3 - Flashback
Winter ist die härteste Jahreszeit für Lebewesen, die sich nicht in Höhlen verkriechen. Menschen haben irgendwann gelernt, sich eigene Höhlen zu bauen, was sie deutlich von den meisten anderen Tieren unterscheidet; vor allem, seit sie ihre Höhlen mit künstlichem Licht erhellen und ohne Feuer warm halten können.
Der Wolf kauert unter einer mächtigen Fichte. Er hat sich einschneien lassen. Schnee hält warm. Gedanken halten warm. Wieder denkt er an seine Familie und fragt sich, was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn ihr Leben normal hätte verlaufen dürfen. Er stellt sich seinen Sohn vor, wie er aufwächst; wie er lernt, Schafe zu züchten und die Wolle zu verarbeiten. Wahrscheinlich hätte er eine schöne Weberin gefunden und zusammen hätten sie viele Enkel hervorgebracht.
Die Erinnerungen wärmen sein Herz. Er denkt an die vielen Jahre, die er nun schon durch die Welt zieht. Einsam, auf der Jagd. "Ich werde dich und alle deine Nachkommen bis ans Ende der Welt jagen. Und wenn die Zeit gekommen ist, und wir uns endlich gegenüberstehen, dann werde ich dich über die Kante stoßen, so, wie du es mit meiner Familie gemacht hast." Er erinnert sich nicht mehr daran, wie viele Wölfe er schon getötet hat. Mit jedem Mal ist sein Durst nach Blut gewachsen. Das Verlangen nach Rache hat viele Jahrhunderte gedeihen können - es ist Zeit für die Ernte. Noch zweimal töten. Dann wird er den Segen erbitten.
Flackernde orange Lichter lassen ihn aus seinen Gedanken zurückkehren. Er duckt sich tiefer unter die Äste. Ein Schneeräumungstruck biegt auf den Parkplatz ein. Das zugeschneite Auto hat den Fahrer wohl neugierig gemacht. Der Truck schaufelt einen Weg bis zum Wagen, dann steigt der Fahrer aus. Er stapft zum Auto hin und stolpert. Als er sich fluchend aus dem Schnee erhebt, wird ein Bein sichtbar. Der Arbeiter übergibt sich an Ort und Stelle, dann rennt er zu seinem Truck und klettert ins Führerhaus.
"Nur ruhig bleiben. Sie werden mich hier nicht finden. Es ist gut, wenn sie abgelenkt sind. Menschen haben keinen Einfluss auf meinen Plan", beruhigt sich der Wolf selbst.
Der Trucker beginnt mit seiner Maschine den Platz freizuräumen. Einige Meter um das verschneite Auto lässt er bleiben, den Rest räumt er sauber frei. Nur wenig später werden Sirenen lauter. Zu den orangen Lichtern mischen sich blaue und rote dazu. Polizeifahrzeuge und Rettungswagen halten auf dem frisch geräumten Parkplatz. Der Zugang zur Straße wird abgesperrt. Männer mit Schaufeln legen die Überreste der Touristen frei.
***
Sheriff Mark J. Miles hat in seinem Leben schon viele Leichen bergen müssen. In letzter Zeit auch sehr übel zugerichtete. Er steht im Schnee neben einem Mietwagen, der mit Touristengepäck gefüllt ist. Neben dem Wagen liegen Überreste von Menschen, offenbar von den Touristen. Sheriff Miles flucht, als er sich die Leichen näher ansieht.
"Was denkst du, Sheriff? Ein Bär?"
"Wölfe. Oder ein Wolf."
Der Arzt schüttelt den Kopf. "Das waren unmöglich Wölfe, Mark. Sieht nach einer weit größeren Schnauze aus. Wenn wir in Kalifornien wären, würde ich sagen, es war ein Hai - aber hier in den Bergen sind die eher selten."
"Lass die dummen Sprüche! Du weißt genau, womit wir es hier zu tun haben. Das ist ein verdammtes Flashback!"
Der Arzt erhebt sich; blickt den Sheriff an. "Das wissen wir noch nicht, Mark. Ich werde die Leichen erst untersuchen müssen. Zugegeben, es sind Parallelen erkennbar, aber wir wissen es nicht. Es könnte ein hungriger Grizzly gewesen sein."
"Sie sind zurück."
"Du steigerst dich hier in etwas hinein. Ich sage dir was: Wir werden die Leichen mitnehmen und im Labor genauestens untersuchen. Danach kannst du deine Schlüsse ziehen. So machen wir das - wir sind Profis."
