ꕤ Kapitel 1 ꕤ
Ein Problem kommt selten allein
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Erstes Moos war bereits auf ihrem Grabmal gewachsen, das einzige Leben auf kaltem Stein. Eine dürre Statur aus schwarzem Schiefer stand davor, ein weißes Stiefmütterchen in der Hand. Erst durch eine zaghafte Bewegung war sie als Mensch aus zu machen. Regen fiel wolkenbruchartig auf den Friedhof hinab als trauerte der gesamte Himmel um die Tote.
Schutzlos der Sintflut ausgeliefert rann das Wasser in Strömen über das Gesicht der durchnässten Gestalt. Ein Unterschied zwischen Tränen und Regen war kaum zu erkennen. Die Lippen bewegten sich zu leisen gemurmelten Worten.
„Es ist alles meine Schuld"
Sie hätte es wissen müssen.
Sie hätte es bei Gott besser wissen müssen.
Sie fiel auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in ihrer linken Hand, die andere um die Blumen gepresst.
Wenn sie doch aufmerksamer gewesen wäre, dann hätte sie es früher erkannt. Dann wäre Sophie jetzt nicht tot.
Sie selbst sollte statt ihr dort unten liegen.
Sie war die Schuldige und nicht Gott wie die Anderen meinten. Sie allein.
Wenn sie mehr auf ihren Körper geachtet hätte, wenn sie die Signale verstanden hätte, vielleicht würde Sophie noch leben.
Bestimmt würde sie das. Sophie war stark und einfühlsamer als alle anderen. Sie hatte ein offenes Ohr für jeden, der es brauchte.
Niemand sonst hatte sie so verstanden wie ihre beste Freundin es getan hatte. Sophie lachte sie nicht aus, weil sie von einem Leben als Künstlerin träumte oder weil sie dauernd über ihre eigenen Füße stolperte. Im Gegenteil, sie hatte Cassia immer darin bestärkt, ihre Wünsche wahr werden zu lassen.
Ach Sophie, ich vermisse dich so!
Ihre letzten Tage waren grauenvoll gewesen. Die Seuche hatte ihre Klauen in sie geschlagen und ihr Stunde für Stunde Lebenskraft entzogen. Irgendwann konnte sie sich nicht mehr aus eigenem Antrieb übergeben, sodass Erbrochenes von Zeit zu Zeit aus ihrem Mund rann.
Ihre einst strahlenden Augen saßen tief eingesunken in ihrem Kopf, der ein brodelnder Kessel war. Der Glanz ihrer Haut schwand und sie verwandelte sich in eine wüstenhafte Asche. Immer häufiger verlor Sophie das Bewusstsein und ihr Körper trocknete von innen aus.
Jegliche Arznei zeigte keinerlei Wirkung wie schon bei den anderen Opfern. Es war die absolute Machtlosigkeit gegenüber der Krankheit, die am meisten schmerzte. Im Wissen zu sein, dass du deine beste Freundin nicht retten kannst, bringt einen um.
Am Ende hatte Sophie keine Kraft mehr irgendetwas zu tun. Das Gesicht dauerhaft schmerzverzerrt wartete sie auf ihren Tod, von dem sie wusste, dass er kommen würde. Dieses qualvolle Ende hatte Sophie nicht verdient. Niemand hat so etwas verdient.
Aber das Schlimmste war, dass Cassia daran schuld war. Sie hatte vor ihrem inneren Richter gestanden hatte und war für sündig erklärt worden. Ihre Strafe war ewige Qualen, die besonders stark waren, wenn sie an Sophie dachte. Ein Biest aus Vorwürfen und bösen Gedanken, dass sie von innen heraus zerfraß.
Sie hatte es verdient.
Sie hatte sich bei jemandem angesteckt und sich trotz erster Symptome heimlich mit Sophie getroffen. Aus einem wundersamen Grund hatte Cassia die Krankheit im Gegensatz zu vielen anderen überlebt. Aber Sophie nicht.
Wie kann mir je verzeihen?
„Es tut mir so unendlich leid, Sophie", schniefte sie. Cassia legte die Stiefmütterchen auf den Stein, der als schlichtes Grabmal fungierte.
Nachdem sie lange die Blumen angestarrt hatte, raffte Cassia sich schließlich zusammen und richtete sich auf. Wenn sie noch länger im Regen blieb, würde sie erneut krank werden und dieses Mal käme sie sicher nicht so ungeschoren davon.
Die Siebzehnjährige wandte sich von dem Grab ab und kämpfte sich durch das kniehohe, nasse Gras zum Ende des Friedhofes. Sonst mied sie ihn eher, denn er war viel zu nah am Haus der Stadthexe, der gruseligsten Person weit und breit. Angeblich konnte sie jeden verfluchen und sie kannte alle deine Geheimnisse.
