Urd, Verdani und Skuld

Caja

„Eins, zwei, drei ..."
Langsam zählte Caja bis zehn, nutzte dabei die Sprache der Angelsachsen.

Magna, die Tochter ihrer Gastgeber, saß dabei neben ihr am Tisch, das Kinn auf die Handflächen gestützt und musterte ihre Schülerin mit leuchtenden Augen und einem breiten Grinsen im Gesicht.
Das breiteste, das Caja jemals gesehen hatte.

Als die Ältere endete, riss Magna jubelnd die Arme in die Höhe und sprang auf. „Du hast es geschafft! Sieh nur, wie schnell du lernst! Hab ich's nicht gesagt? Ha! Ja, das hab ich!"

Auch Caja war stolz über ihre Fortschritte, aber ihre Freude darüber schien die des kleinen Mädchen nicht im Entferntesten zu übertreffen.

Zwei Wochen waren vergangen, seit Charleen Caja im Wald aufgegriffen hatte.
Der Herr des Hauses war zunächst nicht erfreut über ihren neuen Gast gewesen, hatte sich dann aber doch schnell damit arrangiert, als er gesehen hatte wie kräftig Caja trotz ihrer Verletzungen anpacken konnte.

Am Morgen half sie Magnas Vater auf dem Feld, führte das Pferd und pflügte den Acker.
Zur Mittagszeit unterstützte sie Charleen in der Küche, schnippelte das Gemüse oder bereitete das Fleisch zu.
Und dann gab sie auf Magna Acht, während deren Mutter allein die Ziegen molk.
Während dieser Stunde machten sie häufig gemeinsam die Wäsche oder schrubbten die Böden und dabei lehrte Magna Caja die Sprache der Angelsachsen.

Auch wenn Caja es sehr genoss bei der kleinen Familie zu hausen, so war ihr auch bewusst, dass sie nicht ewig hierbleiben konnte.
Allein schon nicht wegen der vielen misstrauischen Blicke der anderen Bewohner, die sie an einem jeden Tag erntete.

Charleen hatte sie weismachen können, sie käme von einem Sklavenhändler und wäre geflohen, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand dahinter kam, wer sie wirklich war. Und ehe das geschah, musste sie verschwunden sein.

Ob Askwin überhaupt nach ihr suchte?
Jetzt, da sie mit den Angelsachen kommunizieren konnte, vielleicht sollte sie einfach aufbrechen und den Weg in die Wasserlande suchen.

Nachdenklich glitt ihr Blick aus dem kleinen Fenster, was Magna dazu brachte, ihre roten Augenbrauen anzuheben und ihre dürren Ärmchen in die Hüften zu stemmen. Das Mädchen brauchte dringend mehr zu essen, wenn es den kommenden Winter nicht verhungern wollte.
„Caja! Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe?", beschwerte sie sich und zog einen Schmollmund.

„Hm?" Angesprochene schenkte dem Kind wieder die Aufmerksamkeit. „Aber ja. Du sagtest, ich lerne schnell."

Magna rollte mit den Augen, schüttelte den Kopf. „Nicht das!" Sie seufzte und fasste Caja an den Arm, rüttelte daran. „Ich habe gefragt, ob du für immer bei uns bleibst. Ich meine ... Mama hat mir erzählt woher du stammst. Da draußen bist du nicht sicher, aber bei uns! Sieh nur, wie Vater dich hier willkommen heißt. Er schätzt deine Kraft wirklich sehr."

Hatte sie Cajas Gedanken etwa gehört, dass sie dies nun sagte?
Die Blonde sah die Hoffnung in den grünen Augen aufblitzen, die sie anstarrten.
Wie konnte sie Magna nur erklären, dass das nicht möglich war, ohne ihr das kleine Herz zu brechen?

Vorsichtig hob sie das Mädchen auf ihren Schoß. „Soll ich dir das Haar neu flechten?" Sie öffnete den Zopf, der bereits viel zu locker saß und nahm Magna das Kopftuch ab, das die feurigen Strähnen an ihrem Absatz bedeckt hielt.

„Lenk nicht ab!"

Kluges Kind', dachte Caja bei sich, während sie ihre Finger als Kamm benutzte, um das Chaos zu ordnen.
„Lass mich dir eine Geschichte erzählen."

