2 - Background

Laurie hat sich für den Rest des Tages entschuldigen lassen. Mit zittrigen Händen hat sie die Zeichnung in ihrer Tasche verstaut und sich danach von ihren Freunden verabschiedet. Auf dem Weg nach draußen kreuzt sie Loupine, welche auf dem Weg zur nächsten Vorlesung ist.

"Luzie! Du bist bleich! Was ist mit dir?"

Ohne etwas zu sagen sackt Laurie zusammen, Loupine fängt sie auf, schleppt sie ins Klassenzimmer. Die Tür schließt sie ab, nachdem sie Luzie auf den großen Tisch bei der Tafel gelegt hat. Sie streicht ihrer Nichte über das Gesicht und spürt die kalte Haut.

"Du bist kalt. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Wir sollten nachhause gehen; sofort."

Loupine greift nach dem Telefon und wählt die Nummer des Sekretariats. "Ja, hallo, Teresa? Ich bin's, Loupine. Meine Nichte ist krank; Kreislaufkollaps. Ich muss sie in die Notaufnahme fahren. Kannst du bitte meine Vertretung aufbieten? Vielen Dank. Ich muss sofort los. Danke für alles." Sie unterbricht die Verbindung ohne auf Antwort zu warten. Dann schließt sie die Tür auf. Einige Schüler stehen bereits wartend davor.

"Könnten Sie mir bitte helfen, Carl?", fragt sie einen Schüler des Sportteams.

Loupine trägt Laurie, Carl öffnet alle Türen und hält selbst die Tür des Wagens auf. Die Corvette, welche Loupine fährt, ist nicht die beste Option, einen bewusstlosen Menschen zu transportieren. Carl schmunzelt.

"Danke Carl. Sie haben was gut bei mir; vielleicht lasse ich Sie mal meinen Wagen fahren."

Er strahlt und winkt, als die violette Corvette vom Schulhof donnert.

Loupine fährt nicht zum Spital, sie fährt Laurie nachhause, in der Hoffnung, ihre Mutter Claire sei ebenfalls dort. Etwas schlingernd setzt sie die Corvette in die verschneite Auffahrt. Sie hat Glück, Claire arbeitet nicht, hat den Wagen kommen hören und steht bereits in der Tür. Als sie ihre Tochter sieht, eilt sie Loupine zur Hand.

"Was ist mit ihr?"

"Sie ist kalt. Zusammengebrochen. Mehr weiß ich noch nicht. Hallo, liebe Schwester."

Sie legen Laurie auf die Couch.

"Kalt, sagst du? Das ist nicht gut."

"Wem sagst du das? Hast du Kräuter?"

Claire rennt ins Bad und kommt mit einer Tüte voller getrockneter Kräuter zurück. In der Küche brüht sie Wasser auf, gibt einige Kräuter dazu und macht damit einen Aufguss.

"Sie erwacht", meldet sich Loupine aus dem Wohnzimmer.

Claire stellt den Tee auf den niederen Tisch neben der Couch. Dann fühlt sie Lauries Stirn und blickt ihre Schwester besorgt an. Loupine nickt.

"Laurie - kannst du uns hören?"

"Mom? Ja, bin ich zuhause?"

"Ja, Loupine hat dich hergebracht. Wir sind bei dir. Es wird alles wieder gut."

"Ich war plötzlich weg."

"Wird dir schon wärmer? Hier hast du Tee. Du solltest den trinken."

"Was ist das? Es riecht seltsam." Laurie hat sich halbwegs aufgesetzt und schnuppert am Tee.

"Kräuter. Sie tun dir gut", erklärt Loupine.

"Will ich wissen, welche Kräuter?"

"Im Moment noch nicht. Ich werde es dir später erklären", beruhigt sie ihre Mutter, während sie ihr hilft, sich aufzusetzen.

"Hast du geträumt, als du bewusstlos wurdest?"

"Nein Mom, kein Traum diesmal. Loupine, was ist mit mir? Ist das der Wolf?"

"Eher nicht, nein. Wenn der Wolf kommt, wird dir heiß. Du aber wurdest kalt. Das ist eine andere Energie."

Laurie trinkt den Tee und spürt mit jedem Schluck, dass ihr Körper wärmer wird; und das liegt nicht nur am heißen Wasser.

"Energie? Was für Energie. Ihr kennt sie?" Laurie blickt ihre Mutter und ihre Tante an. Beide nicken wortlos.

"Ja, Laurie. Wir kennen sie. Zu gut, leider."

"Darf ich es erfahren? Mom, ich habe Angst."

"Angst ist das Beste, was du momentan haben kannst. Sie schärft deine Sinne und stellt die Abwehrkräfte bereit."