Cassia bemühte sich den Friedhof schnellstmöglich zu verlassen, welcher direkt an die kleine Kapelle am Rande ihrer Heimatstadt Nautabury grenzte. Gut, Stadt war vielleicht ein bisschen übertrieben. Eher eine geschäftige Kleinstadt, aber das durfte man den stolzen Bewohnern nicht unter die Nase reiben.
Der ausgebaute Hafen hatte Nautabury täglich wachsen lassen, aber die Epidemie vor drei Jahren hatte das mit einem Schlag geändert. Niemand wollte mit einem Land Handel treiben, dass von einer grausamen Krankheit heimgesucht wurde. Viele Menschen, darunter auch ihr Vater hatten ihren bisherigen Beruf als Händler aufgeben müssen und arbeiteten nun in einer der unzähligen Alum-Minen.
Deswegen fühlte ihre Heimat sich eher wie ein verschlafenes Dorf an. Besonders an solch verregneten Tage wie heute. Auf den Straßen war nur wer musste, die Anderen blieben lieber in der warmen Stube. Und nicht nur wegen des Wetters...
Cassia kam das gerade recht, da sie Massen lieber fernblieb. Denn sie hatte die schreckliche Angewohnheit, dauernd in fremde Menschen hineinzulaufen oder irgendetwas umzuwerfen, wobei sie eigentlich nur Anderen aus dem Weg gehen wollte. In ihrem Viertel wurde sie von vielen nur noch als „der Dorftrottel" bezeichnet. Ein weiterer Grund, gut besuchte Straßen zu meiden. Das Gespött der Leute traf sie jedes Mal so hart wie Geröllbrocken.
Von ihren Peinigern konnte sie zum Glück keinen entdecken und das, obwohl sie die Hauptstraße, die Darvin Road, entlanglief. Diese war die West-Ost-Achse der Stadt und auch die einzige Straße, die keine einzige Kurve besaß. Sie führte von der Ruine des ehemaligen Klosters St. Augustine, von dem nur noch die Kapelle und der Friedhof genutzt wurden, bis zum Anleger und wurde nur durch den Marktplatz im Zentrum unterbrochen. Außerdem konnte man an den säumenden Häusern sofort erkennen, in welchem Viertel man sich befand. Die Fassaden gingen von kunstvollen Schnitzereien in schmucklose Fronten über.
Nachdem sie den ausgestorbenen Marktplatz — wenn man von dem mageren Hund und den Ratten absah — überquert hatte, bog sie in das Labyrinth der Seitengassen ein. Wer sich hier nicht auskannte, landete schnell an Orten, wo man lieber nicht sein wollte. Denn nur die wichtigsten Gassen aka die mit Gasthäusern und Unterkünften trugen Namen. Und selbst bei diesen fehlte manchmal das Straßenschild.
Cassia stampfte durch knöcheltiefe Pfützen und irgendein braunes Zeug, über dessen Inhalt sie lieber nicht nachdachte. Das gleichmäßige Tröpfeln des Regens beruhigte langsam ihr aufgewühltes Gemüt. Geschickt wich sie einem herumstehenden Fass aus, nur um danach direkt in ein vermutlich zum Trocknen aufgehängtes Hemd zu laufen.
„Himmel nochmal", fluchte sie durch den Stoff und zog ihn sich vom Kopf. Da hatte wohl jemand vergessen, seine Wäsche abzunehmen. Doch noch während sie das Hemd irgendwie auf die Leine hängen wollte, fiel ihr die rote Farbe der Schnur auf. Und es gab nur eine Person, die so etwas besaß.
„Ach sieh mal einer an, der Dorftrottel", ertönte es gehässig von der Seite. Seufzend drehte Cassia den Kopf und erblickte Mrs. Taylor, die hämisch grinsend aus dem Fenster schaute. Großartig, das hatte ihr gerade noch gefehlt. Diese Frau führte sich auf wie die Viertelwache, bloß weil ihr ach so toller Gatte der Schneider eines einflussreichen Kaufmanns war.
Sie stand zu jeglicher Tageszeit am Fenster und beobachtete alles, was draußen vor sich ging.
„Lass mich dir zeigen, wie man das richtig macht"
Kann man auch falsch in fremde Hemden hineinlaufen?
Auch wenn die fiese Schachtel das vermutlich nicht meinte, war es Cassia's Gelegenheit, um sich ganz schnell aus dem Staub zu machen.