"Dann macht bitte schnell. Es ist Weihnachten, ich will hier nicht noch einmal eine solche Katastrophe erleben wie vor einem Jahr."
Der großgewachsene und starke Mann stampft wütend zu seinem Einsatzwagen zurück. Hinter dem Lenkrad bleibt er einen Moment sitzen. Werwölfe haben ihm schon einmal das Leben schwer gemacht. Er weiß nicht, ob er eine erneute Mordserie durch solche Bestien durchstehen wird. Seit er mit diesen Wesen zu tun gehabt hatte, liegt in seinem Wagen immer eine mit Silberpatronen geladene Flinte.
Bevor er wegfährt, erteilt er seinem Deputy den Befehl zu übernehmen. Danach braust er in Richtung Stadt davon.
***
Im Labor der Gerichtsmedizin werden die Leichen während der nächsten Tage untersucht. Die Blutproben werden mit jenen gesammelten Proben aus dem letzten Jahr abgeglichen. Fünfmal wird die Prozedur wiederholt; dann erst setzt sich der Arzt schwer atmend ans Telefon und bestellt den Sheriff ein.
"Tim, was hast du für mich?" Der Sheriff verliert keine Zeit mit Schutzkleidung und Überziehschuhen. Er platzt in den Untersuchungsraum und stellt sich neben den Behandlungstisch.
"Sheriff. Du hattest recht, Mark. Die Bisswunden stammen von einem Wolf. Aber der hier ist deutlich größer als alle, die wir bisher erlebt haben."
"Was sagst du da? Ein neuer Wolf?"
"Oder ein Rudel. Aber diese Wölfe hier sind groß wie Bisons. Das hier war niemals ein gewöhnlicher Wolf. Das war ein Monster."
"Hast du die Proben verglichen?"
"Ja."
"Und?" Sheriff Miles ahnt die Antwort.
"Es wird dir nicht gefallen."
"Loupine? Claire? Beide?"
"Es könnten beide gewesen sein. Wir haben schwach erkennbare Spuren einer Verwandtschaft festgestellt. Aber diese Spuren könnten auch deutlicher gewesen und vom Schnee verwischt worden sein."
"Warum jetzt? Wir haben eine Abmachung. Warum werden sie rückfällig?"
"Das, mein Freund, das ist deine Aufgabe. Ich kann dir nur sagen, dass es Spuren von ihrer DNA hier an den Leichen gibt. Die Schlüsse daraus musst du ziehen."
"Die Kleine?", fragt der Sheriff beunruhigt.
"Laurie? - Da sie verwandt ist, kann sie nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Aber ich halte das nicht für wahrscheinlich. Sie wäre in ihrem Alter niemals ein so gewaltiger Wolf. Ich tippe auf ein Männchen."
Sheriff Miles blickt den Arzt verwundert an. "Warum kommst du zu diesem Schluss?"
"Nun, seit wir hier diese Sache hatten, du weißt schon, ... nun, ich habe mich informiert. Ich habe sehr viele Bücher gelesen. Es sind faszinierende Wesen, die ..."
"Es sind Monster! Das sind sie. Und ich werde jetzt einige davon verhaften. Danke für deine Arbeit." Wütend verlässt er den Untersuchungsraum.
***
Laurie hat sich beruhigt und besucht die Schule wieder wir gewohnt. Zusammen mit ihren Freunden hat sie einige Details zu ihrer Zeichnung recherchiert, aber die drei sind zu keinem Resultat gelangt. Abgesehen von unzähligen esoterischen und religiös verschwörerischen Seiten konnten sie nichts Brauchbares entdecken.
"Du willst uns also nicht erzählen, was du von deiner Mom und Loupine erfahren hast?"
"Nein, Chu. Sie haben mich gebeten, es so lange niemandem zu sagen, bis sie Gewissheit haben. Daran halte ich mich."
"Es ist jetzt ja auch nie wieder vorgekommen", meldet sich Kevin. "Ich denke, wir sollten Weihnachten genießen und uns danach wieder damit befassen - wenn es dann noch aktuell ist."
"Für mich, mein Schatz", Laurie drückt ihm einen Kuss auf die Wange, "ist es immer aktuell. Mein Leben lang. Nun lasst uns in Geschichte gehen. Ich bin gespannt, was Tante Loupine uns heute Spannendes berichten will."
"Sie sagte was von Geschichte Russlands. Als ob das spannend werden könnte."
"Du weißt doch, Chu: Für Kevin sind alle Stunden bei meiner blonden Tante spannend - und für uns wegen des Inhaltes auch." Die Mädchen lachen, Kevin rollt mit den Augen. Sie schnappen ihre Taschen und schlendern durch die Gänge.
