FRATRES SANGUINIS

ZWISCHEN DURLACH UND CALW lag ein Tagesmarsch – in unserem Fall Nachtmarsch –, den Sabine und ich in gewöhnlicher Geschwindigkeit zurücklegten. Grund dafür war nicht etwa, dass wir währenddessen die schöne Landschaft genossen, sondern vielmehr, dass wir uns so besser unterhalten konnten. Und ich stellte mehr als genug Fragen, um diese Strecke zweimal gehen zu können. Wie ein kleiner Junge staunte und diskutierte ich über die wohl schrecklichste Sache, die ich je kennengelernt hatte.

Das Vampirsein.

Sabine erklärte mir all die Dinge, die ich in den letzten einsamen Jahren Stück für Stück allein herausfinden musste noch einmal aus ihrer Sicht und Erfahrung. Sie sagte, dass wir deshalb nicht in bewohnte Häuser gehen konnten, weil die Menschen einen Ort haben mussten, in dem sie sicher waren.

»Ein Mensch ist zu schwach, zu langsam und in den allermeisten Fällen nicht mit dem nötigen Wissen ausgestattet, um sich gegen einen Vampirangriff verteidigen zu können«, erklärte mir die Frau mit den Sommersprossen und Kupferglanz in ihrem blonden Haar. »Wir hätten einfaches Spiel und das ist gegen die Natur.«

»Als ob irgendetwas an unserem Dasein natürlich wäre«, murmelte ich vor mich hin und trat einen Stein beiseite.

»Du musst das so sehen, Walther«, fuhr sie mit ihrer Erklärung fort. »Der Hase hat seine Schnelligkeit, der Hirsch sein Geweih und die Vögel ihre Flügel. Einige Tiere wehren ihre Angreifer ab, indem sie sich tarnen oder giftig sind. Und so haben auch unsere Beutetiere – die Menschen – Methoden und Wege, uns aufzuhalten. Ein weiteres Mittel ist das Sonnenlicht. Bei Tag, wenn die meisten Menschen draußen unterwegs sind, sind wir für sie nahezu ungefährlich.«

»Ich verstehe. Diese Kräuter gehören dann wohl auch dazu«, sagte ich und war überrascht, damit offensichtlich etwas Neues erzählt zu haben.

»Welche Kräuter?«, fragte Sabine und zog ihre Stirn kraus.

»Na, dieses Dings – ähm – Eisenkraut. Es brannte wie Hölle und ich konnte diesen Kerl nicht manipulieren, nachdem er es gegessen hatte«, erzählte ich ihr von dem Überfall in Walthers Hütte.

»Diese beiden Räuber, meinst du? Die haben ein Kraut gegessen und waren daraufhin widerstandsfähig gegenüber Bewusstseinskontrolle?« Sabine kratzte sich am Kinn und nickte stumm. »Uns sind einzelne Fälle bekannt, bei denen dies ebenfalls geschehen ist. Manche Blutsauger haben es erlebt, dass sie das Blut ihrer Opfer nicht trinken konnten, weil es ihnen die Speiseröhre verbrannt hätte. Eisenkraut sagtest du? Dieser Spur sollten wir nachgehen. Ich bin sicher, der Pater wird erfreut sein, dich kennenzulernen.«

»Wer ist dieser Pater, von dem du die ganze Zeit sprichst?«, fragte ich ein weiteres Mal.

»Du wirst ihn bald kennenlernen«, war Sabines unbefriedigende Antwort.

»Ich würde dennoch gerne zuvor wissen, mit wem ich es zu tun bekomme.«

»Es tut mir leid, aber niemand darf einem Fremden etwas über den Pater erzählen. Die Bruderschaft muss um jeden Preis geschützt werden. Sobald er dich als würdig erachtet, wird dir der Pater höchstselbst alles über sich anvertrauen, was du wissen darfst.«

»Und wie werde ich seiner würdig?«, stellte ich die nächste Frage und ahnte bereits, dass ich auch darauf eine schwammige Antwort erhalten würde.

»Finde es heraus!«

Sabine war schon eine besondere Person. Ich war froh, endlich jemanden kennengelernt zu haben, der wie ich ist und meine Probleme versteht. Dennoch irritierte mich ihre forsche und gleichzeitig unbeschwerte Art. Während ich jeden Tag aufs Neue gegen meine Begierden ankämpfte und mit meinem Schicksal haderte, schien sie mit dem Dasein als Vampir ihren Frieden gefunden zu haben. Ich hoffte, dass dieser Pater mir helfen konnte, dies ebenfalls zu schaffen.

Der Tag dämmerte bereits, als wir die Grenzen von Calw überquerten. Sabine führte mich außerhalb der Häuser an den westlichen Rand vorbei und steuerte eine Hügelformation an, auf deren Gipfel ich mehrere Burganlagen ausmachen konnte.

»Erzähl mir nicht, dass euer Pater in einer dieser Burgen haust«, scherzte ich und erwartete ein Lächeln zur Antwort.

