9 - Prophecies

"Sehen wir uns heute Abend im Wohnwagen?", fragt Laurie nach der Schule. Kevin wäre sofort zu begeistern, doch Chu lehnt ab. Sie müsse zur Bandprobe, erklärt sie den Freunden. Nach Sport ist ihnen nicht und nur rumhängen wollen sie ebenfalls nicht, also verabreden sich Laurie und Kevin zum Kinobesuch mit Fastfood, während Chu Bandprobe hat.

"Gut, danach könnt ihr mir den Film erklären und ich berichte euch von der Probe. Das wird bestimmt spannend. Ich hoffe, wir dürfen auch einige von seinen Songs spielen; und wenn er singt, dann wäre das richtig genial." Chu ist sichtlich begeistert davon, in der Band mitspielen zu dürfen. Sie verabschiedet sich.

Kevin fährt Laurie nachhause. "Meinst du, das mit der Band könnte ein Problem geben?" Er schaut konzentriert auf die Straße und lenkt den Wagen sehr vorsichtig.

"Ich denke schon", bestätigt Laurie ihre Angst. "Er hat mich heute im Unterricht angesehen. Mir wurde kalt. Ich denke, McFinley ist nicht der Countrysänger - oder nicht mehr. Ich vermute, er könnte der gesuchte Werwolf sein."

"McFinley? Wenn er der Wolf wäre, hätte er dann nicht sofort zugeschlagen? Ich meine, er hat sich bisher nicht um Blut und Opfer gekümmert. Er hätte zuschlagen und danach verschwinden können."

Laurie blickt Kevin lange an, er wendet nur kurz den Kopf, sieht dann wieder geradeaus. "Wenn er das nicht getan hat, gibt es dafür einen Grund. Entweder er kennt mich nicht oder er will mich nicht töten. Vielleicht weiß er auch nichts von mir und sucht nur Loupine und Mom. Wäre doch möglich?"

Aus dem Kopfschütteln ihres Freundes schließt Laurie, dass er damit nicht einverstanden ist. Kevin setzt den Blinker und biegt in Lauries Straße ein, er hält direkt in der Einfahrt und stellt den Motor aus.

"Soll ich dich um acht wieder abholen?" Sein freundlicher Blick beruhigt Laurie etwas.

Sie lächelt. "Ja, das wäre toll. Bis dann; danke fürs Heimbringen." Sie küssen sich kurz, dann steigt Laurie aus. Kevin wendet den Wagen und fährt davon.

Laurie geht ins Haus, wo sie ihre Mutter in der Küche antrifft. Sie liest die Post durch, neben ihr flackert ein kleiner Bildschirm, die Nachrichten werden übertragen. Man berichtet vom Leichenfund in der Villa des berühmten Countrystars. Der Sprecher erwähnt, dass es noch keine neuen Erkenntnisse zur Leiche gebe und dass der Star glücklicherweise überlebt habe und an der Bozeman High als Lehrer angestellt sei.

Laurie schnappt sich ein Glas Orangensaft und setzt sich neben ihre Mutter. Sie verfolgt die Nachrichten. "Aber das könnte auch falsch sein, Mom."

"Was meinst du?" Claire legt die Papiere weg und widmet sich dem Gespräch mit ihrer Tochter.

"McFinley hat mich heute in der Schule angesehen. Es war, als könne er durch mich hindurchsehen. Mir wurde kalt. Ich denke, er ist der Grund, weshalb ihr mir etwas verschweigt, Loupine und du."

Claire sagt vorerst nichts. Sie blickt ihre Tochter traurig an. "Laurie, Schatz, ich kann es dir nicht erzählen. Ich weiß, du möchtest alles über deine eigene Geschichte wissen. Aber du musst mir vertrauen. Es ist sicherer für dich, wenn du einige Dinge noch nicht weißt. Loupine und ich kümmern uns darum und wir garantieren für deine Sicherheit."

"Das fällt mir schwer, Mom. Aber ich versuche es. Wird es jemals enden?"

"Ja, Laurie, das wird es. Ich verspreche es dir."

