DAS ENDE DER KINDHEIT
HALLO, MEIN NAME ist Knut, Sohn des Flößers. Jedenfalls war das früher der Fall. Heutzutage bin ich unter einem anderen Namen bekannt, den ich mir selbst gegeben habe. Es ist nicht so, dass ich dadurch gefährlicher oder, nun ja, ernsthafter klingen wollte, vielmehr habe ich mir diesen Namen zu Ehren einer wichtigen Person in meinem untoten Leben gegeben. Ja, richtig gelesen – untot. Ich bin ein Vampir und der ein oder andere von euch kennt mich vielleicht bereits oder hat zumindest von mir gehört.
Was ich mit der Ewigkeit anfangen möchte, die mir gegeben wurde, die ich mir aber mitnichten jemals gewünscht hätte, möchtet ihr wissen? Vor allen Dingen will ich Rache an den Mikaelsons, der Urvampir-Familie, verüben. Blutige Rache. Warum ich diese Ausgeburten der Hölle so sehr verachte? Weil sie nichts anderes verdient haben!
Ich selbst mag viele furchtbare Dinge getan haben, aber ich war nicht immer der Schurke, der ich jetzt bin. Selbst nach meiner Verwandlung nicht. Das könnt ihr nicht glauben?
Dieser unschuldige junge Mann von 21 Jahren, der unter seinem Geburtsnamen Knut ein einfaches und hartes, aber dennoch glückliches und vor allem normales Leben geführt hatte – das war ich.
Doch Knut, oder vielmehr, was von ihm übrig war, existiert schon lange nicht mehr. Was mit ihm passiert ist? Ich werde es euch erzählen. Aber seid gewarnt: Es wird keine schöne Geschichte und vielleicht könnt ihr mich und meine Absichten am Ende sogar ein wenig verstehen.
02. April 1531 –
Ein Dorf in Norddeutschland
»Karl!«, rief mein Vater eines Morgens zu meinem jüngeren Bruder und klang nicht danach, als würde er in guter Gemütsverfassung sein. »Karl, hol etwas Brot aus der Kammer und Käse.«
»Aber Vater, es ist kein Brot mehr da. Das letzte Stück haben wir gestern gegessen«, piepste der Sechsjährige und fürchtete die Reaktion unseres strengen Vaters.
»Was soll das heißen, kein Brot mehr?« Wie erwartet, färbte sich das sonnengegerbte Gesicht von Konrad, dem Flößer puterrot. »Dann soll Mathilda losgehen und neues Brot holen. Aber weniger, als beim letzten Mal«, befahl der Alte unserer einzigen Schwester und kramte ein paar Schilling aus seinem verschlissenen Lederbeutel hervor, den er unter einer Schüssel auf dem kleinen Regal versteckt hielt.
Auch wenn Vater gern so tat – die Ärmsten unter den Armen waren wir nicht. Doch hatte er für seine eigenen Kinder meist nur das übrig, was er für sie als ausreichend erachtete. Seine Geschäfte als Floßbauer liefen mal mehr, mal weniger gut, je nach Jahreszeit. Dennoch mussten wir zumindest nicht um unser tägliches Brot betteln. Wobei es sehr viel mehr als das selten gab, wie ich zugeben muss.
Mehr noch als die karge Kost machte uns Kindern Vaters unstetes Gemüt zu schaffen. Meist ließ er es an unserer Mutter, Mechthild aus, die sich als Weberin den ein oder anderen Schilling dazuverdiente. Doch nachdem sie seit dem letzten Winter zunehmend mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, mussten wir Kinder als Sündenböcke für alles hinhalten, was dem alten Herrn an Läusen über die Leber lief.
Neuerdings machte er dabei auch vor unserer Schwester Mathilda nicht halt, die eigentlich immer sein geliebtes Nesthäkchen war. Ich hatte einmal ein Gespräch mitbekommen, in dem Vater sie dem Sohn eines wohlhabenderen Mannes versprach, den ich nicht kannte. Sobald sie alt genug wäre, würde er Mathilda zu ihm schicken. Ich hoffte sehr, dass dieser Tag noch fern sein möge.
An diesem Tag, von dem ich hier berichte, sollte das Mädchen zunächst einmal Brot kaufen. Auch das hatte früher immer die Mutter getan. Nun sah er seine Tochter in der Pflicht, im Haushalt zu helfen und die, wie er es nannte, Weiberaufgaben zu erledigen.
»Warum soll ich weniger Brot holen?«, fragte Mathilda und schaute ihren Vater mit großen rehbraunen Kulleraugen an. »Es hat beim letzten Mal gerade so für uns alle gereicht.«
»Ab morgen sind wir einer weniger«, antwortete der alte Konrad und warf mir, seinem zu diesem Zeitpunkt ältesten Sohn einen verächtlichen Blick zu.
