Raubkatze

Caja

Der Geruch von gebratenem Vogelfleisch bahnte sich seinen Weg in ihre Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Askwin hatte ihr deutlich gemacht, dass sie nun ein Gast und keine Gefangene mehr war, also nahm sie sich auch das Recht heraus, sich frei zu bewegen.
Nun, zumindest beinahe frei, denn Adalar und zwei weitere Männer, deren Namen sie nicht kannte, folgten ihr auf Schritt und Tritt.

Neugierig schritt sie zwischen den vielen Zelten hindurch, musterte die fremden Gesichter, die ihre interessierten Blicke zumeist auf die gleiche Art und Weise erwiderten.
Andere waren voller Angst, wieder andere von Hass geprägt.

Es war ihr bewusst, dass nicht jeder der hier Anwesenden sie mit offenen Armen empfangen würde, doch das war ihr gleich.
Denn was sie auch wusste war, dass sie sicher war, so lange sie unter Askwins Schutz stand, wenngleich sie auch noch immer keine Ahnung hatte, welche Rolle ihm in diesem ganzen Gefüge eigentlich zuteil wurde.
War er das Oberhaupt - ein Jarl - so wie ihr Vater? Oder gar der König, von dem Munin ihr einst erzählt hatte?

Sie nahm sich vor ihn selbst danach zu fragen, immerhin schien er nun, wenn auch grobschlächtig, ihre Sprache zu beherrschen.
Wobei sie sich sicher war, dass er mit der Zeit lernen würde, die Worte akzentfreier zu formulieren, so schnell wie er lernte.

Sie folgte dem leckeren Geruch, der ihren Magen knurren ließ, fand schließlich seinen Ursprung bei einem Feuer, das die Mitte des Lagers markierte.
Einige Männer saßen um es herum, redeten miteinander und warteten geduldig darauf, bis das Mahl soweit war, um es zwischen all den Hungrigen aufzuteilen.

Als sie Caja bemerkten, verstummten sie zeitgleich, fixierten sie mit ihren Augen, hielten sie in ihren Blicken gefangen.
Auch wenn das Starren unangenehm auf ihrer Haut prickelte, ließ sich Caja davon nicht aus ihrer Ruhe bringen, suchte sich einfach einen freien Platz.
Adalar setzte sich neben sie, rutschte dabei ein paar Mal nervös auf dem Gesäß hin und her.

„Was hast du?", fragte sie ihn, zog damit nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich, da die anderen keines ihrer Worte verstanden. Natürlich störte sie das. Sie kamen sich in ihren eigenen Kreisen wie Fremde vor.
Aber Caja beherrschte die gemeine Zunge der Angelsachen nun einmal nicht und sie würde garantiert nicht schweigen, nur um das Wohlwollen der Landsmänner zu erhaschen. Entweder man akzeptierte sie, oder eben nicht.

„Du ... du solltest dich nicht so benehmen, als wärst du eine von uns", flüsterte der Mönch als hätte er Angst, die Soldaten könnten doch verstehen wovon sie redeten.

„Wieso nicht?" Caja wandte den Blick von ihm ab und richtete ihn lieber auf das federlose Tier, das an einem Spieß über dem knisternden Feuer steckte.
Ungeduldig funkelten ihre Augen dabei, solch großen Hunger hatte sie.
Das Trockenfleisch, das Gregory ihr gebracht hatte, hatte ihn nicht einmal ansatzweise stillen können.

„Weil du ... nun ... du bist eben keine von uns", stotterte Adalar und sah sich dabei unruhig um. Er glich einer Maus, die versuchte sich vor einer Katze zu verstecken.

„Aber ich bin euer Gast, das hat Askwin gesagt. Und einen Gast lässt man nicht im Zelt vereinsamen." Als der Vogel gedreht wurde, stieg ihr erneut der gute Geruch in die Nase. „Was ist das für ein Tier?"

„Ein Auerhahn. Schmeckt wie normales Huhn. Ist eben nur größer", antwortete ihr eine andere Person, die hinter ihr aufgetaucht war, ohne dass sie es mitbekommen hatte.

Als sie den Kopf zu eben dieser umwandte, erkannte sie Askwin, der sie mit einem friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht bedachte.
Er hatte sich seiner Rüstung entledigt, sie gegen ein einfaches schwarzes Leinenhemd und eine Hose in der gleichen Farbe eingetauscht.
Die dunklen Töne brachten seine Augen noch mehr zur Geltung, hoben die goldenen Nuancen in ihnen hervor.

Raubkatze.
Er wirkte alles andere als böswillig und doch schien da etwas in ihm zu schlummern, allezeit bereit hervorzubrechen.

„Ich habe ihn erlegt", verkündete er, nachdem sie ihm keine wörtliche Reaktion schenkte.

Was erhoffte er sich davon? Etwa ihre Bewunderung? Weil er einen Vogel erlegt hatte?
Eine ihrer Brauen schob sich nach oben. „Hast du schon mal einem Bären ein Messer durchs Herz gestoßen?"