***

Chu Pheng hat sich für den Bass entschieden. Sie will nicht als letzte in der Bandprobe erscheinen und ist deshalb einige Minuten zu früh in der Schule. Abends sind die meisten Räume unbeleuchtet und leer. In wenigen Schulzimmern werden Abendkurse angeboten, ein einem Zimmer arbeiten noch die Schüler der Detention; sie werden erst nach sechs Uhr gehen dürfen.

Chu trägt ihren Gitarrenkoffer durch den diffus beleuchteten Gang, vorbei an den blechernen Schränken, wo sie ihre Sachen einschließen können. Aus dem Musikzimmer klingt bereits Countrymusik; Chu kennt das Stück, es ist ein Song von der neuen CD ihres Musiklehrers. Sie freut sich auf die Bandprobe. Mit ihr trifft auch die Saxophonistin Christine ein.

McFinley begrüßt sie freundlich und zeigt ihnen, wo sie ihre Instrumente hinstellen und einstecken können. Die Ausrüstung ist professionell, hier hat die Schule an nichts gespart, modernste Eventtechnik. Chu ist sehr erfreut, denn diesen Musikraum hat sie bisher nie gesehen. Es existierten andere Bands an der Schule, doch nie hatte es bisher einen Aufruf zum Mitmusizieren gegeben.

"Chu, könnten Sie mir bitte rasch helfen? Wir sollten noch zwei Teile des Schlagzeugs holen gehen."

"Aber natürlich, Professor, kein Problem." Die beiden verlassen den Proberaum, Christine übt bereits an den Melodien.

Mit etwas Verspätung treffen der Sänger, der Gitarrist und die Schlagzeugerin ein. Sie beginnen zu üben. "Wo sind Chu und McFinley?"

Christine kontrolliert ihre Uhr. "Sie wollten noch einige Dinge für das Schlagzeug holen gehen; aber sie sind nun bereits eine Viertelstunde weg."

"Was wollten sie denn noch holen gehen?", erkundigt sich die Schlagzeugerin. "Es ist doch alles da!" Sie zeigt auf ihre Drums und hebt die Arme. Von Chu und McFinley fehlt jede Spur.

***

Laurie und Kevin schlendern zu Fuß zum Kino. Sie haben sich einen Burger geholt, den sie unterwegs essen. Laurie fühlt sich wohl, sie plaudert wie ein Wasserfall. "Was meinst du? Ob Chu auch ein Bass-Solo wird spielen können? Ich freue mich sehr auf ihren ersten Auftritt."

"Ich mich auch. Ich bin sehr gespannt, welche Art Musik sie spielen werden. Country hatten wir bisher noch nicht."

Sie erreichen das Kino, in welchem an diesem Abend vier Filme gespielt werden. "Auf Barbie habe ich echt keine Lust, sorry."

"Schon gut, Kev, ich auch nicht. Was meinst du zu dem alten Streifen hier?" Im kleinsten Saal wird in der Regel ein Klassiker oder ein spezieller Film, abseits vom Mainstream gezeigt. "The Mothman Prophecies" mit Richard Gere; den kenne ich nicht, aber wenn Gere mitspielt, sollte das etwas sein."

"Gut, nichts wie rein!" Kevin kauft die Tickets und einen großen Kübel mit Popcorn und zwei Getränke. Sie setzen sich in den Saal, wählen einen bequemen Doppelsessel, lassen sich mit der Werbung berieseln. Laurie amüsiert sich prächtig über die einfältigen Werbespots.

"Meinst du echt, es könnte möglich sein, uns hier im Kino mit versteckter Werbung zu beeinflussen, wie es McFinley gesagt hat?"

"Physikalisch ist es jedenfalls möglich. Wenn zwischen all den Bildern, die den Filmstreifen ergeben eines oder zwei eine Colaflasche zeigen, werden wir sie nicht sehen. Ein Bild würden wir gar nicht wahrnehmen; bei zwei oder drei Bildern hätten wir den Eindruck eines Kameraschnitts. Ob das das Unterbewusstsein genügend beeinflusst, um in der Pause Cola zu kaufen, weiß ich nicht."

"Und wie kann das digital funktionieren?"

"Laurie, du stellst Fragen. Weiß ich nicht, da müssen wir McFinley fragen." Schnell stopft sich Kevin einige Popcorn in den Mund. Der Film beginnt.

