14 - Butterflies

Der Frühling hat den Schnee in die hohen Bergregionen zurückgedrängt. Touristen bevölkern die Stadt und die Giftshops wie emsige Bienen auf der Suche nach Nektar. Laurie und Kevin sitzen am See unweit der Stadt, etwas weiter hinten im Tal. Sie genießen die wärmende Sonne und ein Picknick. Die vergangenen Wochen waren hektisch, Kevin hatte viele Fragen, die Laurie nur bedingt beantworten konnte. Sie selbst hatte nicht alle Antworten auf ihre Fragen erhalten.

Die dunkle Macht ist offenbar vorläufig vertrieben. Nie hat Laurie mehr diese kalte Energie verspürt. Die Rektorin an der Schule ist verschwunden. Sheriff Miles hat herausgefunden, dass sie Frau vor etwas mehr als einem Jahr in Chicago an einem Verkehrsunfall verstorben war. Offensichtlich wurde diese Identität verwendet, um als Rektorin an der Schule wirken zu können. Zielperson war ursprünglich Kate; doch die Böse Macht hatte es von Beginn an auf Laurie abgesehen. Suren war nur ein Werkzeug.

Ein Minivan rollt heran und parkt unweit von ihnen; eine Familie mit vier Kindern sprudelt aus dem Fahrzeug, nimmt das Seeufer in Beschlag. Decken werden ausgebreitet, Körbe aufgestellt. Die älteste Tochter richtet die Boombox ein was schreckliche Musik das Zwitschern der Vögel und das Flattern der Schmetterlinge übertönt. Laurie und Kevin verdrehen die Augen; sie steht auf und täuscht vor, auf die Toilette zu müssen. Er bleibt auf der Decke sitzen.

Die Familie hat den ruhigen Ort für sich in Anspruch genommen. Gleich neben der Familie sitzt Kevin, offenbar einfach ein Junge, allein auf einer Picknickdecke; er scheint die Wärme und den Ausblick zu genießen. Die älteste Tochter der Touristen neckt ihn und setzt sich keck in sein Blickfeld. Sie will sein Interesse wecken, der Familienausflug scheint perfekt zu sein. Doch auf einmal schreit ihre Mutter auf, das Mädchen schaut in ihre Richtung, erblickt den Wolf, der sich langsam, aber knurrend nähert.

Er kam aus dem Nichts, schlich sich leise aus dem Wald an. Vermutlich wurde er von den Sandwiches und den vielen Esswaren angelockt, welche die Familie ausgebreitet hat. Sie wissen nicht, dass man sein Essen in der Natur nicht offen herumliegen lassen sollte; für sie ist die Welt ein erweitertes Wohnzimmer, die Natur eine Unterhaltung, die man ein- und ausschalten kann. Der Wolf zeigt seine Zähne; knurrend fixiert er die Touristen, vor allem die älteste Tochter, welche noch immer in der Nähe von Kevin sitzt.

In Windeseile packt die verängstigte Familie ihre Sachen zusammen. Kinder werden angeschnallt, alle klettern den Van, der kurz darauf mit aufheulendem Motor davonbraust. Der Wolf hat sich unterdessen gemütlich neben den Jungen gelegt und lässt sich streicheln. Wenige Minuten nachdem das Auto verschwunden ist, liegt Laurie lachend neben Kevin, der ihr durch die Haare streicht. "Ich liebe es, Wolf zu sein!"

"Es hat durchaus seine Vorzüge, da gebe ich dir recht. Solche Touristen haben keinen Sinn für die Schönheiten der Natur. Sie beschweren sich, wenn es im Wald keinen Empfang für ihre Mobilgeräte gibt."

Laurie schmunzelt, dann wechselt sie das Thema. "Morgen müssen wir wieder zur Schule. Spring break ist vorbei. Ach, Kevin, meinst du, wir haben einmal eine normale Saison? Loupine ist unsere neue Rektorin - das klingt jetzt schon nach Ärger."

"Was heißt schon normal, Laurie? Das vorhin, mit den netten Leutchen, war auch nicht normal, oder? Ich meine - du hast sie vertrieben."