Schwer seufzte Magna, faltete ihre Hände und bettete sie auf ihren dünnen Schenkeln. „Also gut ... aber dann beantwortest du mir meine Frage!"

Hartnäckig. Diese Eigenschaft konnte das Mädchen später weiterbringen, wenn es an ihr festhielt.

„Hast du schon einmal etwas von den Nornen gehört?" Caja legte einen gespenstischen Ton in ihre Stimme.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Was ist das?"

„Nicht was, sondern wer." Die Ältere schmunzelte. „Die Nornen sind die drei Schicksalsfrauen. Urd, Verdani und Skuld. Sie leben an den Wurzeln einer riesigen Esche, die man Yggdrasil, den Weltenbaum, nennt. Sie pflegen den Baum, halten ihn am Leben und sie sind für die Leben der Menschen verantwortlich. Sie helfen den Müttern bei der Geburt, legen dem Neugeborenen seine Lebensdauer in die Wiege und schmieden sein Schicksal."

„Sie entscheiden also darüber, was uns in unserer Zeit auf Erden widerfährt?", fragte Magna leise. „Mama hat immer gesagt, dass Gott darüber bestimmt."

Immer dieser Gott.
Caja kämpfte dagegen an, ihren weiteren Worten keine Gereiztheit zu verleihen.
„Die drei Schwestern sind es, die unsere Pfade festlegen. Es gab einen Jungen, der den Namen Helgi trug. Ihm schenkten die beiden älteren Ruhm und Glück, die dritte aber bestimmte, dass er seinen letzten Atemzug tun würde, sobald die Kerze neben der Wiege erlischt. Und so kam es auch. Sie entschieden auch darüber, dass Hamdir später seinen Bruder Erp erschlug und darüber, dass Fridleif einmal der Dänenkönig wird."

„Und all das ist passiert?" Nachdenklichkeit schwang in der kindlichen Stimme mit.

Caja legte Magna den ersten Zopf über die Schultern und begann mit dem zweiten. „All das ist passiert", wiederholte sie dabei die Worte ihrer Zuhörerin. „Sie haben auch das deine und das meine Schicksal gewoben."

„Was glaubst du, halten sie für mich bereit?" Neugierig.

„Ich weiß es nicht." Der Geruch der Seife, mit der das Mädchen sich das Haar gewaschen hatte, stieg Caja in die Nase. Lavendel und Honig. „Aber ich weiß, dass mein Schicksal nicht in diesem Dorf liegt."

Schwer atmete Magna auf, als sie den Sinn hinter dieser Erzählung begriff. Noch ehe Caja den zweiten Zopf ganz zu Ende geflochten hatte, wandte sie sich zu ihr um und machte damit das zur Hälfte vollendete Werk zunichte. Rote Wellen fielen ihr über die Schulter nach vorne, während ihre grünen Augen Cajas blaugraue fixierten.
„Du musst gehen", flüsterte sie verstehend. „Wohin werden dich die Nornen schicken?"

„In die Wasserlande. Dort werde ich erwartet, weißt du?" Sanft drehte Caja Magnas Kopf wieder nach vorne, startete einen neuen Versuch das rote Wirrwarr zu bändigen.

„Von wem? Etwa von einem Mann? Ich habe gehört, wie du in Mamas Gegenwart einmal einen Lord erwähnt hast."
So viele Fragen. Aber das war gut. Menschen, deren Wissensdurst niemals gestillt werden konnte, waren klug und lebten bekanntlich länger, weil sie sich nicht in waghalsige Aktionen stürzten.

Caja nickte. „Sir Seymour. Das ist sein Name."

„Liebst du ihn?"

Abrupt hielt die Ältere in ihrer Bewegung inne, aber nur für einen kurzen Moment, dann lachte sie und fuhr mit dem Flechten fort. „Aber nein. Er ..."
Wie sollte sie ihre Beziehung erklären, ohne ihre wahre Identität preiszugeben?
„Er ... ist mein Herr." Die wohl sinnigste Antwort wenn man bedachte, dass sie der Familie erzählt hatte, sie wäre einem Sklavenhändler entkommen.

„Und dorthin willst du zurück?!" Entsetzt wirbelte Magna erneut zu Caja herum, dieses Mal schaffte es die andere aber zuvor den Zopf zu Ende zu bringen. „Mama sagt, Sklavenhändler sind niemals gute Männer! Sie alle sind böse, haben kein Herz und keine Seele! Nein! Nein, das kannst du nicht ernst meinen! Das können die Nornen nicht ..."