Verwundert über ihre Frage, zogen sich die feinen Falten auf seiner Stirn zusammen. Einen Moment lang war sie sich unsicher, ob er verstanden hatte, was sie gesagt hatte, doch dann antwortete er ihr: „Nein."

„Dann erwarte von mir nicht, dass ich dich für deine Jagdkünste bestaune."
Es war ihr gleich, ob er sie aufgrund ihrer Worte als unhöflich einstufte, denn sie hatte nichts anderes gesprochen als die Wahrheit.
Echte Männer sprühten nicht so vor Stolz, nur weil sie einen wehrlosen Vogel erlegt hatten.
Wäre es ein Bär oder ein Wolf gewesen, der da über dem Feuer schmorte, dann ja. Dann hätte sie ihn vielleicht mit Bewunderung betrachtet.
Aber so?

Er kratzte sich etwas an den Bartstoppeln, ehe er Adalar deutete ihm Platz zu machen.
Der Mönch kam der Aufforderung nach, verflüchtigte sich mit einem: „Wir sehen uns später. Ich werde Pater Bernard unter die Arme greifen, solange ich hier nicht gebraucht werde."

Unsicher ob er dem Geistlichen nicht doch befehlen sollte, bei ihnen zu bleiben, sah Askwin ihm nach.
Vermutlich fürchtete er, sein Vokabular würde nicht ausreichen, um sich vernünftig mit Caja zu verständigen.
Doch er schluckte seine Befürchtungen hinunter, folgte dann ihrem Blick, hin zu dem Auerhahn, der beinahe fertig war.
Das Fleisch schimmerte in einem köstlichen Dunkelbraun.

„Ich will dir noch sagen, wie es weitergehen wird. Du hast zwar nicht danach gefragt, willst es aber sicher trotzdem wissen", meinte er mit fester Stimme.

Natürlich wollte sie das.
Ihre Augen wanderten zu ihm hinüber und musterten sein Seitenprofil. Er war schön. Auf eine andere Weise als die Männer ihres Volkes, aber dennoch gut aussehend. 
Sein Gesicht war nicht so kantig, der Bart niemals so lang gewesen und gepflegter und die Furchen des Alters erzählten nicht von so viel Schmerz.
Sie bildete sich sogar ein, ganz leichte Lachfältchen in seinen Mundwinkeln zu sehen.

„Der König wird dich empfangen, wenn wir in Wessex ankommen", redete er weiter, als sie ihm nicht antwortete.

Sie strich sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht, stellte dabei fest, dass ihr Haar sich noch nie so weich angefühlt hatte. Womit hatten sie sie gewaschen, während sie geschlafen hatte? Einfaches Flusswasser konnte es wohl kaum gewesen sein.

Dann ließ sie sich Askwins Worte durch den Kopf gehen, begriff, dass er somit nicht der mächtigste Mann in Angelland war, sondern einer von dessen Handlangern.
Einer, der aber höhergestellt sein musste, wenn er andere befehligen konnte, wie es ihm beliebte.

„Ich werde ihn darum bitten, dich mit mir in meine Heimat nehmen zu dürfen."

Bei dem Wort Heimat verkrampfte sich ihr Herz und es fiel ihr augenblicklich schwerer zu atmen.
Die Luft um sie herum schien mit einem Mal stickig und der zuvor als appetitlich wahrgenommene Geruch des Vogels drehte ihr den Magen um.
Sie wollte nicht in seine Heimat. Sie wollte in ihre.

Ihr Vater musste mittlerweile schon wieder dort angekommen sein. Wie ihre Mutter wohl reagiert hatte? Sicher hatte sie geweint, hatte ihn geschlagen, ihn an die Seite Hels gewünscht.
Doch traf ihn wirklich derlei Schuld?
Hatte er sie nicht zurückgelassen, um ihr Leben zu retten?
Wäre er dem Handel nicht nachgekommen, dann hätten die Angelsachen ihr sicherlich längst den Kopf von den Schultern geschlagen und sie nach Walhalla geschickt.

Der Gedanke getrennt von ihrer Familie zu sein, unerreichbar weit weg, weil das Meer zwischen ihnen lag, schmerzte sie auf eine Weise, wie nichts zuvor.
Dennoch konnte sie es sich nicht leisten den Mut zu verlieren.
Ihr Schicksal hatte noch nicht sein Ende gefunden, das hatten die Götter ihr gezeigt und so lange dem nicht so war, würde sie sich dem Schmerz, der Sehnsucht und dem Kummer nicht hingeben.

Sie würde ihre Rolle spielen, bis sich ihr eine ordentliche Möglichkeit zur Flucht auftun würde, oder ihr Vater zurückkam, um sie doch noch zu befreien.
Denn das würde er. Es blieb nur die Frage wann.

„Weshalb bleibe ich nicht beim König?", fragte sie also, unterdrückte all die negativen Gefühle und schob sie in die hintersten Ecken ihrer Gedanken.
Es galt nun einen klaren Verstand zu wahren.

