1 - Blizzard
Es hat geschneit in Bozeman, Montana. Die Landschaft ist friedlich, das Leben hat sich verlangsamt. Die Temperatur steigt kaum je über den Gefrierpunkt und die Straßen bleiben weiß. Menschen, eingehüllt wie die Inuit im Norden Kanadas, schippen den Schnee, welcher von der Schneeräummaschine auf den Gehsteig geschüttet wurde, von dort weg und bilden mächtige Haufen, welche die Kinder anschließend jauchzend als Rutsche benutzen. Jeder freudige Kinderschrei stößt ein kleines Wölkchen der Freude in die trocken kalte Luft.
In vielen Vorgärten sind bereits die unzähligen kleinen Lämpchen der Lichterketten eingeschaltet. Die meisten von ihnen glitzern in einem warmen Weiß, was der Stadt in eine Art Zauberwald verwandelt. Im Zentrum hat man einen Platz hergerichtet, wo der Weihnachtsbaum der Gemeinde steht, welcher mit einem kleinen Fest eingeschaltet werden soll; noch steht er dunkel da, wenn die Menschen ihre Abende an den Ständen mit Süßigkeiten oder allerlei anderen Leckereien verbringen, um miteinander zu plaudern und gemeinsam die ruhige Stimmung zu genießen.
Laurie Jones trifft sich mit ihren neuen Freunden Chu und Kevin. Seit sie vor einem Jahr nach Bozeman gezogen ist, sind die drei unzertrennlich. Einzelne Schüler der Bozeman High nennen sie "Die drei ???" - aber das trifft es bei weitem nicht, denn Chu und Luzie, wie Laurie sich selbst nennt, sind Mädchen aus Montana und die Protagonisten in diesen alten Büchern sind Jungs aus Kalifornien.
Luzie trägt eine dunkelrote Winterhose, dazu eine schwarze, dick gefütterte Jacke mit einem grauen Fell um die Kapuze. Auffallend groß prangt das Logo der Bozeman Icedogs auf ihrem Rücken. Luzie trägt es nicht, weil sie Eishockey besonders gut mag, sondern weil ihr das Logo gefällt. Der grimmige Husky erinnert sie an einen Wolf - und das findet sie witzig. Zudem haben Chu und Kevin ihr die Jacke geschenkt.
"Seid ihr bereit für die Weihnachtsbaum-Zeremonie?", fragt Chu und grinst über ihr ganzes Gesicht.
"Na klar! Dieses Jahr werden wir am lautesten singen!" Laurie stimmt ein Lied an und ihre Freunde setzen ein.
Kevin macht den Bass, Chu die tiefe Begleitung und Luzie singt die Melodie und Leadstimme von "Beboppin' Santa Claus", als sie, in dicke Jacken gehüllt, Richtung Stadtzentrum schlendern. Dann und an werfen sie Schneebälle auf die kleineren Kinder, welche mit dem gleichen Ziel unterwegs sind; sie freuen sich, wenn die Knirpse kreischend vor ihnen fliehen.
Luzie erinnert sich kurz an die grauenhaften Vorkommnisse des letzten Jahres; die Jagd nach den Vampiren und die schrecklichen Morde durch den Werwolf, der am Ende ihre Geschichtslehrerin war und sich dann sogar als ihre Tante entpuppte. Noch immer kann sie es nicht fassen, dass auch sie ein Werwolf sein soll; sie spürt nichts davon in sich.
Sie erinnert sich auch daran, wie sie noch vor einem Jahr als Gothic-Girl durch die Welt wandelte. Die Erlebnisse und die Tatsache, dass ihre Mutter eine Kämpferin und zudem ein Werwolf ist, haben sie zu einem Stilwandel gebracht. Heute kleidet sie sich gerne elegant und trägt ihre dunklen Haare offen.
Beim großen Christmas-Tree vor dem Rathaus hat sich die halbe Stadt versammelt. Der Bürgermeister hält seine Rede, erzählt von der wunderbaren Erholung, welche die Stadt seit letztem Jahr hat erleben dürfen und bittet die Menge, langsam den Countdown zu geben, bis die Beleuchtung eingeschaltet werden kann. Laurie hat nie verstanden, warum man aus dem Einschalten der Christbaumbeleuchtung ein derartiges Prozedere machen kann. Schalter ein und gut ist; Licht an. Aber nein, hier wird geredet und Politik gemacht. Wenigstens gibt es hinterher Zuckerwatte und Glühwein.
