ꕤ Kapitel 4 ꕤ
Ganz dünnes Eis
Cassia
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Eisige Kälte schlich sich ihren Rücken hinauf, kroch ihr die Arme entlang, bis sie ihren Kopf erreichte und ihre Gedanken einfror.
Ihr gesamter Körper verwandelte sich in einen Eisblock aus Panik und Angst, die sie fest im Griff hatten. Sie war wie gelähmt, während die Welt vor ihren Augen nur eine vorbeiziehende Landschaft war.
Die Eindrücke der Gassen, die sonst so alltäglich waren wie das Beten am Abend, vermischten sich zu einem einzigen, unverständlichen Rauschen. Als würde sie im Auge eines mächtigen Sturmes stehen.
Mrs. Taylors hämisches Kichern wurde zu einem leisen Piepen. Ebenso wie die Flüche von Einar.
Das Rot der Häuser, das Grau des Himmels und das Grün von Mrs. Taylors Schürze verschwammen in einem See aus Farben.
Der Schmerz von ihren Händen war verschwunden.
Der Geruch von frischem Regen war verschwunden.
In ihren Gedanken herrschte Leere. Ihre geöffneten Augen waren blind gegenüber allem, was geschah.
„Cassia" Ein vertrautes Echo drang dumpf an ihre Ohren.
Beim ersten Mal bemerkte sie es nicht.
Beim zweiten Mal nahm sie es schwach wahr.
Der Widerhall schwoll zu einem durchdringenden Schrei an.
Dieser galt eindeutig ihr, aber weshalb wurde sie gerufen?
Weswegen sah die Welt aus als würde man durch Wasser schauen?
Etwa war geschehen. Nur was?
Ein erster Gedanke erwachte aus seiner Starre und meldete sich zu Wort.
„Sie wissen es"
Wer ist sie und was wissen sie? Warum schockte sie selbst das?
„Sie wissen, wer du bist"
Sie waren die Stadtbewohner und sie war Cassia, der Dorftrottel. Wer sollte sie sonst sein?
Ein schwarzer Kater tauchte vor ihrem inneren Auge auf, während ihr Bewusstsein langsam wieder auftaute.
Es gab viele schwarze Katzen, doch dieser war anders. Sie kannte den Kater. Dabei hatte sie doch kein Haustier, oder?
Sie hatte ihn gesehen. Heute, in der Gasse. Nasses Fell in ihrem Gesicht. Ein schwarzer Kater war vom Himmel gefallen.
Er hatte geflucht. Über irgendjemanden, über den Regen und über irgendetwas Anderes.
Unsinn, Katzen sprechen nicht.
Aber er hatte geredet. Und sie hatte ihn verstanden. Warum hatte sie ihn verstanden?
„Es gibt Menschen, die mit bestimmten Tieren sprechen können", bemerkte ihr Kopf wie ein eifriger Schüler.
Wer verfügte über diese Fähigkeit? Hatte ihre Familie es nicht erwähnt?
Eine Krähe gesellte sich zu dem Kater.
Auch sie hatte sie gesehen. Heute, in der Gasse. Schwarze Augen, die sie ansahen. Die Krähe hatte den Kater am Schwanz gepackt.
Sie hatte ihn geschimpft. Und sie hatte sie angesprochen. Sie hatte ihr etwas erklärt.
Weder Katzen noch Krähen können sprechen.
Aber sie hatte mit ihr geredet. Jemand war verschwunden. Sie kannte die Person. Aurelia war verschwunden. Die Stadthexe, vor der sie sich wie vor sonst nichts fürchtete.
„Hexe", murmelte ihr Kopf. „Eine junge Hexe"
So hatte die Krähe sie begrüßt. Das bedeutete... nein, das konnte es nicht bedeuten oder?
„Aber das würde einiges erklären", wand ihr Kopf ein. „Hexen können sich mit ihren Vertrauten unterhalten."
Auch dieses Wort war in der Unterhaltung gefallen.
Aber ich kann keine Hexe sein.
Hexen waren Ausgeburten der Hölle und zu Dingen fähig, die man sich nicht vorstellen wollte. Sie waren an dem Leid der Menschen schuld.
Ich darf keine Hexe sein.
Ihre Familie hatte ihr stets gesagt wie grausam diese Wesen waren. Da konnte sie doch nicht...