Vor dem Geschichtszimmer stehen zwei Polizisten. Die Schüler müssen draußen warten. Als die Türe sich öffnet, wird Loupine vom Sheriff und einem Polizisten in Handschellen abgeführt. Laurie stürmt vor, wird aber von einem sehr kräftigen Polizisten zurückgehalten.
"Loupine? Tante Loupine? Was ist los?", schreit sie.
Der Sheriff erlaubt Loupine zu antworten.
"Keine Angst Laurie, keine Angst, meine lieben Schülerinnen und Schüler - das ist bestimmt nur eine Verwechslung. Sie werden das schon rausfinden, wir werden uns bald wiedersehen. Habt keine Angst."
Dann wird sie abgeführt. Laurie schnappt sich ihr Telefon und wählt die Nummer ihrer Mutter. Der Anschluss ist besetzt oder ausgeschaltet.
"Leute, ich muss nachhause. Schnell."
"Schon wieder?", protestiert Chu.
"Geschichte fällt eh aus. Ihr bleibt hier, aber ich muss zu meinen Eltern."
***
Zuhause trifft Laurie auf ihren Vater. Er schließt sie sofort in seine Arme.
"Wo ist Mom?"
"Sie haben sie mitgenommen."
"Warum, Dad? Was ist geschehen?"
"Man hat in den Bergen zwei Leichen gefunden. Der Sheriff sagt, die Spuren seien eindeutig."
"Aber das kann nicht sein. Sie haben nichts getan."
"Das weiß ich auch, Laurie. Aber das müssen wir nun beweisen."
"Können wir das?" Laurie blickt ihren Vater unsicher an.
"Wir versuchen es. Ich habe alle meine Spezialisten darauf angesetzt. Ich hoffe auf schnelle Resultate. Hoffentlich haben sie für die Tatzeit ein Alibi, dann wären sie schnell wieder frei."
Später fährt der Sheriff vor das Haus. Daniel Jones bittet ihn herein.
"Also, Mark, was hast du gegen meine Frau und meine Schwägerin in der Hand?"
"Es tut mir aufrichtig leid, Daniel, aber die Spuren haben ihre DNA einwandfrei belegt."
"Das kann nicht sein; und das weißt du. Ihr habt einen Deal."
"Ja, den haben wir. Loupine werden die Straftaten vom letzten Jahr erlassen, wenn sie sich ruhig verhält und uns in schwierigen Situationen hilft. Das gleiche gilt für Claire. Ich befürchte jedoch, mindestens eine von ihnen hat sich nicht daran gehalten."
"Ich sage dir, du liegst falsch. Claire und Loupine sind Werwölfe, ja. Aber sie haben gelernt, sich zu kontrollieren. Sie können ihren Wolf im Zaum halten."
"Die Leichen, die wir gefunden haben, sprechen eine andere Sprache. Glaube mir, Daniel, mir tut es auch leid. Aber ich kann da nichts machen."
Die beiden Männer haben sich in der Küche hingesetzt. Daniel serviert Kaffee.
"Danke, das ist nett von dir."
"Schon gut. Kannst du nicht wenigstens sagen, wie deutlich die Spuren waren, die ihr gefunden habt?"
"Ich darf es dir nicht sagen, das weißt du. Nur weil wir Freunde sind, sage ich dir im Vertrauen: Die Spuren waren schwach."
"Dann könnte es also auch ein anderer Wolf, der mit ihnen verwandt ist, gewesen sein?"
"Leider ja." Miles nimmt einen Schluck Kaffee. An der Ecke steht Laurie mit weit aufgerissenen Augen und starrt den Sheriff an, dann rennt sie weg.
Daniel springt auf, "Laurie! Warte!" Er bleibt jedoch bei der Wand stehen und blickt den Sheriff an.
"Das kann nicht dein Ernst sein. Du denkst, meine Tochter könnte es gewesen sein.?"
"Ich muss jeder Spur nachgehen. Mein Arzt sagt, die Spuren seien zu gross für ein Jungtier. Nur deshalb haben wir deine Tochter noch nicht festgenommen. Es tut mir aufrichtig leid, Daniel. Vor allem in Anbetracht der bevorstehenden Feiertage ..."
"Du solltest nun gehen, Mark. Bitte unternimm alles, was in deiner Macht steht, um Claire und Loupine zu helfen. Versprich mir das."
"Ich versuche es, Daniel. Danke für den Kaffee." Der Sheriff verlässt das Haus.
