DAS NEUE LEBEN

Montag, 14. Februar 1547 – Bredenfelde

ES WAR FRÜHER Abend als ich aus dem Wald zurückkehrte, indem ich mich am Blute einer jungen Bache gelabt hatte. Ich sah, wie der alte Walther gerade dabei war, neues Holz für unser Feuer zu sammeln. Es herrschte nach wie vor tiefster Winter und dieser meinte es nicht gut mit uns in diesem Jahr. Die Erde war hart vom Frost und die Tiere des Waldes mager. Aber ich war froh, dass ich dem Alten auch an diesem Tag ein Kaninchen mitbringen konnte. Lieber hätte ich ihm die Wildsau dargeboten, doch er hätte sich nur gewundert, wie ich ein so großes und kräftiges Tier habe erlegen können, ganz ohne Waffen oder Ähnliches. Er stellte auch so schon zu viele Fragen.

Wir hatten unser Versteck in der Nähe von Kenz kurz nach unserem Kennenlernen verlassen und sind weiter nach Süden gezogen. Wir waren ein paar Wochen unterwegs gewesen und der Herbst ging langsam in den Winter über. Ich hatte Sorge, dass Walther, der mein erster und einziger Freund seit langer Zeit war, es nicht schaffen würde. Darum sprang ich eines Tages über meinen Schatten und wendete heimlich meine Fähigkeiten als Vampir an, um Beute für uns zu erlegen. Ich erzählte ihm, dass es das Glück eines Anfängers gewesen sei und später dann, dass Übung eben einen Meister mache. Er schaute mich viele Male nachdenklich an, nickte schließlich stumm und beließ es bei meiner Version der Wahrheit.

In dieser Zeit hatte ich mich vermehrt um mein äußeres Erscheinungsbild gekümmert und sah wieder wie ein redlicher Mann aus. Nichts war mehr übrig vom Zottelhaar und Rauschebart. Der wilde Mann ist mit mir aus Kenz verschwunden. Ich befürchtete jedoch, dass die Legende über ihn seine Anwesenheit überdauern würde.

Allerdings wurde mir dadurch bewusst, dass ich in all den Jahren keinen Tag gealtert bin. Ich sah genauso jung aus, wie an jenem Tage, als ich die Menschen in Soltzhusen zur Feier unserer noblen Gäste eingeladen habe. Der letzte Tag meines früheren Lebens.

Jetzt lebte ich ein anderes Leben – mein drittes Leben, möchte ich meinen. Die Einsamkeit und Abgeschiedenheit waren dank Walther vorbei und mit meiner neugewonnenen Menschentauglichkeit traute ich mich endlich wieder in Städte und Dörfer. Die dunkle Jahreszeit kam mir dabei ganz recht. So musste ich nicht fürchten, von der Sonne verbrannt zu werden. Auch Walther, dem ich erzählt hatte, ich hätte von Geburt an eine sehr lichtempfindliche Haut und würde aus diesem Grund im Schatten leben, musste ich nicht mehr so oft anlügen. Ich wusste nicht, ob er mir Glauben schenkte, aber mir reichte, dass er keine weiteren Fragen stellte.

Fragen jedoch stellte gegenwärtig ich, und zwar an die Menschen in den Städten. Ich übte mich regelmäßig in der Bewusstseinskontrolle, so wie sie Rebekah Mikaelson einst bei mir angewandt hatte. Ich bewies meine Fähigkeiten zunächst bei ungefährlichen Leuten, wie alten Krämerinnen und Kindern und brachte sie zum Beispiel dazu, auf einem Bein zu stehen und von zehn rückwärts zu zählen. Das funktionierte eines schönen Tages ohne große Anstrengung und ich war meinem Ziel wieder ein ganzes Stück näher gekommen, ein einfacheres Leben zu führen.

Ich ging eines Morgens in einen kleinen Hofladen und manipulierte den dort angestellten Knecht, mir ein paar seiner besten Würste zu geben – und er tat, wie ich ihm befahl. Von da an war es nur noch die Kür, zusätzlich Brote und ein wenig Bier zu besorgen. Walther erzählte ich, als ich am Abend zu ihm zurückkehrte, dass ich den Menschen in der Stadt meine Dienste angeboten hätte und zum Dank hätten sie mir etwas zu Essen gegeben. Auch diese Notlüge schien mir der Alte nicht ohne Misstrauen abzukaufen.

»Erneut ein junges Kaninchen, was?«, sagte Walther, als ich ihm die heutige Beute mitbrachte. »Wie schaffst du das nur immer wieder?«

»Alles eine Frage der Übung, der Konzentration und des leisen Anschleichens. Kein Hexenwerk«, sagte ich möglichst beiläufig und hoffte, dass Walther nicht weiter nachhaken würde. Doch ich hatte an diesem Tag etwas zu nachlässig gehandelt.