Schon nach wenigen Minuten wird es kühl im Saal, zumindest hat Laurie diesen Eindruck. Als Gere im Spital die Bilder seiner Frau betrachtet, die sie kurz vor ihrem Tod gezeichnet hat, fährt ein kalter Schauer durch das Mädchen; sie fasst Kevins Hand. Er dreht den Kopf und erschrickt. Laurie ist schweißnass und bleich.

"Laurie? Was ist mit dir? Sollen wir raus hier?"

"Nein - ich will das sehen. Aber er ist hier - oder es oder was es auch immer ist. Mir ist kalt, aber es geht schon wieder. Ich lerne."

"Du machst mir Angst, mein Schatz."

"Ich mir auch. Hast du einen Bleistift hier?"

"Nein, natürlich nicht. Ich bin im Kino, nicht an der Schule. In der Pause können wir am Kiosk fragen."

Laurie hat beschlossen, sich der Energie zu stellen und auf ihre Stärke zu vertrauen. Das Gespräch mit ihrer Mutter hat sie ermutigt.

In der Pause setzen sich Kevin und Laurie an einen kleinen Tisch mit zwei Sesseln; vom Mädchen am Kiosk, das sie aus der Schule kennen, haben sie einen Notizblock und einen Stift erhalten. Laurie zeichnet; schnell und wild. Schemenhaft entsteht eine Gestalt, die entfernte Verwandtschaft mit einem Wolf haben könnte, aber die auch an einen Drachen oder einen Vogel, auf jeden Fall an eine fliegende Kreatur erinnert. Das Gesicht ist nicht erkennbar. Am Rand schreibt sie wiederum fremde Zeichen. Sie betrachtet ihre Hand, führt diese sogar selbst, aber die Zeichen kommen ihr fremd vor.

Im zweiten Teil des Films hat Laurie rechts von Kevin hingesetzt, damit sie seine Hand mit ihrer Linken halten kann und die rechte frei für die Zeichnungen ist. Sie konzentriert sich auf den Film, die Hand zeichnet ab und zu weiter.

***

Chu folgt dem Musiklehrer in den Keller des Schulhauses. Als er sich an einem Regal zu schaffen macht, bleibt sie stehen. "Mister McFinley, ich dachte, wir holen Schlagzeuge - hier finden wir bestimmt keine solchen. Ich gehe mal wieder hoch. Sie machen mir Angst."

Blitzartig steht er wieder bei ihr, versperrt ihr den Weg. Seine Augen sind gelb, leuchten im diffusen Licht des Kellers bedrohlich. Chu hält sich die Hand vor den Mund, ihr Augen sind weit aufgerissen. Sie möchte schreien, doch sie kann es nicht. Als er sie am Arm packt, spürt Chu seine unmenschliche Kraft. Er zerrt sie zum Regal, das er mit der anderen Hand mühelos zur Seite schiebt.

Dahinter liegt eine Tür. McFinley öffnet diese mit einem eigenartigen Schlüssel. Es riecht muffig, nach Schwefel und Kohle. Chu ist wie gelähmt; den Flur, die Treppe, die Fackeln an den Wänden betrachtet sie mit einer eigenartigen Mischung aus Furcht und Faszination. Sprechen oder schreien kann sie nicht. Hinter ihnen schließt sich die Tür von allein. McFinley bleibt bei ihr. Er führt sie die Treppe hinab in eine gewaltige Höhle; dort wirft er sie in eine Nische, die mit Fellen ausgekleidet ist.

Chu gewinnt ihre Stimme zurück. "Wo sind wir hier? Wer sind sie?"

McFinley hat sich auf einen Felsen gesetzt. "Du hast Fragen, das ist klar. Immer der Reihe nach. Wo wir sind, riechst du. Schreien wird dir hier nichts bringen. Man wird uns nicht finden." Er hat sich beruhigt, seine Stimme wirkt sanft. Noch vor wenigen Minuten war er ein starkes Monster, bereit zu töten, nun ist er ein geknickter Mann, der müde wirkt.

"Was haben Sie mit mir vor? Wollen Sie mich töten?"

