ALMA
AN DIESEM TAG konnte ich nicht schlafen oder zumindest nicht sofort, denn all diese neuen Erfahrungen und Begegnungen setzten mir mehr zu, als ich zunächst dachte. Nicht, dass ich mir die Einsamkeit zurückgewünscht hätte. Ganz und gar nicht! Ich hatte das gefunden, was ich gesucht hatte – Gleichgesinnte, Vampire wie mich. Auch, wenn sie sich nicht so nennen wollten. Warum genau, das wusste ich noch nicht. Diese und viele andere Fragen würde mir vielleicht dieser sogenannte Pater beantworten. Er war das Oberhaupt dieser Bruderschaft, die sich Fratres Sanguinis nannte.
Der Name Bruderschaft war nicht nur so dahergesagt, sie nahmen es tatsächlich ernst damit. Alle männlichen Mitglieder trugen vor ihrem eigentlichen Namen das Wort Frater, was auf Latein Bruder bedeutete. Der Pater war demnach wohl so etwas wie deren Vater. Das hörte sich für mich sehr nach einem Mönchsorden an und ich sollte noch staunen.
Weibliche Mitglieder gab es hier nur wenige, wie mir schien. Zumindest war mir außer Sabine keine weitere Frau begegnet, was den Eindruck eines Klosters verstärkte. Ein Kloster, dem nicht nur das Blut des Herrn heilig war. Ich ertappte mich, dass ich bei diesem Gedanken schmunzeln musste. Meine Familie hatte sich nie besonders viel aus der Kirche gemacht. Jedenfalls für meinen Vater war es Zeitverschwendung, in eine Kirche zu gehen, um sich dort von irgendeinem Pfaffen Hirngespinste erzählen zu lassen. Dennoch gingen wir zumindest an den wichtigen Feiertagen in die nächstgrößere Gemeinde, um eben diesen Märchen zu lauschen. Alles andere hätte uns bei unseren Mitmenschen auch ganz schön in Verruf gebracht und vor allem unser Großvater war noch streng gläubig gewesen und wünschte sich, dass seine Nachkommen nicht wie ein wilder Haufen Heiden aufwachsen würden. Auch meine Mutter konnte man durchaus als gläubig bezeichnen, obwohl sie der Kirche als solche ebenfalls nicht viel abgewann. Sie betete dennoch abends für uns und dankte dem lieben Gott vor jedem Essen für seine Gaben.
Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast
und segne, was du uns bescheret hast.
Amen
Wieder musste ich schmunzeln. Die Vorstellung, dass der liebe Gott mir meine Blutmahlzeiten bescheren würde, war mehr als grotesk. Auch Vater zog dieses Tischgebet stets in Lächerliche, da es schließlich er war, der dafür gesorgt hatte, dass wir etwas auf den Tellern hatten.
Ich verfluchte mich selbst, wie meine Gedanken nach all dieser Zeit noch immer um diesen Unmenschen kreisten. Ich dachte, ich hatte meine Vergangenheit hinter mich gelassen. Meine Eltern waren mittlerweile sicher längst tot.
Ein schmerzender Stich durchbohrte mein Herz.
Meine Geschwister waren auch nicht mehr am Leben. Und wenn doch, dann zumindest sehr alt und ich würde sie nicht wiedererkennen.
Nie zuvor hatte ich mir darüber Gedanken gemacht. Das Leben ging anderswo unverändert weiter und ich war längst nicht mehr Teil davon. Ich würde niemals erfahren, ob Mathilda diesen Schnösel heiraten musste, ob sie Kinder bekommen hat oder ob es ihr gelungen war, aus diesem, ihr vorbestimmten Leben zu fliehen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als das.
Ein Klopfen riss mich aus meiner geistigen Reise in die Vergangenheit. Graue Locken schoben sich vorsichtig durch den Türspalt meiner kleinen, karg eingerichteten Kammer.
Ich setzte mich an den Rand des schlichten Holzbettes und war überrascht, eine alte Frau zu sehen, die mit einer Fackel in der Hand zu mir kam, um mir ein Stück Brot, Käse und einen Kelch mit Blut zu reichen.
»Ich hoffe, unser Gast hat gut geschlafen«, sagte sie und lächelte mich milde an.