Die Katze, die Krähe.
Das waren doch klare Anzeichen.
„Edward", kam es aus irgendeiner Ecke ihres Kopfes.
Edward?
Edward!
Edward war auf wundersame Weise gesund geworden.
Aber nicht durch Gott.
Durch sie.
Ein weiteres Markenzeichen einer Hexe.
So sehr sich ihr Verstand auch drehte und wandte. Das Ergebnis war und blieb das gleiche.
Um Gottes Willen, wie kann ich eine Hexe sein?
Sie konnte keine, durfte keine Hexe sein.
Ihre Familie verachtete diese Wesen.
„Sie wissen es. Sie wissen, wer du bist", meldete sich der Gedanke erneut.
Ihre Umgebung wurde langsam wieder scharf. Als würde jemand ein schmutziges Fenster putzen.
Umrisse einer rundlichen Figur erschienen.
Eine rote Schürze über einem weißen Kleid. Zwei obsidianfarbene Augen, die vor Schadenfreude leuchteten.
Mrs. Taylor.
Mrs. Taylor wusste es.
Und dann erfuhr es bald jeder in der Stadt.
Gänsehaut bedeckte ihre Arme.
Ihre Zähne klapperten leise.
Die Angst hatte ihren eisigen Griff noch nicht ganz gelockert.
Alle würden es wissen.
Auch ihre Familie...
Cassia wusste nicht, was schlimmer war.
Der Fakt, dass sie eine Hexe war.
Oder dass sie offiziell auf der Abschussliste ihrer geliebten Heimat stand.
Warum strafte Gott sie so sehr?
Erst starb ihre beste Freundin ihretwegen und dann stellte sich heraus, dass sie eine Hexe war.
Was hatte sie getan?
War es vielleicht, weil sie den jungen Mann abgelehnt hatte?
Oder dass sie nicht in der Mine arbeiten durfte, weil sie als unfähig eingestuft wurde?
Dass sie sich halbwegs lesen und schreiben mit alten Büchern beigebracht hatte?
War es, weil sie heimlich Äpfel von Mrs. Taylor gestohlen hatte, um ihr eins aus zu wischen?
Aber all das war doch nichts Schwerwiegendes, oder?
Vielleicht alle diese Dinge, aufsummiert...
Welche Sünden auch immer sie begangen hatte, so musste sie ihre gerechte Strafe annehmen.
Doch bin ich bereit dafür?
Als Hexe war der Tod ihr gewiss. Ein grausames Ende.
Dabei hatte sie immer gedacht, sie hätte noch Zeit. Zeit, um eine große Künstlerin zu werden und allen zu beweisen, dass sie nicht nutzlos war. Eventuell einen Mann finden, den sie wirklich liebte und der sie auch liebte.
Ich will noch nicht sterben.
So gegenwärtig der Tod auch war, war er nicht weniger schrecklich. Sie hatte ganze Familien sterben sehen. Eltern, die ihre Kinder im Stich lassen. Menschen, die binnen Tage langsam ihr Leben verlieren.
Sie war noch nicht bereit zu gehen. Sie wollte es nicht.
Es tut mir leid, Gott, aber ich kann das nicht.
Die Frage war nur, was sie jetzt tun sollte. Worte waren keine Lösung, denn wer hörte schon auf sie?
Gewalt stand überhaupt nicht zur Diskussion. Aus den unterschiedlichsten Gründen.
Sie lehnte Gewalt ab, da es sich für eine fromme Christin und junge Dame nicht gehörte.
Sie war talentlos, was das Kämpfen mit Fäusten anging.
Ihr Gegenüber war zweifellos stärker als sie.
Blieb also nur noch das, was sie sonst auch immer tat.
Die Flucht.
Allerdings würde sie alleine nicht weit kommen. Sie war heute schon viel gerannt und wusste nicht, wie viel Kraft sie noch hatte.
Aber vielleicht konnten ihr ja, nein, das ging doch gegen alles, wofür sie stand.
Doch wer würde ihr in dieser Situation helfen?
Es gab keine andere Lösung.
Sie musste mit den Tieren, nein Vertrauten, fliehen und gemeinsam die Person suchen, vor der sie sich am meisten fürchtete.