Ich war der Drittgeborene. Vor mir schenkte der liebe Gott meinen Eltern Kurt und zwei Jahre später Kai. Wiederum nach zwei Jahren erblickte ich, Knut das Licht der Welt, gefolgt von Mathilda, Karl und Kilian. Bis vor ein paar Jahren lebte auch noch unser Großvater, Korbinian bei uns im Haus. Nach seinem Tod ging es stetig abwärts mit dem Familienidyll.
Doch schauen wir noch ein paar weitere Jahre zurück ...
Februar 1527
Denn nach dem Tod unseres Großvaters merkte unser Vater schnell, dass es durchaus Vorteile hatte, weniger Mäuler stopfen zu müssen. Also musste kurz nach seinem 13. Geburtstag unser ältester Bruder Kurt dran glauben:
»Kurt, mein Junge«, begann der Vater eines schönen Abends ernsten Tones mit ihm zu sprechen. »Du bist jetzt alt genug, um zu arbeiten und dich selbst darum zu kümmern, was zwischen Kiemen zu bekommen«, sagte er und verzog dabei keine Miene.
»Du kannst den Jungen nicht einfach vor die Tür setzen. Konrad, bitte. Nicht mein Kind!«, flehte die Mutter, doch der Vater blieb standhaft.
»Er ist kein Kind mehr. Er steht im besten Alter und Saft, um sich da draußen beweisen zu können. Wir haben ihn lange genug durchgefüttert. Wir haben weitere Kinder, die noch im Wachstum stehen und nicht genug Geld, um sie alle bis an ihr Lebensende zu verköstigen.«
»Ich könnte noch mehr Stoffe weben und andernorts verkaufen. Wir werden einen Weg finden, mehr Geld zu verdienen. Bald ist Frühling, dann bekommst du neue Aufträge, Kurt hilft dir bestimmt wieder beim Bauen und –«
»Schluss!«, unterbrach der Vater unsere Mutter, die ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. Vater hasste diese Art, Schwäche zu zeigen und er wurde nur noch wütender. »Hör auf zu flennen, Weib! Ich habe gesagt, dass der Junge geht, also geht er auch. Ende der Diskussion.«
»Schon gut, Vater«, sprach Kurt, dem jede Farbe aus dem Gesicht entschwunden war. »Du hast recht. Ich bin groß und kräftig. Ich werde mir irgendwo Arbeit suchen und mein eigenes Geld verdienen. Ihr braucht alles für meine Geschwister. Sollen sie es auch haben.«
Schon damals, mit zarten acht Jahren empfand ich es mehr als lachhaft, zu denken, dass wir Kinder mehr zu essen bekämen, wenn Kurt das Haus verlassen hatte.
Ich behielt recht. Kurt war mittlerweile seit einem halben Jahr fort. Wir hatten bislang keine Nachricht von ihm erhalten, was unserer Mutter sehr zusetzte. Wir verbliebenen fünf Kinder mussten nach wie vor jeden Bissen erkämpfen, den unser Vater übrig lies. Er selbst wurde mit den Jahren immer rundlicher. Bald würde er nicht mehr auf seinen Lieblingsstuhl passen, den unser Großvater einst mit Schnitzereien verziert hatte.
Januar 1529
Keine zwei Jahre später, Kai wurde gerade 13 Jahre alt, rief der Vater auch seinen Zweitgeborenen zu sich. Kai wusste freilich, was auf ihn zukam. Die Mutter hatte ihn schon Wochen vorher auf diesen Moment vorbereitet und ihm Hinweise gegeben, welcher Handwerker in der Gegend zur Zeit einen Gesellen suchte. Sie wollte nicht erneut riskieren, dass einer ihrer Söhne planlos in die Welt hinaus ging. Entsprechend weniger dramatisch verlief der Abschied.
Von diesem Tag an waren wir Kinder nur noch vier. Ich stand kurz vor meinem elften Geburtstag, Mathilda war gerade neun geworden, Karl wurde in dem Jahr sieben und Kilian fünf Jahre alt. Wir hatten noch zwei schöne Jahre miteinander und da ich wusste, dass es auch mich ereilen würde, nachdem ich 13 Jahre alt wurde, genoss ich jeden Augenblick meiner dahinschwindenden Kindheit. Auch, wenn unser Vater es mir alles andere als einfach machte. Ich war fortan der Älteste und keiner meiner großen Brüder konnte sich mehr schützend vor mich stellen.
April 1531
Am 02. April 1531 war es dann soweit. Der Vater rief mich zu sich. Vor einer Woche hatte ich Geburtstag und war nun, mit meinen 13 Jahren, nach Meinung des Vaters alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Ich verabschiedete mich von meinen Brüdern, von meiner Mutter, aber ganz besonders herzlich von meiner kleinen Schwester Mathilda, die ich von allen am liebsten hatte. Meinem Vater schenkte ich lediglich ein Nicken zum Abschied und schloss dann für immer die Tür zu meinem Elternhaus.
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