Sie erinnerte mich an den alten Walther und ich empfand sofort Sympathie für die Alte. Vielleicht hatte ich so etwas wie einen Elternkomplex und klammerte mich an jeden, der einer Elternfigur für mich entsprach.
Dennoch war ich mir unsicher, mit was ich es zu tun hatte. War die Frau ein Opfer dieser Vampirbrüder? Ein lebender Blutspender?
»Schau nicht so verdattert«, sprach sie mich an, nachdem sie meine Verwirrung bemerkt hatte. »Ich bin wie du. Du brauchst dich nicht zu verstellen.«
»Wie – wie ich?«, fragte ich überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es Vampire gab, die ein derart hohes Menschenalter erreicht hatten, bevor sie verwandelt wurden.
»Ja, ich bin auch ein Blutsauger oder Vampir, wie du es nennst.« Sie zwinkerte mir zu. »Sag das aber nie in Gegenwart des Paters. Er verachtet dieses Wort.«
»Davon habe ich gehört«, sagte ich und streckte meine Hand nach dem Brot aus.
»Mein Name ist Alma und ich bin hier so was wie das Hausmütterchen«, fuhr sie fort, während sie ein paar frische Kleider über eine Stuhllehne hängte. »Die habe ich von einem Lumpenhändler, der sie mir einfach so übergeben hat. Ziemlich edle Stoffe, was? Es hat auch alles seine Vorteile, nicht?« Sie kicherte und ich wusste, wie sie tatsächlich an diese Kleiner gekommen war. Durch Bewusstseinskontrolle. »Du sollst schließlich nach was aussehen, wenn du zum Pater gehst. Von wann sind denn deine Kleider? Aus dem letzten Jahrhundert?«
»Ja, fast«, antwortete ich und schmunzelte.
Tatsächlich hatte ich mir zwischendurch selbstverständlich immer mal wieder neue Klamotten besorgt – von Landstreichern und Opfern kalter Winternächte. Nichts, worauf ich stolz war, aber ich lief nicht nackt und haarig wie der wilde Mann durch die Gegend.
»Hier, mein Junge. Trink dich erst mal satt«, sagte Alma dann und reichte mir den Kelch mit Blut.
Ich spürte, wie meine Adern unter meinen Augen pulsierten und meine Zähne ungewöhnlich schnell wuchsen. Mein Körper reagierte sehr stark auf den Geruch dieser Flüssigkeit und ich bekam Hunger, wie ich ihn lange nicht gespürt hatte. Der Drang danach, zu trinken, war beinahe schmerzhaft. Als der Rand des Gefäßes bereits meine Lippen berührte, polterte Sabine wie eine wilde Bache in mein Zimmer.
»Alma! Gib ihm das nicht!«, rief sie die alte Frau an und ich ließ vor Schreck den Kelch fallen.
»Sabine, Kindchen! Was ist denn in dich gefahren? Der Junge braucht doch eine Stärkung. Er hat so einen weiten Weg hinter sich.«
»Entschuldige bitte, Alma. Das kannst du nicht wissen«, senkte Sabine ihren aufgebrachten Ton. »Walther ist nicht wie wir. Er trinkt dieses Blut nicht.«
»Was? Aber man hat mir gesagt, dass ein neuer Blutsauger hier sei. Jemand, mit sehr viel Potenzial für unsere Gemeinschaft.« Alma sah abwechselnd zu mir und zu Sabine und verstand ebenso wenig, wie ich.
Als alle meine Sinne nach wie vor wie manisch an dem Duft des Blutes hingen, schwante mir, was hier gerade passiert war.
»Walther trinkt kein Menschenblut«, sagte die blonde Vampirin mit den Sommersprossen schließlich und deutete mit einer Kopfbewegung auf die dunkelrote Pfütze, die sich auf dem Boden meiner Kammer ausbreitete. »Er hat seine Ernährung seit dem Tag seiner Verwandlung auf Tierblut umgestellt.«
»Er trinkt Tierblut? Seit all den Jahren? Wie schafft er da?« Alma schaute mich von oben bis unten an, als würde sie die Antwort auf ihre Frage an meinem Äußeren ablesen können. »Ich habe noch nie einen Blutsauger getroffen, der das durchgehalten hat. Er muss einen starken Willen haben. Jetzt verstehe ich, warum du denkst, dass er dem Pater gefallen könnte. Er könnte alles verändern.«
Ich hatte nach wie vor keine Ahnung, was genau damit gemeint war. Ich kannte ja keine anderen Vampire und war mir nicht bewusst, dass ich mich offenbar deutlich von meinen Artgenossen unterschied.
