwischen den Weinfässern. Wir hatten einen schrecklichen Hunger und unser ganzer Körper tat weh. Gleichzeitig fühlten wir uns gut. Es war alles und nichts.«

Ich fühlte mich an jene Nacht zurückerinnert, in der ich verwandelt wurde. Wenigstens hatte Klaus sich bemüht, mir alles einigermaßen zu erklären, was er aus mir gemacht hatte, so hatte ich den Hauch einer Ahnung, was geschehen war. Ich konnte mir nicht ausmalen, wie es für Horatius und Claudius gewesen sein musste.

»Jesus sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt«, murmelte er nach einer Weile und blickte ins Leere.

»Ihr müsst mit dieser Situation völlig überfordert gewesen sein. Was haben die anderen Mönche mit euch gemacht?« Ich kam nicht dazu, weitere Fragen zu stellen, wie das Leben im Kloster für ihn und seinen Bruder und Geliebten weiterging. Denn die Mönche konnten nichts mehr tun.

»Wir haben sie ausgetrunken«, verkündete Horatio beinahe belustigt. »Einen nach dem anderen. Hätte der dicke Bernardus nicht seine blutende Wunde am Finger zu uns geschleppt, die er sich beim Schneiden fettiger Wurst zugezogen hatte, dann hätten wir vermutlich länger gebraucht, um herauszufinden, dass es das war, was wir brauchten – Blut. Zu lange, höchstwahrscheinlich. Denn von allein hätten wir den Weinkeller vielleicht nie verlassen. Wir hatten Angst, vom Teufel besessen zu sein. Grundgütiger, wie recht wir doch eigentlich hatten.«

»Was ist dann passiert? Seid ihr in diesem Kloster geblieben?«

»Walther, mein junger Freund. Was hätten wir den verbliebenen Mönchen sagen sollen? Nein, wir sind geflohen, so schnell uns unsere neugewonnenen Kräfte trugen. Wir rannten die ganze Nacht, irgendwohin, ohne Ziel. Aber dann kam sie zurück, die Sonne, unsere ehemals beste Freundin. Unsere Haut fing sofort an, zu brennen, und ich schaffte es, gerade so, mich in den Schatten zu flüchten. Für Claudius kam jede Hilfe zu spät. Seine Todesschreie werden bis in alle Ewigkeit in meinem Gedächtnis nachhallen. Der Geruch seines brennenden Fleisches hat sich in meine Nase festgesetzt und den Schmerz seines Verlustes werde ich ebenfalls nie wieder los. Es war, als würde die Hölle über mich hereinbrechen und mich für meine Sünde strafen.«

Er hielt inne, richtete seinen Blick an die Decke seiner Kammer und schloss für einen Moment die Augen.

»Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, heißt es im Evangelium nach Johannes. Kapitel 8.«

Schließlich kehrte Pater Horatius in das Hier und Jetzt zurück.

»Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass das alles nichts mit Gott zu tun hatte. Ich wusste eines Tages, was ich war – was dieser Tristan de Martel war. Es gab nur eine Möglichkeit, ich musste mein neues Dasein akzeptieren und ein neues Leben beginnen. In einem hatte Tristan recht – ich war von da an frei von allen menschlichen Zwängen und Moralvorstellungen, aber ich war dennoch nicht in Freiheit. Ich war von einem Leben in der Dunkelheit abhängig, an menschliches Blut als meine Nahrung und ich war daran gebunden, für zahlreiche Morde verantwortlich zu sein. Dabei war ich vorher glücklich gewesen. Darin hatte Tristan unrecht. Ich musste nicht befreit werden. Ich hatte ein wunderbares Leben als Mönch und vor allem hatte ich Claudius' Liebe. Beides hatte er mir weggenommen. Doch ich schwor, mir mein altes Leben im Herzen zu bewahren und eines Tages, Schritt für Schritt wieder zu holen. Ich wollte weitere Blutsauger finden und ihnen Halt und einen Sinn geben. Die Vorstellung, dass es mehr Kreaturen wie mich gab, die zu gleichen Teilen monströs und menschlich waren, trieb mich an, sie zu suchen. Ich wollte sie alle finden und unter einen Orden versammeln. Einmal Mönch, immer Mönch, nicht wahr? Die Idee zur Bruderschaft des Blutes war geboren. Herzlich willkommen bei den Fratres Sanguinis, Walther. Und jetzt möchte ich deine Geschichte hören.«

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