DAS SCHÖNSTE ABENDESSEN

ES WAR WIE ein düsteres Déjà-vu. Ich lag erneut am Boden und vor mir breitete sich ein blutiger See aus. Mein Nacken tat weh, aber der Schmerz ließ bereits nach. Viel schlimmer war die Qual, welche ich empfand, als Stück für Stück die Erinnerungen wiederkehrten. Erinnerungen an das, was ich am Morgen des vergangenen Tages gewesen bin, und das, was ich über Nacht wurde.

Ein Monster.

Denn das Blut um mich herum, die Toten und Zerstückelten – all das war ich.

Ich wurde gegen meinen Willen in ein Wesen verwandelt, von dem ich bislang, wenn überhaupt, nur in Schauermärchen gehört hatte.

Ein Vampir.

Es waren Klaus Mikaelson und seine verdorbenen Geschwister, die dies veranlasst hatten. Ich wusste nicht, ob es von Anfang an ihre Absicht gewesen ist oder ob ich ein zufälliges Opfer in ihrer kranken Welt war.

»Knut? Lise? Seid ihr noch da drin? Ist die Feier zu Ende? Habt ja ganz schön lange durchgehalten, was!«, hörte ich Friedhelm nach mir und unserer Magd rufen. Er hatte sich schlafen gelegt, bevor all dieses Unheil geschah, und wunderte sich vermutlich über die plötzliche Stille.

»Komm nicht rein!«, rief ich instinktiv, doch da öffnete sich bereits die Tür des Schuppens.

Ich wusste an diesem Tag nicht, wie ich das gemacht hatte, aber die Angst davor, dass Friedhelm mich inmitten all dieser Leichen sehen konnte, versetzte mir eine ungeahnte Kraft. Ich flitzte in einer schier unnatürlichen Geschwindigkeit hinter eine alte Kommode und versteckte mich.

Doch was hatte ich mir eigentlich erhofft? Dass er die Tür öffnet, den Kopf über die Schweinerei schüttelt, die hier verursacht wurde und wieder zurück ins Bett geht? Nein, das konnte ich nicht erwarten und so war es auch nicht.

Ich werde niemals diesen Schrei vergessen, den mein gütiger und stets lebensfroher Herr abgab. Er widerspiegelte all den Graus, den ich in blinder Besessenheit angerichtet hatte.

Friedhelm musste sich heftig übergeben und zitterte am ganzen Leib. Als er Lise unter all den zerstückelten Leichen erblickte, gab er einen atemlosen Laut von sich und umklammerte seine Brust an der Stelle, an der sein Herz saß. Er sank zu Boden und rang schwer nach Luft. Kalter Schweiß floss über sein bleiches Gesicht. Dann blickte er zur Kommode und sah mich.

»Knut? Was ist hier passiert?«, keuchte er mit schmerzverzerrter Miene.

»Es tut mir leid«, war das Einzige, was ich herausbringen konnte. Aber ich meinte es nicht so.

Mir war in diesem Moment, als wären alle Gefühle in mir genauso tot wie die Menschen, die vor mir lagen. Ich fühlte keine Reue mehr, keinen Schmerz, keine Scham, keine Trauer – in mir war einfach nichts mehr.

»Waren das unsere Gäste? Die ... diese Mikaelsons? Sag mir ni- nicht, dass, dass du das warst, Knu-«, seine Stimme brach unter seinen Schmerzen ab und er fiel zu Boden.

Da lag er dann, inmitten der Toten und das Blut tränkte sein weißes Leinenhemd und färbte es rot.

»Ich war es, Friedhelm«, antwortete ich kälter als Eis und härter als Stein.

Dann ging ich. Hinter mir hörte ich Friedhelms letzten schweren, von Angst und Schmerz erfüllten Atemzug.

Mein altes Leben bei ihm und seinem Hof war vorüber. Es würde für mich keine Rückkehr geben. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Die Mikaelsons waren längst über alle Berge und übernahmen für das, was sie mir und diesen Menschen angetan hatten, keine Verantwortung.