»Hast du das Kaninchen mit dem Mund gefangen, wie ein Wolf?«, fragte Walther und kam ein paar Schritte auf mich zu.

»Was meinst du? Ich habe es wie immer in eine Falle gelockt und es mit den Händen gepackt«, erklärte ich und stellte die Jagd gestikulierend nach.

»Und woher kommt all das Blut, das du im Gesicht hast?«

Unwillkürlich griff ich mich an den Mund und spürte, dass das angetrocknete Blut der Wildsau noch daran klebte. Ich hatte das Kaninchen bemerkt, gleich, nachdem ich mit Trinken fertig gewesen bin, und hatte darüber hinaus vergessen, mir das Gesicht zu säubern. Welche Ausrede konnte ich meinem Freund jetzt auftischen, damit er nicht noch argwöhnischer wurde?

»Lass gut sein, Knut, mein Junge. Ich weiß, dass du deine Geheimnisse hast«, sagte Walther schließlich, nahm das tote Kaninchen und kehrte in das Häuschen zurück, welches ich ebenfalls mit unlauteren Mitteln für uns erworben hatte. »Wir alle tragen diese Säcke mit uns herum, die uns selbst schon schwer genug belasten, als dass wir unsere Mitmenschen damit beladen würden. Bewahre deine Heimlichkeiten für dich, so wie ich meine behalte.«

Es stimmte. Auch ich kannte noch immer nicht die ganze Geschichte, die den alten Mann dazu brachte, einsam und abgeschieden von jeder Zivilisation leben zu müssen. Er sagte immer, dass er einst einen schweren Fehler gemacht habe, für den es keine Entschuldigung und keine Gnade gebe. Seine Krankheiten seien, seiner Meinung nach, die ersten Strafen Gottes und weitere würden folgen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was dieser gütige Kerl Furchtbares angestellt haben könnte. Aber ich war mir bewusst, dass er auch mir im Leben nicht zutrauen würde, was ich in jener Nacht in Friedhelms Scheune angerichtet hatte.

Ich folgte meinem Freund ins Haus. Dort hatte er bereits versucht, ein Feuer anzuzünden. Das feuchte und vom Frost beschädigte Holz war schwer entflammbar und es dauerte ewig, bis es trocken genug war, um als Brennholz verwendet zu werden. Das Kaninchen lag auf dem kleinen und wackligen Tisch und wartete darauf, gehäutet und ausgenommen zu werden. Der Vollmond schien darauf und tauchte alles in ein mystisches Licht. Ich mochte den Mond. Seine Strahlen richteten keinen Schaden bei mir an und es gab mir Zuversicht.

Aber ich hätte wissen müssen, dass mein Schicksal keine Zuversicht duldete. Walther hatte gerade eine brauchbare Flamme an der Herdstelle zustande gebracht, da klopfte jemand unwirsch an der Tür.

»Wer mag das sein, zu so später Stunde?«, fragte Walther und blickte vom Feuer auf.

»Und wer weiß davon, dass dieses Haus wieder bewohnt wird, nachdem der Vorbesitzer gestorben ist?«, ergänzte ich meine Bedenken.

Ihr müsst wissen, dass der eigentliche Besitzer dieses Hauses – welches wunderbar abgeschieden ein paar Meilen von der nächsten Siedlung entfernt lag – nicht einfach so von der Welt geschieden war. Ich hatte ihn manipuliert, in den Wald zu gehen und nichts zu essen oder zu trinken und jeglichen Kontakt zu anderen Menschen zu meiden. Ich hätte ihn freilich aussaugen können, doch ich hielt an meinem Ziel fest, kein Menschenleben mehr aktiv zu gefährden oder gar zu zerstören. Natürlich war auch diese Handlung alles andere als nett, aber ich konnte riechen, dass dieser Mann an einer Krankheit litt, die ihm früher oder später das Leben nehmen würde – vor allem in diesem harten Winter. Es mag nach einer Aussage klingen, jedoch beruhigte dieses Wissen mein Ethos.

Eines Tages bekamen wir mit, wie drei Holzfäller den verhungerten Leichnam des Mannes gefunden haben. Offenkundig hatte er keine Angehörigen, denn sein Körper wurde anonym hinter der nahe gelegenen Ortschaft Bredenfelde bestattet. Walther kam mir sogar zuvor, als er an meiner statt vorschlug, eine Weile in dem Haus zu wohnen, in welches der offenbar verwirrte Mann zu Lebzeiten nicht mehr zurückgefunden hatte. So kam es, dass wir wieder ein Dach über den Kopf hatten. Eines, das weniger sporadisch eingerichtet war, als die alte Waldhütte bei Kenz.

An diesem Tag jedoch schien sich noch jemand für diese vier Wände zu interessieren und ich hatte das Gefühl, dass er nicht gekommen war, um friedlich mit uns Kaninchen-Eintopf zu essen.

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