»Ist der Pater wach?«, fragte Sabine schließlich, während sie mich schroff aus der Kammer zehrte, in der das Menschenblut noch immer nach mir rief.
»Ja, er ist gerade von einem Beutezug zurückgekommen«, antwortete Alma. »Er hat uns dieses frische Blut mitgebracht. Ein altersschwacher Wanderer ohne Familie.«
»Weiß er von ihm?«, Sabine ruckelte kurz an meinem Arm, als wäre ich nur ein Gegenstand, über den sie sprach.
»Rüdiger hat es ihm bei seiner Rückkehr erzählt. Ich habe gesagt, dass ich den Neuen zu ihm schicke, sobald er gefrühstückt hat. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich einen Fehler mache.«
»Das ist nicht deine Schuld, Alma. Ich wollte niemanden etwas davon sagen, bis der Pater Walther persönlich kennenlernt. Er soll entscheiden, wie er damit umgeht.« Sabine tätschelte die Schulter der alten Dame und ihre Gesichtszüge wurden ungewohnt weich.
In dieser resoluten Frau steckte also doch ein weicher Kern, dachte ich.
»Ich bringe ihn hin. Mach dir keine Vorwürfe«, sprach Sabine weiter und nickte Alma aufmunternd zu.
Wenige Augenblicke später zog sie mich enge und verwinkelte Gänge entlang. Diese Burgruine hatte mehr zu bieten, als man ihr von außen ansehen konnte. Eine weitere Treppe führte uns tiefer hinab. Endlich traute ich mich, wieder etwas zu sagen.
»Wie kommt es, dass diese nette alte Dame ein Blutsauger ist?«, fragte ich.
»Alma hat mir damals, kurz nach meiner Verwandlung, Unterschlupf gewährt«, begann Sabine zu erzählen. »Das war 1503. Ich erzähle dir später mal davon, wenn ich Lust habe.« Da war sie wieder, die schnippisch-sympathische Sabine, wie ich sie kennengelernt habe. »Was Alma betrifft ...«, setzte sie erneut an, »... es ging eine ganze Weile gut. Ich blieb tagsüber in ihrem Haus, half ihr bei ihren Arbeiten und erbeutete nachts Tiere für sie.«
Wieder kehrten Erinnerungen an Walther zurück und ich spürte, dass sein Tod mir noch immer naheging.
»Wusste sie, was du warst?«, wollte ich wissen.
»Ja, ich hatte es ihr erzählt und sie manipuliert, es niemandem zu verraten und keine Angst vor mir zu haben. Wir hatten über viele Jahre eine funktionierende Zweckgemeinschaft. Aber ich würde lügen, wenn ich behaupte, ich hätte sie nicht auch geliebt. Das habe ich. Sie war der einzige Mensch in meinem Leben, der für mich da war und den ich nicht als meine Beute betrachtete. Das war sehr lange Zeit nicht möglich gewesen.«
Ich nickte stumm und versuchte, den Schmerz zu verdrängen, den ähnliche Erfahrungen in mir verursachten.
»Irgendwann wurde Alma krank und ich befürchtete, dass sie sterben könnte. Das wäre zu früh für mich gewesen. Ein Menschenleben erscheint dir so unglaublich kurz, wenn du unsterblich bist.«
Wem sagst du das, dachte ich.
»Ich wusste nicht warum, aber ich gab ihr mein Blut zu trinken und sie erholte sich rasch von ihrem Leiden«, erzählte Sabine weiter und ich sah, wie sich ein Schatten auf ihren Blick legte. »Doch schon am nächsten Tag sollte sich alles ändern.«
»Haben euch Wölfe angegriffen?«, fragte ich etwas zu direkt und bereute dieses unhöfliche Verhalten sofort wieder.