Dafür waren diese verwinkelten Gassen sehr gut geeignet und außerdem gehörte die Flucht zu einer ihrer unfreiwilligen Stärken.
Sie war schon drei Straßenecken weiter, als die schrille Stimme der Frau durch das Viertel schallte. Cassia grinste breit und hüpfte leichten Fußes weiter. Der Furie eins auszuwischen erfüllte sie stets mit Genugtuung. Dass sie in zich sehr tiefe Pfützen sprang und ihren schwarzen Rock komplett mit Schlamm einsaute, störte sie nicht im Geringsten.
Fast schon beschwingt öffnete sie die Tür zu dem schiefen Haus am Stadtrand, zu dem sogar ein winziger Garten gehörte.
Augenblicklich erstarrte Cassia. Im Wohnraum herrschte Totenstille. In diesem Haus war es nie still. Waren ihre Geschwister nicht da? Unwahrscheinlich an einem Samstag und vor allem bei dem Regen.
Ein dunkler Gedanke schlich sich von hinten heran. Diese Stille kannte sie. So leise war es gewesen, als sie das Krankenbett gehütet hatte.
Mit einer bösen Vorahnung stürmte Cassia die knarzende Treppe in die erste Etage hoch und direkt in das Schlafzimmer ihrer Eltern in der Mitte des Flures.
Dort auf ein Kissen gebettet und mit einem feuchten Lappen auf der Stirn lag ihr jüngster Bruder. Erbrochenes lief aus seinem Mund und neben ihm auf dem Boden neben seinem Bett stand ein Eimer. Wenn seine Lippen nicht so rosa gewesen wären, hätte sie gedacht, dass er tot wäre. Blut lief aus einer Schnittwunde am Arm, die von ihrer Mutter gesäubert wurde.
Nein, nein, nein, warum jetzt auch noch Edward?
Hatte Sophies Tod nicht gereicht? Musste sie noch mehr für ihre törichte Tat bezahlen? Sie war doch schon lange wieder gesund gewesen oder etwa nicht?
Für eine Weile stand Cassia einfach nur da und beobachtete ihre Mutter, wie sie sich um Edward kümmerte. Unfähig zu denken, geschweige denn die richtigen Worte zu finden. Cassia kratzte sich an ihrem Arm so wie sie es immer tat, wenn sie nicht wusste, was sie tun sollte. Ein Schmerz durchfuhr sie und sie entdeckte Blut an ihrer Hand. Sie musste sich unterwegs irgendwie aufgeschürft haben.
Ihre Mutter erhob sich mit dem Lappen in der Hand und zuckte zusammen, als sie Cassia erblickte.
„Meine Güte, weshalb stehst du so stumm da? Warum bist du einfach so verschwunden? Schau dich an, du bist total nass, du könntest ja..."
Sie versuchte streng zu klingen, doch die Sorge schwang unüberhörbar in ihrer Stimme mit. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, was bei ihr nichts Ungewöhnliches war, doch diese saßen tiefer.
„Bleib bei ihm, solange ich frisches Wasser hole und den Lappen wechsle", ordnete sie an und verschwand darauf aus dem Zimmer.
Cassia nahm sich einen Schemel und setzte sich an den Bettrand.
„Hey, Ca...." Edward's Stimme war ganz leise und versagte mitten im Satz. Sonst sprühte er immer nur vor Energie.
„Hey, Ed" Cassia strich ihm über die Stirn, welche glühte. Anschließend betrachtete sie die Wunde an seinem Arm. Sie war nicht sehr tief.
„Das ist doch sonst meine Aufgabe", meinte sie, während sie vorsichtig seinen Schnitt berührte.
Edwards Mund verzog sich zu einem kleinen Grinsen.
„Da du nicht da warst, habe ich das gemacht", berichtete er mit einem Funken Stolz.
Es freute Cassia, dass ihr Ablenkungsmanöver funktioniert hatte.
„Das ist aber sehr liebenswürdig von Ihnen"
Edward kicherte.
„Immer gerne doch"
„Naja, lieber nicht"
Sein Kichern schwoll zu einem Lachen an.
Cassia wartete auf den Husten, der ihren Körper immer erschüttert hatte. Doch dieser blieb aus. Seltsam...
Aber während er weiterhin lachte, sah sie die Farbe in sein Gesicht zurückkehren. Auch seine Haut war längst nicht mehr so heiß wie vorher. Und wenn ihre Augen ihr keinen Streich spielten, war auch die Wunde an seinem Arm geschrumpft.
Was bei Gott geht hier vor?