Als gäbe es ihm endlich die Sicherheit, dass sie ihn auch wirklich verstanden hatte, atmete er kaum merklich auf. Caja erkannte es dennoch an den leichten Bewegungen seiner Schultern.
„Ich gab deinem Vater das Wort, dass es dir gut gehen wird und ich halte, was ich verspreche. Und da ich in die Wasserlande zurückkehren werde, kann ich dich schlecht dort lassen - an einem Ort, an dem ich dich nicht im Blick habe."

„Wenn du willst, dass es mir gut geht, dann gib mir ein Schiff und lass mich nachhause segeln", entgegnete sie energischer als beabsichtigt.
Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen und riss sich wieder zusammen. „Verzeihung."

Hätte ihr Vater nun gehört, dass sie sich bei einem Angelsachsen entschuldigte, hätte er sie mit Sicherheit geohrfeigt.
Doch er war nicht hier und sie war nicht der Typ, der zwischen Völkern unterschied.
Wenn ihr jemand Respekt entgegenbrachte, erwiderte sie ihn.

Askwin hatte ihr indirekt gesagt, dass er sie weiterhin schützen würde und diese Sache mit Füßen zu treten, gehabte sich nicht.
Sie sollte ihm dankbar sein und das war sie auch, aber eben nur zum Teil.

Zwei Männer nahmen den Vogel vom Feuer, begannen ihn zu zerteilen, woraufhin Cajas Sitznachbar sich erhob und sofort seine Portion und die ihre verlangte.
Er reichte ihr das heiße Fleisch, das sie ein wenig auskühlen ließ und dann zu verspeisen begann.
Es war so zart, dass es auf der Zunge zerging.
Selten hatte sie so etwas ausgesprochen Leckeres gegessen, weshalb sie es sich verkneifen musste dabei zu schmatzen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Askwin sie musterte.
Sie wandte ihm das Gesicht zu, wischte sich die Mundwinkel an ihrem Handrücken ab. „Was ist? Noch nie eine Frau gesehen, die isst?"

„Doch", antwortete er ihr. „Aber nicht so. Die Frauen in Angelland, zumindest die, die ich kenne, essen in gerader Haltung und nicht mit den Fingern."

Unweigerlich musste sie lachen, schüttelte den Kopf. „Siehst du hier irgendwo Besteck?"

Er räusperte sich, kratzte sich kurz im Nacken, da er sich ertappt fühlte. „Nein", gestand er dann. „Verzeih mir."

Beinahe schon kameradschaftlich klopfte sie ihm auf die Schulter, nachdem sie sich den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte, schluckte hinunter und meinte anschließend grinsend: „Die Frauen in Angelland haben alle einen Stock im Arsch. Das hat mir einer meiner Freunde schon erzählt. Wieso so tun, als wäre ich etwas besseres, wenn wir am Ende des Tages doch einfach alle nur Menschen sind?"
Ihre Brauen zogen sich zusammen und gespielter Ernst legte sich über ihr Gesicht. „Oder soll ich lieber so tun, als wäre ich euch unterlegen? Als bräuchte ich einen mutigen Mann, der mich beschützt?"

„Man nennt gesittetes Verhalten hier Manieren", brummte er leicht gereizt von ihren Worten. „Damen ..."

Kurzerhand warf sie sich einfach mit dem Rücken auf seinen Schoß, schnappte sich seinen Arm und platzierte ihn um ihre Hüften. „Oh bitte, Soldat Askwin, halte mich und gib Acht, dass mir nichts geschieht!", gab sie dabei theatralisch von sich. Sie legte sich ihren Handrücken an die Stirn und tat so, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Als sie die Augen schloss, hörte sie sein dunkles Lachen, doch noch ehe sie ihn wieder ansehen konnte, war es auch schon wieder verstummt.
Purer Ernst spiegelte sich auf seinen Gesichtszügen wieder, sodass sie sich unsicher war, ob er überhaupt wirklich erheiterte Geräusche von sich gegeben hatte.

Er schob sie von sich, sein Blick wanderte kurz nach links und brachte sie dazu, zu verstehen, was hier los war - er fürchtete seine Ehre zu ruinieren, wenn er sich so mit ihr gab.

Stumm erhob er sich, richtete den Fokus wieder auf Caja. „Komm. Du solltest hier nicht alleine bleiben."

„Das bin ich doch nicht", meinte sie, auch wenn sie begriff, was er damit meinte. Wenn er nicht in der Nähe war und auch Adalar oder andere Männer denen er vertraute, dann war sie nicht sicher.

Ohne ihn weiter erklären zu lassen stand sie also auch auf und folgte ihm still zurück zu seinem Zelt.
„Wenn du klug bist, wartest du hier auf mich, Adalar oder meinen Knappen - den blonden Burschen mit dem Verband im Gesicht."

Wenn du klug bist.
Das bedeutete, dass er ihr dennoch nicht vorschrieb, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Er setzte alles daran ihr das Gefühl zu geben, als wäre sie tatsächlich sein Gast und nicht länger seine Gefangene.

Sie begegnete ein weiteres Mal seinen Raubkatzen-Augen.
Er knirschte mit den Zähnen. „Und tu dir und mir noch einen Gefallen - tu so etwas wie gerade eben niemals wieder."

Mit diesen Worten ließ er sie allein im Inneren seiner Unterkunft zurück.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top