„Die was?"
Charleen betrat das Zimmer, stellte zwei Eimer mit warmer Ziegenmilch ab und musterte ihre Tochter mit kritischem Blick.

„Die Nornen!", rief Magna aufgebracht. „Sie haben für Caja vorherbestimmt, dass sie zurück zu ihrem Herrn muss! Das soll ihr Schicksal sein, aber ich ..."

„Beruhige dich", fiel Charleen dem Mädchen ins Wort, richtete ihr Augenmerk anschließend auf Caja. „Du willst gehen? Dorthin? Dieser Lord muss wirklich ein guter Mann sein, wenn du freiwillig zu ihm zurückkehrst." Ruhe lag in ihrer Stimme und Verständnis in der Art, wie sie ihren Gast ansah.

Langsam nickte Caja. „Könnt ihr mir den Weg in die Wasserlande zeigen? Ich bin schon viel zu lange hier." Als sie Magnas traurigen Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie schnell hinzu: „Nicht dass ich es bereue, bei euch zu sein." Sie nahm die zierlichen Hände des Mädchens in ihre. „Im Gegenteil. Ich könnte nicht dankbarer für all das sein, was du mir beigebracht hast und dafür, dass ich bei euch essen und schlafen durfte."

Das Kind senkte den Blick auf ihre ineinander verschlungenen Finger. „Aber dein Schicksal liegt woanders."

„So ist es." Sanft legte Caja ihre Stirn an Magnas.

Kurz verharrten sie in dieser Position, ehe das kleine Mädchen von einem heftigen Zittern ergriffen wurde.
Caja hörte das Schluchzen, spürte wie Tränen, die nicht ihre eigenen waren, auf ihre Hände fielen.
Dann, noch ehe sie darauf reagieren konnte, riss Magna sich von ihr los, wischte sich den Rotz von der Nase und rief: „Das ist nicht fair!"
Mit polternden Schritten rannte sie aus dem Haus.

„Magna!" Caja sprang auf, wollte ihr zunächst nacheilen, entschied sich dann aber doch dagegen.
Schwer seufzend fuhr sie sich durch das Gesicht.

„Nimm es ihr nicht übel", durchbrach Charleen nach einer Minute die Stille, hob die schweren Eimer Ziegenmilch an und machte sich daran sie in kleinere Behältnisse umzugießen und sie dadurch zu rationieren.
Einen Teil davon würde sie später an die anderen Dorfbewohner verkaufen, den anderen würde die Familie selbst verbrauchen.

„Wie könnte ich?", fragte Caja leise und griff der Mutter unter die Arme.
Es brach ihr das Herz, Magna so verletzt zu haben. Das hatte sie nicht gewollt.

„Ich fürchte, sie hat in dir ihre verlorene Schwester zu sehen geglaubt und gedacht, Gott hätte sie ihr auf andere Weise zurückgebracht."

Caja schluckte. „Das ... das wusste ich nicht."

„Woher auch? Niemand in diesem Haus redet darüber. Zu tief sitzt der Schmerz." Charleens Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie streckte den Rücken durch, sobald die Arbeit getan war. Knochen knackten.

„Ihr Name war Faye. Sie war die ältere, hatte ebenso feuerrotes Haar und die gleichen ausdrucksstarken grünen Augen. Als im letzten Jahr der Winter kam, wurden wir alle krank. Faye traf es am schlimmsten." Charleens Unterlippe begann zu beben, als sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte.

„Ihr Hals war so geschwollen, dass sie nicht mehr richtig Luft bekam. Und schließlich starb sie in der Nacht ... erstickte, ohne dass es jemand von uns mitbekam."'

Caja wurde blass um die Nase, da sie wusste, wie grausam dieser Tod sein musste.
Immerhin hatte Gregory sie beinahe im Fluss ertränkt. Dieses Gefühl nicht atmen zu können, die Verzweiflung, die Panik und das anschließende Aufgeben. Wie die Lunge brannte, der Brustkorb eng wurde. Caja wollte es kein zweites Mal erleben.