"Laurie", wendet sich Loupine wieder an das Mädchen, "was geschah, bevor du zu mir kamst. Du ranntest bleich durch den Flur. Warum?"

"Ich wollte nachhause. Es war gruselig."

"Was war gruselig? - Laurie, erzähle uns alles. Wir können dir helfen."

"Hast du meine Tasche mitgebracht, Tante?"

"Ja. Warum?"

"Nimm bitte das Heft für Mathe aus der Tasche und lege es hier auf den Tisch."

Loupine holt die Tasche, findet das Notizheft und legt es neben die Teetasse. Laurie greift danach und öffnet es an der Stelle mit der Zeichnung. Sie bemerkt, dass sowohl ihre Mutter als auch ihre Tante erschrecken.

"Das hat meine Hand gezeichnet. Nicht ich - meine Hand. Ich hatte keine Kontrolle darüber. - Obwohl; das da stand noch nicht." Neben dem Pentagramm sind zackige Buchstaben erkennbar; 'LUZIE' steht geschrieben.

"Luzie", spricht sie ihren eigenen Namen laut aus. Im Kamin geht das Feuer an und ihr wird schlagartig wieder kalt.

"Du solltest dich nicht mehr so nennen, denke ich", bemerkt Loupine leise. Sie blickt auf das Feuer im Kamin.

"Mom! Helft mir! Was ist das?"

"Es ist Zeit, Claire. Willst du oder soll ich?" Loupine blickt ihre Schwester an. Claire hat Tränen in den Augen.

"Schon gut, Loupine. Ich kann das." Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und wendet sich ihrer Tochter zu.

"Diese Energie ist sehr alt, Laurie. Sie ist nicht von dieser Welt, zumindest nicht von dem Teil, den die Menschen sehen und spüren können. Die kalte Energie ist böse. Sie ist mächtig und beherrscht alle schlechten Charaktereigenschaften der Menschen. Sie steht für das Böse im Menschen."

"Du sprichst von Satan?" Das Feuer lodert kurz auf.

"Die Energie hat viele Namen, Laurie. Als du zur Welt kamst, waren wir nicht allein. Ich spürte es; und natürlich versuchte ich, es abzuwehren. Offenbar erfolglos, wie wir hier sehen können."

"Diese Energie steckt in vielen Wölfen; sie sind jene, welche als Monster den Menschen die Fantasien für ihre Filme und Bücher geben. Sie sind die Horrorgestalten, welche für unser schlechtes Image verantwortlich sind. Die Energie ist zudem der Grund dafür, dass auch wir altern und irgendwann sterben. Manchmal überhüpft sie eine Generation oder gar zwei. Claire und ich hofften, du wärst wie wir davon befreit."

"Wie lange werde ich Teenager sein?"

"Lange. Viel länger als alle deine Freunde. Du wirst sie aufwachsen sehen, du wirst ihre Kinder sehen und du wirst zusehen müssen, wie sie alt werden. Wir altern nur sehr langsam. Du bist noch blutjung, Laurie."

Laurie weint, Claire streicht ihr über den Kopf. "Damit haben wir alle zu kämpfen, mein Schatz. Deshalb ziehen viele von uns irgendwann weiter. Wir suchen uns einen neuen Ort mit neuen Freunden, damit wir die Liebgewonnenen in guter Erinnerung haben können."

"Werde ich jetzt ein Monster? - Das da auf der Zeichnung bin ich und daneben steht mein Name."

"Nein. Da steht dein Spitzname. Ich denke, wir haben noch Chancen." Loupine legt den Kopf leicht schief, als Claire diese Worte sagt.

Laurie zeigt auf die Zeichnung des Mannes in der Acht. "Kennt ihr den?"

Beide zögern einen Moment zu lange. Laurie begreift, dass sie ihr nicht die Wahrheit sagen werden.

"Nein. Aber manchmal erscheinen in solchen Zeichnungen, wir nennen sie Prophezeiungen, auch Menschen oder Wesen, die erst noch in unser Leben treten werden."

"Es gibt noch mehr solche Zeichnungen?"

"Hast du schon einmal Höhlenmalereien gesehen? Von den Natives, eventuell?"

Laurie nickt. "Ja, als wir in South Dakota waren. Dort haben wir in den Black-Hills solche Zeichnungen angesehen."

"Bei genauem Hingucken kann man dort teilweise ähnliche Formen und Figuren sehen, wie du sie hier auf Papier gemalt hast. Diese Energie begleitet die Menschen, seit es sie gibt. Die Menschen spüren sie; aber sie begreifen sie nicht. Deshalb erfanden sie stellvertretend einen Bösewicht und gaben ihm einen Namen."