Aufgeschreckt — aber im positiven Sinne — kam ihrer Mutter ins Zimmer gerannt, einen Eimer frischen Wassers in der Hand. Sie ließ alles stehen und liegen und stürzte an die Seite ihres Sohnes. Sie legte eine Hand auf seine Stirn und riss die Augen auf.
„Das... aber..." Ihre Mutter brachte sonst nichts so leicht aus der Fassung, aber das schien selbst ihre kühnsten Träume zu übersteigen.
„Er... sein Fieber ist... es ist weg" Sie brauchte noch eine Weile, um sich zu sammeln. Ein paar Tränen rannen ihr die Wange hinab.
„Wie fühlst du dich, mein Schatz?"
„Besser denn je", quietschte Edward glücklich und wackelte mit dem Kopf.
„Halleluja, das ist ein Wunder" Sie umarmte ihn ganz fest, küsste ihn auf die Stirn und faltete anschließend die Hände zum Gebet.
„Ich danke dir, Gott; dass du deine schützende Hand über meinen Sohn gehalten hast und ihn vor dem Tod bewahrt hast."
Cassia hielt sich im Hintergrund und lächelte einfach nur. Da war es wieder, das Leuchten in seinen Augen. Die Energie war in seinen Körper zurückgekehrt.
„Cassia, hol die Anderen. Das müssen wir zelebrieren."
Sie nickte und wollte schon davoneilen, aber das wäre nicht nötig gewesen. Diese Wände hatten Ohren und nur einen Augenblick kündigte das Trampeln von Füßen Beatrice und Paul, die in den Raum stürmten.
„Eddie" Ihre kleine Schwester drängelte sich an allen vorbei und warf sich auf ihn. „Du hast mir gefehlt."
„Vorsichtig, Beatrice", ermahnte sie ihre große Schwester Elisabeth, die gerade das Zimmer betreten hatte, deutlich leiser und gesitteter als die Beiden. Unter anderem, weil sich unter ihrem Kleid bereits ein kleiner Babybauch wölbte.
„Lass sie doch", widersprach ihre Mutter, die über ihre zwei Jüngsten nur schmunzeln konnte.
Auch Cassia fand, dass Elisabeth mal wieder zu vorsichtig war. In solchen Zeiten sollten die Kleinen so viele schöne Momente wie möglich erleben.
„Wenn euer Vater von der Arbeit heimkommt, gehen zur Feier des Tages in den Compass."
Cassia horchte auf, denn in den Pub gingen sie wirklich nur zu ganz besonderen Anlässen, denn so ein Besuch kostete eine Menge Geld.
Paul hüpfte freudig auf und ab, trotz seines Alters von dreizehn Jahren war er noch ein Kind.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu Edward. Cassia konnte sich auf die plötzliche Genesung ihres Bruders keinen Reim machen.
Bis ihr etwas einfiel. Das Blut.
Sie hatte sich gekratzt und darauf Blut auf ihrer Hand gehabt und mit dieser anschließend Edward's Arm berührt.
Seine Wunde.
Edward hatte einen tiefen Schnitt, aus dem ebenfalls Blut gelaufen war. Seines und ihres mussten sich vermischt haben. Blut.
Blut hatte in den Geschichten über Hexen eine wichtige Rolle gespielt.
Doch welche nur? Der Gedanke hatte sich irgendwo ihrem Kopf versteckt und jener war noch immer aufgewühlt.
Langsam, ganz langsam kam er hervor. Bis er deutlich in ihrem Geiste erschien.
Und das, was er ihr verriet, gefiel ihr ganz und gar nicht...
Sie musste hier raus. Was auch immer diese Erkenntnis zu bedeuten hatte, sie musste es alleine herausfinden.
Sie brauchte frische Luft, denn diese half ihr beim Denken.
Der Rest ihrer Familie war so mit dem angeblichen Wunder beschäftigt, dass sie sich problemlos davonschleichen konnte.
Sie hastete durch die leeren Straßen und rannte fast einen dieser Heilprediger um, die man immer an ihrem Kreuz aus Rosenranken auf der Brust erkennen konnte. Cassia hielt sie für ziemlich seltsam.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu Edward. Und somit zu der Erkenntnis, die sie hatte.
Entweder eine Hexe hatte sie verflucht oder sie war selbst eine.
Beides nicht wirklich eine rosige Aussicht.
Das Schlimmste war, dass ihre Familie ihr von klein auf erzählt hatte, dass Hexen extrem gefährlich wären. Was, wenn sie...
„Scharlatan", schallte es noch in ihr Ohr, bevor ein fettes, nasses schwarzes Etwas ihr ins Gesicht klatschte.
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Der Schmerz ist endlos und der Tod nur ein Teil eines grausamen Kreislaufes.
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