Wieder sollte ich überrascht werden, als Sabine mich aufklärte.

»Nicht in der Burg, aber zumindest darunter«, sagte sie, als wäre es etwas, das ich hätte selbst erraten können. »Die Bruderschaft haust in einem Gewölbe unter der Burgengruppe Waldeck. Wehe dir, wenn du das jemandem verrätst, der nicht eindeutig zu ihnen gehört!« Sie packte mich am rechten Arm und blickte mir forsch in die Augen.

»Ich sage es keinem«, stotterte ich rasch. »Wem denn auch? Ich kenne außer dir niemanden in Calw.«

»Das ändert sich schneller, als du denkst, und sei dir gewiss, dass der Pater einem Verräter keine zweite Chance gibt.« Die letzten Worte sprach sie mit gedämpfter Stimme und ich hatte das Gefühl, dass ihre Hand leicht zitterte, bevor sie meinen Oberarm endlich losließ.

Ob ich mich zu diesem Zeitpunkt noch immer auf diesen Pater und seine Bruderschaft freute? Ich kann es heute kaum mehr mit Gewissheit sagen. Was hatte ich denn für eine Wahl, als Sabine dorthin zu folgen?

»Und noch was«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens zu mir. »Halte dich möglichst fern von dem Kloster. Und jetzt stell keine weiteren Fragen und beeil dich. Es wird bald hell.«

Calw gehörte seit dem Jahr 1500 zum Schwäbische Crayß, wie man damals sagte – im Schwäbischen Reichskreis. Die württembergischen Herzöge hatten hier ihre Sommerresidenz. Und ja! Ich war doch nicht so dumm gewesen, wie ich anfangs dachte. Denn es war kein Irrtum, dass ich auf der Suche nach Kalb war. Calw wurde zu dieser Zeit nämlich gemeinhin Kalp oder eben Kalb ausgesprochen.

Weshalb ich jedoch hier war, wusste ich noch immer nicht. Warum gab es in Calw eine Bruderschaft, die aus Blutsaugern bestand und was hatte es mit diesem Kloster auf sich? Wie konnte beide Orte so dicht nebeneinander existieren, wenn von einem davon offenbar eine Gefahr ausging? Hatte es etwas mit den Predigern zu tun, die Sabine ebenfalls erwähnt hatte?

Wieder einmal war mein Kopf voll von Fragen, doch endlich schienen die langersehnten Antworten greifbar zu sein.

Wir stiefelten den mehr als vierhundert Meter hohen Felssporn, der über dem Nagoldtal lag, herauf und waren froh, dass die Bäume uns den nötigen Schatten spendeten, denn die Sonne stieg unaufhörlich höher. Hinter den Wipfeln wuchsen bereits die Türme der Spornburg empor – unserem Ziel.

»Wir müssen vorsichtig sein«, flüsterte Sabine und duckte sich hinter dichten Sträuchern ab.

Ich erkannte jetzt, dass von den mehreren Burgen lediglich eine in gutem Zustand und bewohnt war. Einst müssen es mindestens vier oder fünf Burgen gewesen sein. Sabine zielte auf eine der Ruinen zu und ließ die gut erhaltene Burg Waldeck dabei nicht aus den Augen. Bislang waren keine Lichter in den kleinen Fenstern zu erkennen. Die Menschen darin schliefen noch. Dies konnte sich aber jeden Augenblick ändern. Es war Donnerstag, der 4. Juni 1598 und schon bald würde in Calw reges Treiben herrschen.

Sabine stoppte an einer schattigen Seite der verfallenen Burg und ging einen kleinen Abhang herunter, der sich dicht an der Fassade befand. Sie schob einige Eibenzweige beiseite und pfiff mir zu, wie einen Hund, der seiner Herrin folgen sollte. Als ich bei ihr stand, ließ sie die Eibe wieder los und deutete mit einer flüchtigen Kopfbewegung auf ein kaum erkennbares bronzenes Zeichen, welches in einen Mauerstein der Burg gelassen war.

»Wir sind da. Jetzt dreh dich um«, gab Sabine die nächste wirsche Anweisung und ich sollte mich schwer hüten, ihr zu widersprechen.

Ich wusste nicht wie, aber nach ein paar Augenblicken hörte ich ein Rumpeln und Schleifen und als ich mich wieder umdrehte, erblickte ich einen Spalt im Mauerwerk.

»Hereinspaziert, der Herr«, bot mit Sabine an, ihr in die scheinbar verlassene Burg zu folgen.

In dem Gebäude war es sehr dunkel. Selbst meine scharfen Vampiraugen hatten Mühe, den Weg zu erkennen, nachdem sich das versteckte Tor wieder geschlossen hatte. Erst nach einigen Metern bogen wir in einen durch Fackeln erhellten Gang ab. Anschließend folgte eine lange, enge und gewundene Treppe, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Diese führte uns schließlich zu einer weiteren Tür. Einer aus massivem Eichenholz und Stahlbeschlägen. Jedoch schien es hierfür keine geheime Öffnungsmethode zu geben. Es reichte offenbar ein Klopfzeichen.