"Drei - zwei - eins - Bravo!" Die Menge jubelt, der Baum erstrahlt in bunten Lämpchen und breitet sein Licht auf die lachenden Gesichter der Bevölkerung. Chu und Kevin stimmen den Song an, Laurie setzt ein. Sofort verstummen die Menschen; die Freunde treten singend zum Baum. Einzelne Klatschlaute erklingen aus dem Publikum. Sie singen den Song zu Ende, die Menge applaudiert.
"Was für eine großartige Überraschung!", ruft der Bürgermeister. "Danke den jungen Sängerinnen und Sängern für diesen Beitrag! Lasst uns nun die Festlichkeiten beginnen! Frohe Feiertage euch allen!"
Kevin, Chu und Laurie schlendern zu den Ständen mit Süßigkeiten; Kevin legt seinen Arm um seine Freundin und sie lässt es gern geschehen. Bei den Süßwaren treffen sie auf Loupine Wolff, ihre Geschichtslehrerin.
"Schön gesungen, ihr drei. Gratuliere."
"Danke, Tantchen."
Loupine knurrt. "Du weißt, dass ich den Namen nicht mag, Kleine."
Luzie lacht nur. "Ja, das weiß ich. Du wirst dich daran gewöhnen müssen."
Chu und Kevin stehen lachend daneben.
"Loupine", fragt Kevin auf einmal, "wann denkst du, wird Luzie ihren Wolf erleben?"
"Das kommt ganz darauf an, in welcher Umgebung sie lebt. Wären wir in Sibirien oder irgendwo in den Weiten Kanadas, dann hätte sie sich wohl schon verwandelt. Aber hier, in der ruhigen Zivilisation kann das noch einige Monate oder Jahre dauern. Du wirst siebzehn, Luzie, richtig?"
"Ja, das stimmt. Wann hast du dich zum ersten Mal verwandelt?"
"Ich war in deinem Alter. Aber das ist viele Jahre her. Ich erinnere mich, dass mein Vater damals längere Zeit nicht bei uns war. Ich musste meine erste Verwandlung allein durchstehen."
"War es hart?", will Chu wissen.
"Du hast keine Vorstellung davon. - Aber keine Angst, Luzie. Ich werde bei dir sein; und deine Mutter bestimmt auch."
"Ich weiß nicht, ob ich mich darauf freuen soll oder ob ich Angst davor haben muss. Ich hoffe, dass in dem Moment niemand von euch in meiner Nähe ist - ich möchte niemanden verletzen."
Chu und Kevin blicken sie erschrocken an. "Ja, das wollen wir auch nicht", murmelt Kevin. Dann fasst er sie an der Schulter und küsst sie sanft.
"Ihr nervt", beschwert sich Chu, fasst Loupine am Arm und zieht sie weg. Luzie blickt ihnen amüsiert nach und freut sich darüber, dass Loupine für sie alle so etwas wie eine große Freundin ist. Kevin und Laurie stehen sich gegenüber; lächeln sich an.
"Ich würde dir nie wehtun, das weißt du." Sie küsst ihn.
"Ja, das weiß ich. Aber der Wolf in dir weiß es vielleicht noch nicht. Daher sollten wir vorsichtig sein und besser Zuckerwatte mit Lammgeschmack suchen."
Der Schlag, den sie ihm versetzt, trifft ihn unerwartet. "Du bist ein Idiot - manchmal." Sie trotten den anderen beiden nach.
***
Am nächsten Morgen fällt erneut Schnee. Die Schulbusse haben Mühe, sich durch den Wintersturm zu kämpfen. Die Straßen sind verstopft, Autos stehen quer und die Räumungsfahrzeuge kommen kaum voran. Viele Schüler erscheinen verspätet zum Unterricht.
Die Rektorin der Bozeman High eilt von einem Schulzimmer ins nächste und informiert die Lehrpersonen über die Busausfälle und Verspätungen. Luzie mag sie nicht; sie ist irgendwie kalt, zu distanziert und Luzie spürt ihre kalte Energie, weshalb sie lieber auf Abstand bleibt.