"Für mich war das ziemlich normal, doch. Touristen erschrecken ist immer noch besser als Touristen fressen. Und was heißt hier nett? Das Töchterchen hat dir wohl gefallen? Die hätte ich bestimmt gefressen."

Kevin lacht. "Ja, das bestimmt, meine eifersüchtige Freundin kennt da gar nichts! Oh, Mann, ich werde mich erst daran gewöhnen müssen. Bisher war das nur eine Möglichkeit. Loupine und deine Mutter waren die Wölfe, du nur so eine Art Verwandtschaft. Was meinst du - werden unsere Kinder einmal auch Wölfe sein?"

Familie, Kinder - das alles scheint so unglaublich weit weg zu sein. Laurie weiß nicht, wie sie auf diese Frage reagieren soll. Sie küsst ihn zur Antwort. "Keine Ahnung, aber danke, dass du so denkst." Für sie ist die Zukunft sehr neblig, unfassbar.

"Hast du mit deiner Mutter gesprochen, und mit Loupine?" Kevin zeigt sich besorgt, doch gleichzeitig nimmt er Anteil, was Laurie freut. Er kümmert sich darum, was aus ihnen beiden werden soll.

"Ja, das habe ich. Da ich Suren getötet habe, sind wir nun offiziell die letzten unserer Familie, die noch leben. Mein Großvater wurde von einigen hundert Jahren getötet, von meiner Großmutter kennt man das Todesdatum und den Ort nicht, aber sie lebt bestimmt auch nicht mehr. Also gibt es nur noch uns drei."

"Dann ist ja alles in bester Ordnung. Ich denke, um auf deine Frage zurückzukommen, es wird ein ruhiges Jahr geben. Loupine ist brav geworden, der böse Rächer ist tot und Luzifer hast du in die Hölle gejagt - das war ziemlich eindrücklich, nebenbei gesagt. Du warst unglaublich mutig, Laurie."

"Mit Mut hat das wenig zu tun. Ich wusste in diesem Moment nicht, was ich tat. Es ist einfach geschehen. Wahrscheinlich hätte er mich vernichten können. Ich war selbst überrascht, wie erfolgreich und wie stark ich war. Die Strähne wird mich immer daran erinnern."

"Sie steht dir gut, diese Strähne." Kevin streicht mit der Hand darüber, die beiden küssen sich.

Einige hundert Meter hinter ihnen tritt ein Wolf aus dem Wald, angelockt durch den Geruch eines Artgenossen, er duckt sich und schaut scheu in die Runde. Als er die zwei Menschen erblickt, bleibt er einige Sekunden reglos stehen, dann dreht er sich weg und huscht zurück in den Wald; bevor er zwischen den Bäumen verschwindet, dreht er noch einmal den Kopf und beobachtet die jungen Menschen am See.

***

Loupine hat Claire zu sich ins Büro eingeladen. Das Rektoratsbüro ist frisch gestrichen, eine Wand in Purple. Ein lebensgroßes Portrait dreier Wölfe ziert die Wand, gleich hinter dem Schreibtisch. Zwei erwachsene Tiere mit einem Welpen liegen zufrieden unter einem Baum in der verschneiten Landschaft. Der junge Wolf hat einen grauen Streifen quer über das Kopffell. Die Schwestern stehen vor der Wand.

"Du magst es theatralisch, das muss man dir lassen." Claire betrachtet das Gemälde und nickt zustimmend. "Wieso bist du größer dargestellt als ich?"

"Ist das eine ernsthafte Frage? Weil ich es bin, liebe Claire; ich bin größer als du." Loupine lacht ihre Schwester etwas aus. Claire stemmt die Hände auf die Hüften.

"Laurie ist gut getroffen. Ein tolles Familienbild." Claire schießt mit ihrem Mobiltelefon ein Foto davon. "Du lebst gerne hier in der Gegend, habe ich recht?"

"Mhm, ja, es gefällt mir in Bozeman. Noch mehr aber gefällt mir dieser Job hier. Rektorin an meiner eigenen Schule. Nie wieder wird es Verbrechen geben an der Bozeman High. Nicht, solange ich hier bin. Der Sheriff hat mir zu dieser Haltung gratuliert."