Daniel Jones rennt zu seiner Tochter, die er weinend auf dem Bett vorfindet.
"Ich war es nicht, Dad! Und Loupine und Mom auch nicht."
"Das weiß ich doch, mein Schatz. Ich werde alle Unterlagen anfordern und dann werde ich dem Sheriff helfen, die Wahrheit zu finden.
***
Gegenüber dem Garten hat ein unauffälliger Mietwagen geparkt. Ein Mann beobachtet das Haus; er sieht den Sheriff wegfahren und folgt ihm.
"Sieh an, ich suche eine Frau, das ist spannend. Ich werde das hier noch etwas beobachten müssen, vielleicht habe ich Glück und der zweite Wolf ist auch hier." Sie erreichen das Revier.
Der Mann steigt aus seinem Wagen, hängt sich eine Fotokamera und einen Presseausweis um und stapft in Richtung Polizeirevier.
"Guten Tag, was kann ich für Sie tun?" Die junge Polizistin am Empfang begrüßt den Mann freundlich.
"Guten Tag. Mein Name ist Miller, ich bin von der Presse und berichte über die Leichen, die man in den Bergen gefunden hat. Können Sie mir darüber Auskunft geben?"
"Sie wissen genau, dass Sie das nicht dürfen, Miller. Morgen gibt es eine Pressekonferenz. Bis dahin haben Sie zu warten", donnert die Stimme des Sheriffs durch die Halle. "Und nun raus hier!"
"Für wann ist die Pressekonferenz angesagt?"
"Raus hier, zum Teufel nochmal!" Der Sheriff steht auf, der Mann verschwindet.
"Das ist doch nicht zu fassen. Woher die immer wissen, was passiert ist, bleibt mir ein Rätsel."
Weiter hinten im Gebäude, dort wo die Untersuchungsgefangenen untergebracht werden, befinden sich Loupine und Claire in getrennten Zellen. Zwischen ihnen ist eine Zelle leer, aber weil es sich um offene Gitterzellen handelt, können sie miteinander sprechen.
"Warst du es?", fragt Claire direkt.
"Nein. Du?" Loupines Augen funkeln.
"Nein. Denkst du, es könnte Laurie gewesen sein?"
"Niemals. Das hätten wir - also vor allem du - gespürt. Nein. Ich denke, es hat mit der Zeichnung zu tun."
"Du hast ihn auch erkannt, nehme ich an."
"Ja. Das ist so lange her. Das kann nicht sein."
"Wir beide wissen, dass es das sehr wohl sein kann. Wann hattest du den letzten Kontakt zu jemandem aus der Familie außer mir?"
Loupine überlegt. "Vor fünfzig Jahren vielleicht? In den Siebzigern? Ich war da irgendwo in Europa mit einigen schrägen Typen zusammen, sie nannten sich die RAF und haben mächtig Staub aufgewirbelt. Mir wurde das zu gefährlich. Aber bei diesen Typen, da war ein Cousin von uns dabei. - Du?"
"Bei mir war es in Afrika. Damals war ein Bürgerkrieg in Burundi. Ich traf auf zwei Cousinen und einen Onkel. Seither nichts mehr."
"Findest du es nicht komisch, dass wir nie mehr jemanden von ihnen getroffen haben?"
"Bei mir nicht", erklärt Claire. "Als ich mit Daniel zusammenkam und wir dann Laurie hatten, habe ich mich von meiner Herkunft distanziert; so gut es ging."
Loupine lacht müde. "Bis ich wieder aufgetaucht bin."
"Bis du wieder aufgetaucht bist, genau. - Denkst du, es hat mit uns zu tun, was hier geschieht?"
"Ich weiß es nicht, Claire. Aber die Zeichen, die Laurie gekritzelt hat, deuten darauf hin. Und das Portrait auch."
"Vater ist tot", sagt Claire leise.
"Bist du dir da ganz sicher?"
"Ja. Ich habe ihn sterben sehen."
"Das hast du mir nie erzählt. Wann war das?" Loupine hat sich näher an die Gitterstäbe gesetzt, damit sie ihre Schwester besser verstehen kann.
"Lange bevor ich nach Amerika ging. Das war in Lappland, Nordeuropa. Ein anderer, stärkerer Wolf hat ihn gerissen. Ich habe nie zuvor so ein mächtiges Tier gesehen. Er muss sehr alt gewesen sein."
"Wie Vater."
"Wie Vater."
"Wir müssen hier raus, Claire. Wir müssen Laurie und deinen Mann beschützen."
"Ich weiß, Loupine. Aber das wird nicht einfach."
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