Ihre Klasse beginnt den Morgen mit Mathe, sie sitzt hinten und stützt den Kopf auf. Mathe bereitet ihr Schmerzen; nicht der Mathe wegen, die liebt sie im Grunde; sie hasst das Fach wegen des unfähigen Lehrers. Der Typ ist ein Chaot; er kann seinen Stoff nicht vermitteln. Die verdrehten Zahlen und falschen Formeln ergeben in Lauries Kopf keinen Sinn; dabei wäre alles sonnenklar, doch der Idiot sieht es nicht. Kevin muss ihr nach der Stunde jeweils kurz berichten, um was es gegangen war. Mit einer Hand kritzelt sie wirre Zeichen in ein Notizheft und täuscht damit Aufmerksamkeit vor.
Mit einem Mal hat sie den Stift nicht mehr unter Kontrolle. Ihre Hand gehört nicht länger ihr; sie ist bloß noch mit dem Arm verbunden. Immer wieder fährt die Hand in einer seltsam geformten Acht über das Blatt; die Kreise sind übergroß. Dann beginnt der Stift im oberen Kreis der Zahl ein Gesicht zu zeichnen. Erst sind es nur kleine Striche, scheinbar zufällig angeordnet, dann aber entsteht ein Gesicht. Es ist das Gesicht eines Mannes. Luzie erkennt ihn nicht, aber es ist mit deutlichen Details und Schattierungen versehen - ein kleines Kunstwerk. Sie starrt fasziniert auf die fremd wirkende Hand, lässt ihr freien Lauf. ✨
Im unteren Kreis bilden sich zwei Gesichter. Eines ist ein Wolf, das passt irgendwie, das andere ist vorerst noch undeutlich. Die Hand schwenkt neben die Acht. Ein Stern entsteht; es erinnert Luzie an Weihnachten - doch der Stern ist ein auf dem Kopf, auf einer Spitze stehendes Pentagramm; keine Weihnachten. Erschrocken will sie den Stift wegwerfen, doch die Hand zeichnet weiter; Luzie hat keine Kraft mehr. Im Zentrum des Pentagramms entsteht ein schemenhafter Kopf, undeutlich, schwarz.
Der Stift gleitet zurück zu den Gesichtern in der Acht. Luzie blickt erschrocken um sich, ihr wird heiß. Kevin hört aufmerksam dem Mathelehrer zu. Chu schaut fragend zu ihr herüber; Luzie verdreht die Augen und deutet auf ihre Hand, welche noch immer über das Blatt fährt. Chu hält sich die Hand vor den Mund, die Augen weit aufgerissen.
Plötzlich fällt die Hand schlaff auf das Notizheft; der Stift kollert zu Boden. Luzie starrt auf das Blatt und unterdrückt einen Schrei.
"Miss Jones? Können Sie meinen Ausführungen folgen?"
"Aber ja doch, Mister Chesterfield - es ist alles sehr logisch. Haben Sie vielen Dank."
"Können Sie mir erklären, was Sie so intensiv zeichnen?"
"Die Graphen zu Ihren Funktionen, Sir. Ich will mich vorbereiten." Laurie lügt ohne Emotionen. Sie schaut ihrem Mathelehrer in die Augen, eine Hand hat sie auf ihr Notizheft gelegt. Es ist seltsam kalt.
Damit scheint der Versager beruhigt zu sein. Er dreht sich wieder zur Tafel und leiert weiter.
In der darauffolgenden Pause hasten Laurie und Chu in die Kantine, ihre Taschen werfen sie auf einen Tisch. Sie haben sich einen Tisch in der Ecke ausgesucht, damit sie nicht von anderen gestört werden. Kevin stößt mit etwas Verspätung dazu.
"Was war das, Laurie?", fragt Chu ängstlich.
"Was war was?" Kevin hat nichts mitgekriegt. Chu rollt mit den Augen.
Unterdessen hat Laurie die Zeichnung aus ihrer Tasche gekramt. Das Heft ist immer noch kalt. "Das!", sagt sie nur. Dabei legt sie ihr Notizheft auf den Tisch. Ihre beiden Freunde betrachten das Kunstwerk. Luzie wird kalt.
"Luzie! Das da ... das ...", Chu deutet auf das zweite Gesicht in der Acht, das neben dem Wolf. Sie und Kevin blicken Luzie schockiert an.
"... das bin ich!" Luzie starrt auf ihre Zeichnung. Im unteren Kreis ist neben dem Wolf ein Mädchengesicht zu erkennen - es zeigt eindeutig Luzie.
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