Doch ich schwor Rache.

Rache an allem, was sie taten, was sie dachten, und das Glück, was sie dabei empfanden. Ich hingegen war froh, nichts dergleichen zu fühlen. Ich war für diesen Augenblick wirklich frei. Vor allem frei vor mir selbst. Alles um mich herum war still, nur vereinzelt waren einige Vögel mit ihrem morgendlichen Gesang beschäftigt und der neue Tag schien bereits am Horizont aufzusteigen.

Was hatte Klaus gesagt? Sie Sonne kann mir Schaden zufügen? Ich wusste nicht, was damit gemeint war, außer, dass ihr grelles Licht meine seltsam empfindlichen Augen quälte.

In der Tat war es nicht angenehm, den Blick Richtung Osten zu wenden. Ich musste stark blinzeln, doch das war wahrhaft nicht das Einzige, was mich beunruhigte. Meine Haut begann mehr und mehr zu prickeln, je höher die Sonne stieg. Auf einmal verwandelte sich das Kribbeln in ein Brennen und ehe ich mich versah, hatte ich an allen unbedeckten Stellen meines Körpers Brandwunden, die ich mit nichts erklären konnte.

Erneut war ich zu einer verblüffenden Geschwindigkeit imstande und rannte in den Schatten eines dichten Ginsterbusches. Dort heilten all meine Brandwunden augenblicklich und auch der Schmerz ließ nach.

War es das, was Klaus meinte? Das Sonnenlicht konnte mich verbrennen? Ich erinnerte mich daran, dass es dämonische Wesen geben solle, die den Tag fürchteten und sich nur nachts herumtrieben, um Menschen zu quälen.

War ich eines dieser Monster geworden?

Die Bilder der blutigen Feier drangen in meinen Kopf zurück und lieferten die eindeutige Antwort.

Doch hatte ich wirklich keine Wahl? Musste ich den Weg der Bestie gehen, so wie ihn die Urvampire gingen? Oder konnte ich es lernen, nur so viel Blut zu trinken, wie ich zum Überleben benötigte und auf diese Weise die Menschen am Leben zu lassen? Ich hätte gern länger darüber nachgedacht, doch da war noch immer diese Gleichgültigkeit in mir, die jede Emotion im Keim erstickte.

Herausfinden konnte ich das wohl ohnehin erst bei Einbruch der Nacht. Ich entschied mich, den Tag in diesem Versteck zu verbringen und darauf zu warten, dass die Sonne wieder unterging.

Das tat sie nach einer gefühlt endlos langen Zeit, in der ich in dem Ginsterbusch hockte und zusah, wie sich Fuchs und Hase Guten Tag sagten, und das sollte das Spannendste bleiben, was ich erleben durfte. Zum Glück kam es mir so vor, dass auch mein Gefühl für Langeweile verloren gegangen war. So konnte ich lauern wie eine Schlange, auf was auch immer sich mir nach Sonnenuntergang bieten möge.

Als es endlich so weit wahr und ich mich wieder herauswagen konnte, ging ich wie ferngesteuert in Richtung der nächsten Siedlung.

Dorthin, wo es Blut gab.

Ich setzte mich in eine uneinsichtige Ecke hinter einem alten Eselstall und wartete bis die Lichter in den umliegenden Häusern erloschen. Dann hielt ich nach einem offenen Fenster Ausschau, durch welches ich klettern konnte.

Allerdings geschah etwas Sonderbares. Ich konnte das Haus nicht betreten. Das Fenster stand weit offen, da war keine Scheibe oder Ähnliches, die mir den Weg versperren konnte. Dennoch stieß ich bei jedem Versuch, ins Innere des Hauses zu gelangen, gegen eine unsichtbare Wand. Ich konnte keines der Wohnhäuser betreten, selbst die Stallungen nicht. Woran das lag, wusste ich nicht, doch der Zufall sollte mir günstig zuspielen und mich ahnen lassen, was der Grund für dieses Besuchsverbot war.