Das waren zwar wirklich schlechte Voraussetzungen, aber ihre Lage war im Moment sowieso mehr schlecht als recht.
Erst die näherkommenden Schritte lösten sie endgültig aus ihrer Starre.
„Ich dachte schon, du bist zur Statur eines Angsthasen geworden", spottete Einar von der Seite, während er auf- und ab tigerte.
„Ganz dünnes Eis, Einar. Das ist nicht witzig", wies Jerelyn ihn zurecht und wandte sich an sie. „Verstehst du jetzt, warum es dringlich ist?"
Cassia nickte und blickte sich hektisch nach einem Ausweg um.
„Wenn du mit uns kommst, könnte ich dir eine Fluchtmöglichkeit zeigen", bot Einar großherzig an.
Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie durfte nicht in die Hände von — wer auch immer da kam — geraten.
„Ich komme", bestätigte sie Einar und wartete darauf, dass er endlich loslief.
„Das ist ja ausnahmsweise sehr vernünftig von dir", kam es unerwartet von Mrs. Taylor, die natürlich das Maunzen des Katers und das Krächzen der Krähe nicht verstanden hatte.
„Diese Fuchtel fand ich schon immer furchtbar", kommentierte Einar nur und leckte sich die Brust.
Die Schritte wurden lauter.
„Spar dir den Atem. Schwing lieber deine Pfoten", fuhr Jerelyn ihn an und erhob sich in die Luft.
Dieser seufzte betont genervt auf und kletterte mit einem Mal munter die Hauswand hoch.
Für einen kurzen Augenblick zweifelte Cassia, ob das wirklich der richtige Weg war. Aber dann vernahm sie schon entfernt das Keuchen des Mannes und beschloss, dem Kater zu folgen.
Cassia war bereits auf eine Tonne hinaufgeklettert und zog sich auf ein Fensterbrett hoch, bis Mrs. Taylor merkte, dass sie floh. Was sie natürlich sofort laut heraus posaunte.
Während sie dem Kater folgte, pochten nur zwei Gedanken durch ihren Kopf.
Ich bin also wirklich eine Verfluchte.
Meine Familie wird es von den Anderen und nicht von mir erfahren.
Wie gerne wäre sie zurück zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern gegangen und hätte ihnen alles erklärt. Vielleicht würden sie sie verstehen.
Wobei sie sich sofort selbst korrigieren musste, denn sie wusste, wie sehr ihre Mutter diese Wesen verachtete. Verständnis wäre das Letzte, was sie von ihr erhalten würde.
Aber zumindest verabschieden hätte sie sich gekonnt, nur kurz. Ihr wäre bestimmt irgendetwas eingefallen.
Noch ein Mal ihre große Schwester Elisabeth umarmen und bewundern, wie reif sie schon war.
Noch ein Mal ihren kleinen Brüdern Paul und Edward durch die roten Locken wuscheln.
Noch ein Mal ihre kleine Schwester Beatrice durch die Luft wirbeln und ihr Kinderlachen hören.
Noch einmal ihrer Mutter Elena beim Singen lauschen.
Noch einmal ihren Vater Scott bei der Gartenarbeit unterstützen.
Aber für all das hatte sie keine Zeit mehr und würde sie auch nicht so schnell haben.
Denn wer auf der Flucht war, hatte keine ruhige Minute.
Während vor ihr langsam die Sonne unterging und den Himmel in ein Blumenfeld aus rosarot und orange verwandelte, floh Cassia über die Dächer des Viertels, das sie ihre Heimat genannt hatte.
Sie wollte weinen und ihren Schmerz in die Welt hinausschreien, doch sie hatte keine Tränen mehr, die sie hätte vergießen können, und ihre Stimme versagte.
Auf Wiedersehen, mein geliebtes Nautabury
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Viele haben schon ihre Heimat verloren, aus den unterschiedlichsten Gründen. Doch vielleicht ist Heimat nicht ein Ort, sondern ein Gefühl.
𝙼𝚒𝚝 𝙴𝚖𝚙𝚊𝚝𝚑𝚒𝚎 𝚑𝚊𝚜𝚝 𝚍𝚞 𝚎𝚜 𝚗𝚒𝚌𝚑𝚝 𝚜𝚘, 𝚘𝚍𝚎𝚛?
Ich meinte nur... ach...
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