Er schnaubt nur. "Hätte ich das gewollt, gäbe es dich nicht mehr. Nein, ich werde dich nicht töten. Ich habe genug getötet für mein Leben; ich will nicht mehr töten."

Chu spürt eine Traurigkeit in seinen Worten, die sie nicht einordnen kann. Für einen Bösewicht, für ein Monster, wirkt er eigenartigerweise zu schwach. "Wer sind Sie? Lebt McFinley noch?"

Der Mann stützt sein Gesicht in die Hände und spricht lange nicht. Es scheint, als ob er weinte. Als er Chu wieder anblickt, hat sein Gesicht sanftere Züge. "Mein Name ist Suren Myagmar. Und du bist mein Lockvogel."

Chu begreift, dass die gefundene Leiche in der Villa wohl doch der berühmte Musiker gewesen ist. "Du suchst Loupine, oder?"

"Ich weiß nicht, wie sie sich nennen. Ich suche die Schwestern; die letzten Welpen einer sehr großen Familie. Du wirst mir dabei helfen, weil du eine Freundin von Luzie bist. Und nun schweige; du bleibst hier. Ich muss einige Male wieder weg. Es wird dir an nichts fehlen. Hinter dir findest du Nahrung und Wasser. Dein Telefon wird dir hier nicht helfen; es gibt keinen Empfang hier unten." Mit diesen Worten steht Suren auf und dreht sich zum Gehen weg. Chu hört die letzten gemurmelten Worte nur ganz leise: "Es tut mir leid ..."

***

Kevin und Laurie sitzen im Diner an der Mainstreet, Laurie mit einem Blueberry Muffin und Kevin mit einem großen Stück Cheesecake. Loupine und Claire haben sich zu ihnen gesetzt. Vor ihnen liegen die Zeichnungen auf dem Tisch.

"Und ihr seid tatsächlich in diesen Film gegangen?" Loupine lacht. "The Golden Child, das wäre auch noch einer, den ich euch empfehlen könnte. Also ehrlich, ihr habt einen eigenartigen Filmgeschmack, ihr zwei!"

"Wir kannten den Streifen nicht, Richard Gere nahmen wir als eine Garantie für gute Unterhaltung, Tante." Laurie ärgert sich darüber, ausgelacht zu werden. "Erklärt uns lieber, was das hier alles bedeutet." Sie zeigt auf die Zeichen und auf die seltsame Tür, die sie im zweiten Teil des Films gezeichnet hat."

"Die Zeichen bedeuten wenig Gutes. Er weiß nun, wer du bist. Hier steht Tochter, das da bedeutet rein." Claire sieht traurig aus, als sie ihnen die Schriftzeichen deutet. "Loupine und ich hatten recht: Er will wohl zu dir, Laurie."

"Aber da muss er zuerst an uns zwei vorbei! Ihr wisst, das könnte hässlich enden; für ihn, meine ich." Loupine legt grinsend einen Arm um ihre Schwester und auch Kevin und Laurie müssen schmunzeln.

"Ja, wissen wir. Warum sucht er nach mir? Ich habe ihm nichts getan. Wer ist er? Wollt ihr es mir nicht endlich erzählen?"

Draußen vor dem Diner rasen drei Streifenwagen vorüber, die Sirenen lassen alle aufschrecken. Die Tür zum Diner wird aufgestoßen, einige Schüler der Bozeman High treten ein. Laurie erkennt Christine, die auch in der Band spielt. Sie steht auf und eilt zu der Gruppe, sie sucht Chu.

Als Laurie an den Tisch zurückkehrt, ist sie bleich. "Er hat Chu. Die Bandprobe hat nicht stattgefunden. Er ist mit Chu weg und kam nicht wieder. McFinley ist der Typ, den ihr sucht, Mom. Er hat Chu; sie hat ihm nichts getan."

"Beruhige dich, Laurie. Er wird ihr nichts tun, denn er sucht uns, er wartet auf dich. Es ist Zeit, den Spieß umzudrehen. Lasst uns heimgehen, ich möchte nicht hier darüber sprechen." Kevin verabschiedet sich; er versteht, dass er bei diesem Familiengespräch nicht anwesend sein kann.

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