Am Rand der Siedlung stand ein verfallenes Haus, das zuletzt von einer alten Frau bewohnt wurde. Nach deren Tod nisteten sich dort immer wieder Landstreicher oder heimatlose Familien ein. Einen offiziellen Besitzer hatte es nicht mehr. Auch an diesem Abend brannte Licht in den leeren Stuben. Im oberen Stockwerk erkannte ich eine junge Frau, die das Fenster öffnete und dann ihre Kerze löschte. Auf diese eine Gelegenheit wollte ich es noch ankommen lassen und zu meiner potenziellen Beute heraufsteigen.

Als ich näher kam, musste ich jedoch feststellen, dass es wohl nicht so einfach werden würde mit dem Klettern. Die Fassade des Hauses war glatter, als es von Weitem den Anschein hatte und bot nicht viele Stellen, um sich daran festzuhalten. Einen geeigneten Absatz konnte ich dennoch ausmachen und versuchte mein Glück, ob ich diesen vielleicht mit einem kräftigen Satz erreichen könnte. Ich nahm also Schwung und setzte zum Sprung an und abermals geschah etwas Unerwartetes.

Ich landete nicht auf dem schmalen Absatz, sondern genau auf dem Fenstersims des viel höher gelegenen offenen Fensters. Offenbar hatte ich neben dieser unnatürlichen Geschwindigkeit auch ein sagenhaftes Sprungvermögen dazugewonnen. Ein Gefühl von Euphorie überkam mich. Ich konnte gar nicht erwarten, was ich noch für Fähigkeiten an mir entdecken würde. Doch für diesen Moment hatte ich ein anderes Ziel.

Vor mir erstreckte ein nahezu leerer Raum, in der ein junges Mädchen in einem Bett aus Stroh lag. Sie war ungefähr sechzehn Jahre alt. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig, ihr Busen bewegte sich dabei unter der dünnen Wolldecke auf und ab. Die von langen Wimpern umrahmten Augen waren geschlossen. Ich schlich langsam zu ihr hin und betrachtete sie eine Weile. Ihre dunklen Haare lagen in offenen Locken auf ihrem Federkissen und umrahmten ihre seidige blasse Haut. Sie sah nicht aus, wie ein Mädchen niederen Standes. Ich konnte ihre Adern durchschimmern sehen und hörte ihr Blut durch die Venen fließen. Sie war sehr schön, wie ich fand, dennoch ließ sie mich kalt. Alles, was mich an ihr interessierte, war ihr Blut. Ich sah in ihr keinen Menschen, sondern ein hübsch angerichtetes Abendessen.

Noch ehe ich etwas tat, erwachte sie.

»Wer sind Sie? Ist etwas passiert?«, fragte sie mich und schaute mich mit großen braunen Augen erschrocken an. »Wir sind nur auf der Durchreise und möchten keinen Ärger machen. Morgen sind wir wieder weg, wir –«

»Psst!«, ermahnte ich sie zur Ruhe und legte meine Hand auf ihre rosafarbenen geschwungenen Lippen. Sie begann zu zittern und versuchte, mich von sich wegzustoßen, aber ich war stärker – viel stärker.

Ich dachte daran, was Rebekah mit mir getan hatte, um mich zu manipulieren. Tief in die Augen blicken und irgendeinen Befehl geben? So schwer konnte das doch nicht sein! Ich probierte es und es schlug fehl. Gerade wollte sie anfangen zu schreien, als ich ihren kleinen Kopf zwischen meine Hände nahm und ihn in einer ruckartigen Bewegung verdrehte und sie daraufhin leblos zusammensackte.

Ihr Genick war gebrochen.

Ich hatte sie getötet, ehe ich überhaupt in der Nähe ihres Halses war. Letzteres holte ich nach und schlug meine Zähne in ihren leblosen Körper. Ich trank ihr noch warmes Blut, bis kein Tropfen mehr übrig war. Ihre schöne aber für mich wertlose Hülle warf ich zurück aufs Bett und ging, ohne mich ein noch einmal umzudrehen.

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