„Magna ... sie hat ihre große Schwester so sehr geliebt, sich immer an ihr orientiert. Monatelang hat sie nicht gesprochen. Kein einziges Wort. Als sie wieder angefangen hat, war sie dennoch nicht mehr die selbe. Man hat ihr den Kummer stets angemerkt. Bis sie dich im Wald gefunden hat."

Alles in Caja verkrampfte sich.
Und nun ging sie einfach wieder ... sie fühlte sich schlecht.
„Es tut mir so leid", flüsterte sie.
Sie wünschte es wäre anders. Dass die Geschichte, die sie der Familie erzählt hatte wirklich stimmen würde. Dann hätte sie bleiben und Magna bei der Heilung ihrer Seele unterstützen können.
Aber das ging nicht. Sie musste zurück zu Askwin.

Unbewusst umklammerte sie den Bären an ihrem Hals. Als sie das glatte Holz unter ihren Fingern spürte, kam ihr eine Idee.

Sie nahm den Talisman ab, betrachtete ihn kurz, ehe sie wieder zu Charleen sah. „Ich werde mit ihr reden. Weißt du, wo ich sie finden kann?"

„Sie ist sicher hinter dem Haus bei den Ziegen." Ein dankbares Lächeln umspielte die Lippen der Älteren.

Zügig verließ Caja das Haus und suchte den Stall auf.
Der Geruch der Wiederkäuer stieg ihr in die Nase, gepaart mit dem von Heu.
Meckernd hoben fünf der Tiere ihre Köpfe, als sie Caja bemerkten, senkten sie aber ebenso schnell wieder, nachdem sie feststellten, dass keinerlei Gefahr von ihr ausging.

In einer hinteren Ecke hörte Caja Magna, wie sie mit jemandem redete.

Mit hochgezogenen Augenbrauen lief die Blonde in die Richtung und fand das Mädchen hockend vor, wie es das kleine Zicklein streichelte, das vor drei Tagen das Licht der Welt erblickt hatte.

Das Jungtier kaute auf einem Halm, während die dürren Finger Magnas sich in seinem weißbraun gescheckten Fell festkrallten. „Wieso müssen immer alle gehen?", schluchzte sie, die Augen gerötet vom Weinen.
„Du gehst nicht, habe ich recht Magnolia? Du wirst immer da bleiben ... ich lasse nicht zu, dass Papa dich irgendwann schlachtet, hörst du? Freunde trennt man nicht. Freunde beschützen sich."
In jedem der Worte hörte man den tiefverwurzelten Schmerz.

Langsam trat Caja näher an die Szenerie heran. Magnolia bemerkte sie zuerst, reckte ihr die Schnauze entgegen und gab ein leises Meckern von sich.

Erschrocken sah Magna auf und Wut begann sich auf ihren sonst so feinen Gesichtszügen abzuzeichnen. Sie ließ von der kleinen Ziege ab, ballte die Hände zu Fäusten und stand auf. „Was willst du hier?!", fauchte sie, das Zittern in ihrer Stimme weitestgehend unterdrückend. 
„Wolltest du nicht verschwinden?! Dann los! Verschwinde!"

„Magna ...", setzte Caja an, ging vor dem Mädchen in die Hocke und hielt ihr den Bären entgegen. „Ihr Name ist Mina."

„Und?!" Magna wischte sich den Rotz am Ärmel ab, bemühte sich den Zorn in ihrem Blick aufrechtzuerhalten.

„Ich kann nicht bleiben, aber Mina wird es. Ein guter Freund hat sie für mich gemacht. Sie hat mich lange beschützt und nun soll sie dich beschützen." Caja griff nach einer der kleinen Hände, öffnete die Faust und legte den Talisman hinein. „Auch soll sie ein Zeichen unserer Verbundenheit sein. Ich werde dich niemals vergessen, Magna. Du hast für immer einen Platz in meinem Herzen."

Stille breitete sich zwischen den beiden aus, die nur hin und wieder von den Geräuschen der Ziegen unterbrochen wurde.
Schweigsam betrachtete Magna den geschnitzten Bären, drehte ihn nach links und nach rechts, bevor sie aufsah.

Die Blicke der beiden Abschied-Nehmenden trafen sich, ehe Magna Caja um den Hals fiel. Heiße Tränen kullerten von ihren Wangen. „Werden wir uns irgendwann wiedersehen?"

Liebevoll strichen Cajas Finger dem Mädchen über den Rücken. „Wenn die Nornen es so wünschen ..."

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