»Nein«, schmunzelte Sabine. »Viel schlimmer! Vampire erstatteten uns einen Besuch. Aber wir hielten sie nicht dafür, denn die drei Männer sahen aus, wie Mönche, die missionierten oder so. Alma ließ sie herein. Keine von uns dachte sich etwas dabei. Doch plötzlich fragte sie der schwarzhaarige Kerl, ob sie alleine leben würde, ob sie Familie hätte und wer ich sei. Nachdem sie ihm alles gesagt hatte, blickte mich der Mann tief in die Augen und wollte mich ebenfalls manipulieren. Als das nicht funktionierte, lachte er laut auf und meinte zu seinen Begleitern, dass diese Beute bereits jemanden gehören würde. Er fragte mich, weshalb ich so lange warten würde.
»Die Alte vermisst niemand. Friss dich an ihr satt, meine Schöne, sagte er zu mir und zog einen silbernen Dolch hervor. Damit schnitt er, ohne mit der Wimper zu zucken, Almas Kehle durch und das Blut sprudelte nur so aus der Wunde. Ich habe noch nie so einen Schmerz gefühlt, wie an jenem Abend.«
Sabine bebte und ich konnte ihre Gefühle nachempfinden. Die schrecklichen Bilder der Nacht meiner Verwandlung waren wieder da. Ich sah alles deutlich vor mir, als wäre es gestern gewesen. Die Alma aus ihren Erzählungen war in meinem Kopf unsere Magd Lise. Der Mönch mit dem Dolch stellte sich mir als niemand Geringeres als Klaus Mikaelson dar.
»Es war der Schmerz des Verlustes dieser wunderbaren, herzensguten Frau und es war der Schmerz des Verlangens, mich ihr an den Hals zu werfen, um die letzten Liter Lebenssaft aus Alma herauszusaugen. Ich tat es nicht. Ich brach zusammen und attackierte diesen Möchtegern-Mönch. Ich hatte keine Chance. Sie waren zu dritt und das, was ich nicht wollte, taten sie mit Genugtuung. Sie saugten Alma aus, bis kein Tropfen Blut mehr in ihr war. Dann erst ließen sie von ihr ab und wendeten sich mir zu. Ich konnte kaum ein Wort davon verstehen, was sie mir sagten. Der Schock saß tief und mein Herzschlag übertönte alles.«
Sabine machte eine Pause und ich wollte meine Hand tröstend auf ihre Schulter legen, doch sie zog sie weg und zwang sich, die Fassung zu bewahren. Dann sprach sie weiter.
»Sie sprachen davon, dass sie fasziniert seien, dass ich diesem Festessen widerstehen konnte. Herrgott noch mal! Sie meinten Alma. Das war so pervers, ich hätte speien können. Sie redeten weiter, dass sie aus dem Schwarzwald kämen und dort eine Bruderschaft gegründet hätten, und ich wäre ein optimaler Rekrut. Als ob ich mich nach dieser Tat diesen Barbaren angeschlossen hätte! Ich wusste, dass sie waren wie ich. Doch hatte ich mich soweit unter Kontrolle, um eine solche Tat geschickter anzustellen. Bei mir lebten die Opfer in den meisten Fällen noch. Sie meinten jedoch, es sei egal, was mit den Menschen passiere, solange es niemanden gab, der sie vermissen würde. Ich war völlig überfordert von alldem. Schließlich standen sie auf und gingen zu einer Kerze, die auf dem Tisch stand und warfen sie um. Es dauerte nicht lange, bis das morsche Holz von Almas Hütte, die viele Jahre mein Zuhause war, in Flammen aufging.
Ein tragischer Unfall. Keiner wird Fragen stellen, sagte der Mönch und schubste mich Richtung Ausgang. Aber ich konnte nicht gehen, ohne mich ein letztes Mal zu meiner Freundin umzudrehen, und dann geschah ein Wunder!«
»Sie erwachte wieder«, sagte ich und dachte daran, dass es mir ähnlich erging.
»Sie kehrte zurück zu mir, als Blutsaugerin«, nickte Sabine. »Ich wusste damals kaum etwas darüber, wie das mit dem Vampirwerden funktionierte, und mir blieb keine andere Wahl, als mit ihr zusammen diesem Mönch zu folgen.« Sabine blieb vor einer großen dunklen Tür am Ende des am tiefsten gelegenen Gangs an. »Und da wären wir.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top