DAS SCHÖNE FRÄULEIN
ICH BIN DEN ganzen Nachmittag von einem Haus zum anderen gerannt, um die Nachricht zu verkünden, dass unsere edlen Gäste, die Familie Mikaelson, beabsichtigen, eine Feier in unserem Gutshof auszurichten. Irgendwann begegneten mir sogar Leute, die mir genau das erzählten, was ich ihnen gerade mitteilen wollte. Die Nachricht hatte sich also in Windeseile verbreitet. Einem heiteren Stelldichein stand somit nichts mehr im Wege. Oder doch? Was war eigentlich mit Speis und Trank?
Mich überkam der furchtbare Gedanke, dass wir nachher mit leeren Händen vor all diesen Menschen stehen würden. Für ein derart großes Aufgebot war unser Hof nicht gerüstet. Selbst wenn diese Mikaelsons alles finanzieren würden, nützte das herzlich wenig, wenn es nichts gab, was sie hätten bezahlen könnten.
In diesem Augenblick überkam mich Panik. Ich war es schließlich, der die frohe Botschaft einer bevorstehenden Feier verkündete. Ich war es, der die Menschen zu unserem Gasthof einlud und ich befürchtete, dass ihr Zorn mich treffen würde, wenn sie bemerkten, dass sie zwar feiern konnten, doch ihnen keine angemessene Verköstigung bereitstand.
Was sollte ich also tun? Noch einmal eine Runde durchs Dorf drehen und jedem Bauern Bescheid geben, dass er seine eigene Verpflegung mitzubringen hatte? Wie peinlich wäre das? Mit Sicherheit würde daraufhin niemand an diesem Abend bei uns auftauchen und das wäre mehr als verständlich.
Bleich wie eine gekalkte Wand rannte ich zu meinem Herrn. Dieser war gerade dabei, zusammen mit dem dunkelhaarigen Mikaelson, dessen Name mir in diesem Moment nicht mehr einfiel, die Tische und Bänke aus dem Schuppen auf den Hof vor dem Gasthof zu stellen.
»Es ist so ein schöner Nachmittag, nicht wahr?«, rief er mir zu und strahlte über sein ganzes rundes Gesicht. »Elijah Mikaelson hilft mir bei der Einrichtung und sein Bruder Niklaus verhandelt mit dem Lieferanten. Solch großzügige Gäste, die selbst mit anpacken, hatten wir ja noch nie!«
Friedhelm rieb sich glücklich die Hände und betrachtete den Hof, der längst vorbereitet war, für eine Vielzahl an Gästen. Dann sah ich, dass auch unsere Magd Lise, die aus der Stadt zurück oder nie dort angekommen war, bereits alle Hände voll zu tun hatte. Sie schleppte einen riesigen Korb vor sich her. Ich konnte nicht erkennen, was sich darin befand.
»Herr, entschuldigen Sie, bitte«, flüsterte ich meinem Vorgesetzten ins Ohr, als sich Herr Mikaelson ein Stück entfernt hatte. »Ich habe das ganze Dorf eingeladen und darüber hinaus werden weitere Gäste kommen.«
»Wunderbar! Herrlich! Das wird uns eine Menge wohlwollende Kritik bringen. Unser Hof wird sich bald vor Gästen nicht mehr retten können, mein Junge!«
Friedhelm kniff mir breit grinsend in die Ohrläppchen und klopfte mir dreimal auf die Schultern. Das tat er immer, wenn er besonders zufrieden mit mir, sich selbst oder seinem ganzen Leben war. Ich konnte das allerdings noch nicht von mir behaupten.
»Aber Herr«, fuhr ich fort und sprach nach wie vor sehr leise, um kein Aufsehen zu erregen. »Wir haben gar nicht so viele Speisen in unseren Kammern. Wie sollen wir all diese Gäste verköstigen, die da kommen werden?«
In diesem Augenblick kamen weitere Leute mit großen Körben, Kesseln, Töpfen und Krügen um die Ecke gebogen. Ich war mir nicht sicher, aber es hatte den Anschein, dass sie Essen und Trinken heranschaffen würden.
»Knut, alles gut!«, lachte Friedhelm und hielt sich den runden Bauch. »Die Mikaelsons haben vorgesorgt. Sie haben alles, was für ihre Feier benötigt wird, selbst mitgebracht. Schau, da kommen weitere Ladungen! Unsere alte Lise musste gar nicht bis nach Lüneburg laufen diese Woche. Wir haben jetzt mehr als genug, Knut!«
Mein Herr zeigte auf den Weg, der zu unserem Gasthof führte. Tatsächlich kam ein Eselskarren über die steinige Erde gepoltert und hielt direkt vor uns an.