"Was soll ich jetzt tun, Tante?"

"Nichts. Er hat sich dir gezeigt. Das war ein Fehler, denn so bist du vorbereitet. Dass nun gleichzeitig deine Mutter und ich informiert sind, ist gut für dich und schlecht für ihn. Wir werden dir helfen; wir werden das durchstehen - wir drei zusammen!"

***

Nach dem Unterricht treffen sich Chu und Kevin in der Bibliothek. Sie sollten Texte über Solarenergie lesen; eine Hausarbeit für Physik. Doch sie können sich nicht konzentrieren.

"Was hat das mit der Zeichnung auf sich?"

Kevin zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ihre Hand hat das allein gezeichnet? Sie hatte keine Kontrolle darüber?"

"Wenn ich es dir doch sage! Hörst du mir zu?", Chu rollt mit den Augen. "Sie hatte Panik. Die Hand zeichnete, sie raste über das Papier, selbst während Luzie und ich uns ansahen. Es war gruselig. Aber du hast davon natürlich nichts mitgekriegt."

"Schon gut, ich glaube es ja. Das sah wie ein Pentagramm aus, der Stern neben der Acht. Für mich sind das okkulte Zeichen." Kevin öffnet seinen Laptop.

Chu lacht. "Wir sind in einer Bibliothek - da wird es doch Bücher darüber geben! Ich frage mal." Sie steht auf und geht leise zur Aufsichtsperson.

Kevin hat sich unterdessen im Netzwerk eingeloggt und einen Browser geöffnet. Er tippt bereits fleissig Suchbegriffe ein, als Chu mit einem Zettel in der Hand an den Tisch zurückkehrt.

"Sie wollte wissen, für welches Fach wir das brauchen. Falls einer fragt: Wir forschen für Kulturgeschichte." Dann verschwindet sie zwischen den Bücherregalen.

Kevin ist in diverse Texte vertieft, als Chu fünf dicke Bücher neben ihm auf den Tisch knallt. Die Aufsichtsperson ermahnt sie zur Ruhe, Chu grinst und flüstert: "Hier, da haben wir alles, was wir brauchen."

"Hör mir zu: Hier steht, man habe ähnliche Dinge schon bei vielen Menschen beobachtet, aber es gebe keine wissenschaftlichen Untersuchungen über das Phänomen."

"Forsche besser zur Zahl 8. Hier habe ich ein Buch der Numerologie. Da stehen bestimmt spannende Dinge drin - aber mit dem Internet bist du unter Umständen schneller, als wenn ich mich durch diesen Schmöker wälzen muss."

"Die Acht steht für die Ewigkeit. Das macht Sinn, denn das Zeichen für unendlich ist eine quer liegende Acht - im weitesten Sinne."

"Ewigkeit? Meinst du vielleicht die Unsterblichkeit? Das ist etwas, das mich beschäftigt, seit wir wissen, dass Luzie ein Werwolf ist. Kevin, sie wird nicht älter werden. Wir hingegen schon. Sie wird noch auf dieser Erde sein, wenn selbst eure Kinderchen und deren Kinder längst tot sind. Hast du dir das schon überlegt?"

"Ich verdränge das. Wahrscheinlich müsste ich einmal mit ihrem Vater reden - so von Mann zu Mann. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll."

"Das kann ich verstehen. Aber hey, deine Freunde werden dich beneiden: Du hast eine ewig junge Frau. - Vorausgesetzt, du verbockst das nicht mit ihr."

Kevin schlägt seine Kollegin, was ihm einen warnenden Blick der Aufseherin beschert. Die beiden lachen und widmen sich wieder ihren Nachforschungen.

"Das bringt nichts, Chu. Je nachdem, welche Seite du gerade öffnest, findest du komplett unterschiedliche Deutungen der Acht. Mal steht sie für Stärke und Ausgeglichenheit, dann wieder für Perfektionismus und Kontrollzwang, von den okkulten Bedeutungen habe ich noch gar nicht geredet."

"Okay. Dann halt das Pentagramm. Das kennen wir aus der Geschichte - Ku Klux Klan. Das hat definitiv mit dem Teufel, der Ziege und den Hörnern zu tun." Chu öffnet ein Buch über Okkultismus.

"Oder es sind ganz einfach Zimtsterne zur Weihnachtszeit."

"Kevin! Willst du Luzie helfen oder nicht?"

"Ja doch. Aber ich versuche es auf eine weniger dramatische Art. Lass uns vernünftig vorgehen. Wir sind ihr keine Hilfe, wenn wir uns in irgendwelchen Aberglauben hineinsteigern. Wir sollten mit einem Neurologen sprechen. Vielleicht gibt es eine medizinische Erklärung für ihr Zucken."