"Dann solltest du aber deine Schüler in Ruhe lassen. Nicht fressen, hörst du? Keine Toten mehr!" Claire setzt sich lachend auf einen Stuhl.

"Ich doch nicht! Nur einschüchtern bis sie sich einnässen. Niederknurren." Loupine hebt entschuldigend die Arme hoch und setzt sich ebenfalls. "Meinst du, wir haben nun etwas Ruhe? Luzifer werden wir nicht für immer vertrieben haben. Das Böse ist da; wir können es nicht vernichten."

"Das ist richtig, aber wir konnten ein zweites Mal gewinnen. Dank Laurie. Und sie hat ihren Wolf in einem guten Sinne entdeckt - was mich sehr glücklich macht."

Loupine lehnt sich zurück. Ihr Gesicht wirkt auf einmal traurig. "Wir werden irgendwann gehen müssen, wir drei. Wirst du dich von Danny trennen können, Claire?"

Nun wird auch die Schwester nachdenklich. "Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Wir sind eine so liebevolle, glückliche Familie. Er hat mir neulich erst die gleiche Frage gestellt, und ich konnte ihm keine Antwort darauf geben. Ich hoffe ganz einfach, dass wir noch viele Jahre gemeinsam haben. - Stell dir vor: Danny hat mich gebeten, ihn zu beißen, damit er den Wolf auch in sich haben könnte."

"Hm, das wäre vielleicht einen Versuch wert, oder?"

"Nein, niemals. Das könnte ich nicht tun. - Und unterstehe dich, Loupine! Du wirst es ganz bestimmt nicht tun! Ich verbiete es dir."

"Ich habe nichts gesagt." Loupine hebt die Arme. "Aber wir haben keine echte Familie mehr. Wir müssten für Nachwuchs sorgen; bei den Wölfen, meine ich."

"Dazu müssten wir einen echten Rüden finden; und du weißt, wie selten die geworden sind, seit Suren unsere Familie komplett ausgerottet hat. - Verwandte wären eh nicht zu gebrauchen."

"Es gibt die Alaska-Familie, erinnerst du dich? Mir ist nicht bekannt, dass wir mit ihnen verwandt wären. Vielleicht sollten wir Laurie mal nach Alaska in Urlaub schicken, Claire." Das Lächeln verrät mehr, als Loupine gesagt hat.

"Du bist unmöglich, Loupine. Laurie hat ihren Kevin und zusammen sind sie glücklich. Da werde ich sie bestimmt nicht mit einem fremden Wolf bekanntmachen. Warst du in der Gegend, als unser Vater damals weggegangen war? Weißt du, was unsere Mutter unternommen hat? Hast du jemals direkt von ihrem Tod gehört?"

Loupine blickt aus dem Fenster. "Viele Fragen. Nein, das habe ich nicht; ich war nicht da. Aber wenn Suren sagte, er hätte uns alle bis auf uns zwei erwischt, dann können wir davon ausgehen, dass es so ist. - Vielleicht sollte ich selbst mal nach Alaska fahren. - Apropos fahren: Folge mir nun bitte auf den Parkplatz, liebe Schwester!"

Claire verdreht die Augen; sie vermutet schon, was sie erwartet. "Loupine, schon wieder der Wagen? Du kannst es aufgeben - ich mag meinen Prius!"

Loupine bleibt angewurzelt stehen und dreht sich um. "Bist du irre? Niemand mag einen Prius! Hässlicher geht ja kaum. Ich habe das Ding nicht mal verkaufen können, obwohl ich es versucht habe. Ich musste draufzahlen, dass ein Mexikaner ihn nahm." Sie verlassen das Schulhaus und treten auf den Parkplatz. "Hier ist das, was meine Schwester fahren sollte!" Loupine zeigt auf einen knallgrünen Beetle Convertible. "Ist zwar auch Importware, aber immerhin mit Stil! Und, was sagst du?"

Claire strahlt. "Ich liebe ihn! Danke, Loupine, du bist ein Goldschatz!" Sie fällt ihrer Schwester um den Hals.

"Ich weiß! Das sagen die Jungs auch immer, bevor ich sie vernasche!"

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