»Ein halber Zentner Brot, der Herr. Wo darf's hin?«, sagte der ältere Mann auf dem Karren.
Und er hatte recht! So viel Brot auf einmal hatte ich nie zuvor gesehen. Wie hatten es diese Mikaelsons es nur geschafft, all diese Nahrung zu beschaffen? Ich war mir sicher, dass sie niemals würden Hunger leiden müssen, wenn ihnen dies derart leicht fiel und offenbar so wenig Unkosten verursachte, dass sie sogar ein ganzes Dorf mir nichts dir nichts, mitverköstigen konnten. Wie konnten sie nur so reich sein und dennoch so spendabel? Das war sehr befremdend.
Ich wusste nicht warum, aber ich bekam ein seltsames Gefühl, je länger ich darüber nachdachte. Für gewöhnlich blieben reiche Menschen unter sich und würden nicht im Traum daran denken, ihr Vermögen mit dem Pöbel zu teilen. Ich erkannte nichts dergleichen, aber ich konnte mir vorstellen, dass an dieser Sache irgendetwas faul war.
Friedhelm schöpfte keinen Verdacht, dass diese unbekannten Menschen, von denen wir bisher nichts wussten, außer ihre Namen, mit uns ein böses Spiel spielen könnten. Mit offenen Armen ging er auf diesen Niklaus zu, dem Jüngeren der beiden Brüder und bedankte sich für die Großzügigkeit seiner Familie. Aber wo war eigentlich deren Schwester? Ich hatte sie den ganzen Nachmittag nicht mehr hier draußen gesehen.
»Knut? Hilf mir mal mit dem Geschirr!«, rief mich Lise herbei und ich wurde zeitweise in meinen Gedanken unterbrochen.
Ich eilte zu ihr in die Küche und half dem alten Weib, Teller und Besteck zusammenzusuchen und aufzupolieren. Das Ambiente sollte schließlich mit den edlen Speisen harmonieren und unserem Gutshof den besten Ruf in der Gegend bescheren, so, wie es sich Friedhelm vorstellte.
»Bursche? Ich könnte etwas Hilfe bei meiner Truhe gebrauchen«, erklang auf einmal eine liebliche Stimme oberhalb der Treppe. »Ich fürchte, da ist etwas eingeklemmt.«
Die junge blonde Frau stand am Geländer und lächelte mir freundlich zu.
»Geh nur, Knut. Den Rest schaffe ich auch allein«, befreite mich Lise von der Arbeit als Tellerwäscher und schüchtern folgte ich Fräulein Mikaelson nach oben.
Sie stolzierte vor mir her, hielt ihren langen Rock ein wenig hoch und wippte mit den schlanken Hüften kokett hin und her. Ich muss gestehen, dass mich ihre weibliche Ausstrahlung sehr anzog. Nie zuvor hatte ich zu dieser Zeit eine Frau wie sie gesehen. Sie hatte makellose blasse Haut und gepflegte Hände. Ganz anders als die hart arbeitenden Frauen und Männer, die ich hier jeden Tag zu Gesicht bekam. Wobei ich ebenfalls gestehen musste, dass irgendetwas an ihr mich auch sehr einschüchterte, und zwar nichts, dass ich mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit hätte beschreiben können.
»Die Truhe steht dort in der Ecke – wie war doch gleich Ihr Name?«, fragte sie und schaute mich erwartungsvoll an.
»Knut, mein Fräulein. Mein Name ist Knut«, sagte ich und schaute verschämt zu Boden. »Ich weiß, ein sehr einfältiger und geläufiger Name.«
Ich wusste nicht warum, aber ich hatte immer schon das Bedürfnis, mich für meinen Rufnamen zu rechtfertigen. Ich selbst empfand ihn immer etwas lächerlich im Klang.
»Ganz und gar nicht!«, rief jedoch das junge Fräulein und sah mich mit weit geöffneten blauen Augen an. »Knut ist ein nordischer Name. Meine Familie stammt ursprünglich aus Norwegen. Wir waren sehr lange nicht dort und es tut gut, einen Wikinger-Namen zu hören.«
»Verzeihen Sie – Wikinger? Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
Ich schämte mich, dass ich nie zuvor über die Bedeutung meines Namens nachgedacht hatte. Fräulein Mikaelson lächelte mir weiterhin zu, kam ein paar Schritte auf mich zu und streckte ihre zarte Hand nach mir aus.
»Rebekah Mikaelson. Tochter von Mikael, einem Wikinger. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Knut, der Waghalsige«, sagte sie und deutete vor mir eine Art Hofknicks an.
Ich war völlig verwirrt von ihren Gesten und nahm zurückhaltend ihre Hand in die meine und deutete einen Handkuss an.