Sabine klopfte zweimal kurz, zweimal lang und abschließend viermal kurz. Wenige Augenblicke später wurde sie von einer männlichen Stimme hereingebeten.

Versucht gar nicht erst, daraus einen Morsecode zu entschlüsseln. Dieses Alphabet gab es im 16. Jahrhundert noch nicht. Allerdings konnte ich es mir zu späterer Zeit nicht verkneifen, meine Witze aus den Buchstaben Ü und H zu machen. Aber diese würdet ihr jetzt noch nicht verstehen. Lasst mich zunächst erklären, was oder vielmehr wen ich in diesem Raum unterhalb der Burgruine vorgefunden habe.

Vampire!

Ungefähr acht bis zehn Blutsauger waren dort um einen Tisch versammelt und offenbar gerade beim Frühstück – was in ihrem Sinne wohl eher einem Abendbrot entsprach.

»Sabine, wolltest du uns nicht den Rücken kehren?«, sprach uns ein augenscheinlich junger Mann mit dunkelblonden Haaren an. »Warum störst du uns zu so später Stunde und wer ist das Würmchen, das du da im Schlepptau hast? Dein Snack zum Sonnenaufgang?«

»Halts Maul, Rüdiger«, fauchte Sabine ihn an, woraufhin der Fremde zu lächeln begann.

»Du hast es dir also noch einmal überlegt und kommst zu uns zurück? Der Pater wird sich darüber freuen. Ist das sein Beschwichtigungsgeschenk?« Er deutete auf mich und leckte sich die Eckzähne, welche in diesem Augenblick zu wachsen begannen.

»Er ist einer von uns. Ein Blutsauger ohne Perspektive und Freunde«, stellte Sabine mich vor, ohne mich selbst zu Wort kommen zu lassen. »Dafür kann er den Pater mit Sicherheit in größtes Verzücken versetzen, mit dem, was er weiß und was er kann.«

»Was er kann?«, mischte sich eine brünette Vampirin in die Unterhaltung ein. Sie hatte bis dahin an der kleinen Feuerstelle gehockt, um Hasenfleisch zu kochen. »Was soll dieser Schmächtling besonderes können? Der Pater hat doch bereits jemanden für geheime Stunden.«

Verhaltenes Gelächter erfüllte die stickige Luft in den dumpfen Gemäuern. Dieser Rüdiger fuchtelte daraufhin nervös mit der Hand in der Luft herum und gebot den anderen, zu schweigen.

»Seid ihr des Wahnsinns? Verkneift euch derlei Kommentare über den Pater. Wollt ihr, dass es uns ergeht wie Ulrich?«

»Krieg dich ein, Rüdiger«, mischte sich Sabine ein. »Horatio geht doch beim ersten Licht der Sonne ins Bett. Der hört nur noch sein eigenes Schnarchen.«

Erneut mussten die Vampire sich ein Lachen unterdrücken.

»Willst du dein Mitbringsel den ganzen Tag hierbehalten, bis der Pater aufgestanden ist?«, fragte ein blasser Kerl, der mir als Frater Gottfried vorgestellt wurde.

»Was dagegen? Ich sage euch, dem hier könnt ihr vertrauen. Ich zeige ihm, wo er den Tag über bleiben kann. Sobald Horatio nach Sonnenuntergang von der Jagd zurück ist, werde ich ihn ihm vorstellen.« Sabine packte mich erneut unsanft am Arm und platzierte mich vor sich hin, um mich den anderen zu präsentieren. »Los, stell dich vor«, fauchte sie mir ins Ohr.

»Ähm, guten Morgen«, sprach ich und bekam nur ein heiseres Krächzen hervor.

Dies sorgte erneut für Heiterkeit.

»Ich ... ich heiße Walther. Ich komme aus dem Norden des Reiches, aus einem kleinen Ort namens Soltzhusen. Jedenfalls war dies das letzte Zuhause, das ich hatte. Geboren wurde ich in –«

»Langweilig!«, unterbrach mich die Brünette und alle anderen begannen herzhaft zu gähnen.

»Uns ist egal, woher du kommst«, sprach mich Rüdiger an. »Uns ist nur wichtig, dass du dich an unsere Regeln hältst und unseren Pater nicht verärgert. Er ist unausstehlich, wenn er schlechte Laune hat.«

Ich nickte stumm, denn ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ohne Scham kann ich sagen, dass ich von dieser Gesellschaft sehr eingeschüchtert war. Nach all den einsamen Jahren fühlte es sich beängstigend an, in einem Raum mit so vielen Leuten zu sein.

»Walther also, ja?«, sprach Rüdiger weiter. »Mein Name ist Frater Rüdiger. Willkommen bei den Fratres Sanguinis – den Brüdern des Blutes.«

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