"Zucken! Echt? Mit einem Wolf und zwei perfekt ausgearbeiteten Porträts? Kevin! Luzie ist keine sehr gute Zeichnerin, das weißt du. Wie also kann sie einen Stift so führen?"

"Ich weiß es nicht, Chu. Ich denke nur, wir sollten verschiedene Wege in Betracht ziehen, bevor wir uns auf eine Theorie versteifen."

"Gut, damit bin ich einverstanden. Ich leihe mir diese Bücher hier aus und lese zuhause weiter. Du forschst im Internet nach diesem Zeichnungsphänomen. Ich muss jetzt ist Training. Danach fahre ich noch schnell bei Luzie vorbei. Wir sehen uns morgen." Während sie spricht, packt sie die Bücher ein. Beim Verlassen der Bibliothek winkt sie Kevin kurz zu.

Auch er packt seine Sachen ein. Beim Rausgehen wird er von der Rektorin abgefangen. "Kevin. Hätten Sie eine Minute Zeit für mich?"

"Aber natürlich, Mrs. Haussmann." Er trottet ins Büro und setzt sich artig auf einen Stuhl.

"Sie haben Laurie Jones heute begleitet?"

"Nein, Mrs. Haussmann. Ich war mit ihr zusammen in der Kantine. Da klagte sie auf einmal über seltsame Kopfschmerzen und Unwohlsein. Chu und ich stellten fest, dass Laurie bleich war."

"Chu Pheng?"

"Ja, Mam. Wir sind Freunde, alle drei."

"Was mag wohl die Kopfschmerzen ausgelöst haben?" Die Rektorin fixiert ihn mit ihrem Blick. Kevin fühlt sich unwohl.

"Da bin ich überfragt, Mam. Wir hatten zuvor eine anstrengende Mathematiklektion. Vielleicht hatte es damit zu tun."

"Laurie ist gut in Mathematik. Das glaube ich kaum. Seien Sie bitte ehrlich mit mir."

"Ich bin ehrlich", lügt Kevin. "Ich habe keine Ahnung.

"Nun gut, ich will Ihnen mal glauben. Und danach?"

"Laurie hat die Kantine verlassen. Sie hat uns gebeten, sie in den folgenden Lektionen zu entschuldigen. Sie wollte nachhause fahren. Ich hatte bis jetzt Unterricht und Hausaufgaben. Aber ich werde mich bei ihr melden und nachfragen, wie es ihr geht."

"Offenbar ist sie gut betreut worden. Ihre Tante hat sie begleitet. Das ist dann alles. Haben Sie vielen Dank, Kevin."

Er verlässt das Büro und bleibt erst draußen im Schnee stehen. Das war voll schräg, denkt er sich. Der Blick seiner Rektorin geht ihm dabei nicht aus dem Sinn. So kalte Augen hat er bisher noch nie gesehen. Kevin beschließt, auf dem Heimweg bei seiner Freundin vorbeizugehen.

Nur wenige Minuten später klingelt er bei der Familie Jones. Claire öffnet und bittet ihn ins Wohnzimmer.

Laurie sitzt bei einer Tasse Tee, neben ihr Loupine und anhand der dritten Tasse erkennt Kevin, wo Claire gesessen hat. Im Kamin brennt ein gemütliches Feuer. Er wählt den zweiten Sessel neben der Couch.

"Wie geht es dir?", fragt er vorsichtig.

"Besser, danke. Schön, dass du vorbeischaust."

"Du hast uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt; so schnell wie du weg warst."

"Sorry, das war keine Absicht. Ich habe mich selbst sehr erschrocken."

Auf dem Tisch liegt noch die offene Zeichnung. Kevin begreift schnell. "Ihr wisst also alle Bescheid?"

"Ja, das tun wir", antwortet Claire, "aber bevor du weiterfragst: Wir können dir keine Auskunft geben. Noch nicht."

"Chu und ich machen uns Sorgen", versucht er es trotzdem.

"Das ist lieb von euch, Kevin. Aber im Moment muss ich mich mit meiner Mutter und meiner Tante aussprechen. Ich werde es euch erzählen - versprochen." Laurie blickt ihren Freund traurig aber flehend an.

"Dann gehe ich mal Hausaufgaben machen. Es freut mich, dass es dir wieder besser geht. Ich informiere Chu - sie wollte nach dem Training noch vorbeischauen. Sehen wir uns morgen?"

"Ich hoffe es. Komm her ..." Laurie küsst ihn kurz und flüstert ein 'Danke'. Dann verlässt Kevin das Haus; er ist verwirrter als zuvor.

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