»Wikinger, die großen Seeräuber des Nordens. Eroberer Europas und der Neuen Welt. Sie haben sicher von ihnen gehört«, sagte Rebekah und tänzelte an mir vorbei zu der klobigen Holzkiste in ihrem Zimmer, die ich reparieren sollte.
»Ich ... Sie müssen mich nicht siezen, Fräulein. Ich bin nur ein Bursche«, entgegnete ich ihr verlegen und spürte, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten.
»Das weiß ich und ich schätze auch die Arbeiten der kleinen Leute, wie es immer heißt. Habt nicht auch ihr Knechte und Mägde ein wenig Respekt verdient?«
Ich wusste einfach nicht, wie ich die Situation einschätzen sollte. Wollte sie mich zu irgendetwas hinreißen oder mich prüfen? Mich am Ende nur zum Narren halten? Ich stand noch immer an der Stelle, an die ich mich nach Betreten ihres Zimmers platziert hatte, und wagte nicht, mich zu rühren. Doch sie winkte mich zu der Kiste herüber, vor der sie hockte.
»Ich bekomme das Schloss nicht auf und all meine guten Kleider sind darin«, sagte sie und deutete auf den eisernen Verschluss der Truhe.
»I-ich werde sehen, was ich da ma-machen kann«, stotterte ich und kam nervös auf sie zu. Sie schien dies zu bemerken, was sie sichtlich amüsierte.
Rebekah rückte fast unmerklich immer weiter an mich heran und begann mit ihren Fingern an meinem Arm heraufzuwandern. Ich begann zu zittern, woraufhin sie kicherte wie ein junges Mädchen. Vor lauter Anspannung verletzte ich mich an dem plötzlich aufspringenden Schloss ihrer Truhe und zog mir eine blutende Schramme an der rechten Hand zu.
»Die Truhe ist offen, Fräulein Rebekah. Aber mein Herr wird nicht erfreut über diese Wunde sein«, sagte ich und betrachtete ängstlich das an meinem Arm herunterlaufende Blut.
Doch ich war nicht der Einzige, der sich an diesem Anblick ergötzte. Rebekah Mikaelson betrachtete den roten Lebenssaft noch sehr viel intensiver als ich und für einen Moment war es mir so, als würde sich ihr Gesicht seltsam verändern. Doch das bildete ich mir nur ein, war ich mir damals sicher. Dann jedoch geschah etwas sehr Sonderbares:
»Zeigen Sie mal her«, sagte Rebekah und nahm behutsam meine verletzte Hand zu sich und begann das herunterlaufende Blut mit der Zunge aufzunehmen. Ich erschauderte und bekam eine unangenehme Gänsehaut. »Das ist kein tiefer Schnitt. Es wird schnell verheilen und Sie werden Ihrem Herrn weiterhin zu Diensten sein können. Oder wollen sie das nicht mehr und lieber mit mir und meinen Brüdern fortziehen oder ein ganz neues Leben anfangen?«
Mein Herz raste ohne Rast und Ziel. Die junge Frau, die ich bis eben trotz ihrer atemberaubenden Schönheit für ganz normal gehalten hatte, schien sich tatsächlich zu verändern, während sie das Seltsamste tat, was ich je einen Menschen habe tun sehen. Sie saugte sich förmlich an meiner Wunde fest wie ein Egel und trank das ausströmende Blut. Es war ein zugleich beängstigendes als auch berauschendes Gefühl.
Als sie fertig zu sein schien, beugte sie sich zu mir vor und drückte ihre weichen, jedoch blutgetränkten Lippen auf meine. Ich fühlte mich wie in einem sündigen Traum versetzt. Ich wusste, dass ich es abbrechen sollte, aber ich war machtlos und erwiderte zögerlich ihre Küsse. Auch das war neu für mich. Bislang hatte ich nicht ans Heiraten gedacht und, um ehrlich zu sein, auch noch keine geeignete Maid gefunden. Doch sollte diese holde Schönheit, die hier gerade mein Blut getrunken hatte, wie eine Bestie aus einer Schreckensgeschichte, in jene Rolle passen?
Nachdem sie unseren Kuss beendet hatte, blickte mir Rebekah tief in die Augen und ich schien keine Möglichkeit zu haben, dem zu widerstehen: »Du vergisst, was gerade passiert ist. Du hast lediglich meine Truhe geöffnet und dich am Schloss verletzt. Lass deine Wunde von eurer Magd versorgen und dann komm heute Abend auf unser Fest.«
Ich nickte und verließ stumm, wie in einem Dämmerzustand, das Zimmer des reichen und mysteriösen Fräuleins.
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