Nur die Erleichterung

Askwin

Er war erschöpft, aber ließ es sich zu keiner Sekunde anmerken.
Zwei Wochen irrten Henry und er bereits gemeinsam durch die Gegend, klapperten die vielen Dörfer und kleinen Städte auf der Suche nach Caja ab.
Aber egal in welchen Ort sie eingekehrt waren, niemand hatte etwas von der Vermissen gehört oder gesehen.

Askwin wollte die Hoffnung dennoch nicht aufgeben. Vielleicht hatten sie einfach auf der verkehrten Seite des Forstes mit ihren Nachforschungen begonnen.
Irgendwo da draußen musste Caja sein. Im besten Falle unversehrt. Lebendig.

„Wir sind auf der Suche nach einer Frau, die unsere Sprache nicht spricht!", rief er, sobald sie den Hauptplatz des nächsten Wohnorts erreichten. „Sie hat blondes Haar, ist schlank und groß und besitzt ein auffallendes Feuermal unter einem Auge!"

Abwechselnd blickte er in die sich um ihn versammelnden Gesichter und wie bei jedem Mal machte auch jetzt ein Raunen und Gemurmel die Runde, aber keiner trat vor um ihn die erlösenden Worte hören zu lassen.

Auch hier schien Caja nicht aufgetaucht zu sein. Ein Stich fuhr ihm durchs Herz. Was, wenn die Suche am Ende doch vergeblich war? Wenn sie zerfleischt in der Höhle des Bären lag, der auch Gregory getötet hatte?

Der König würde ihn vierteilen lassen, die Barbaren zurückkehren und einen jeden Angelsachen niedermetzeln.
Und er würde sich bis zum Tag der Abrechnung in Schuldgefühlen baden, sich ständig fragen, weshalb er sie aus den Augen gelassen hatte.

Mit den Zähnen mahlend wollte er sich bereits wieder abwenden. Es war noch früh am Morgen, so blieben noch genügend helle Stunden, um die nächste Siedlung zu erreichen und sich nach Caja zu erkundigen.

Gerade als er sein Pferd den Weg zurücklenken wollte, stellte sich ihm ein junges Mädchen in den Weg. Aschblondes Haar umrahmte die leicht geröteten, mit Sommersprossen versehenen Pausbacken und haselnussbraune Augen blickten unschuldig und in gleichen Maßen nervös zu ihm auf.

Irritiert zogen sich Askwins Brauen nach oben und seine Stirn legte sich in Falten. „Kann ich dir helfen, Kleine?", fragte er sanft. Für Kinder hatte er schon immer ein großes Herz besessen.

Er dachte an Ceadda zurück, den Burschen in dem von den Barbaren verwüsteten Dorf, das er vor rund zwei Monaten aufgesucht hatte. Und an das Versprechen, das er ihm gegeben hatte, ihn an seinem vierzehnten Namenstag nach Mercia zu begleiten.
Das würde er nicht vergessen.

„Ich denke, ich weiß von wem sie sprechen ... S...Sir", stammelte das Mädchen unsicher, spielte mit ihren dürren Fingern.
Es schmerzte ihn ein jedes Mal aufs Neue zu sehen, in welch ärmlichen Verhältnissen die Kinder in den Bauerndörfern aufwachsen mussten. Viele von ihnen überstanden die Winter oft nicht. Ob sich daran jemals etwas ändern würde?

Bei den zittrigen Worten begann Askwins Herz kräftiger zu schlagen, doch er hielt die Freude darüber zurück, nicht dass er am Ende doch nur enttäuscht wurde. „Wie kommst du darauf?"

„Meine Freundin im Nachbarort, Sir, sie erzählte mir vergangene Woche von einer Frau, die die beim Beerenpflücken und Pilzesammeln im Wald gefunden hatte. Auch erwähnte sie, sie würde ihr die angelsächsische Sprache beibringen, da sie nur wenige Worte davon beherrschte." Sie senkte den Blick, betrachtete lieber ihre Daumen.

Das muss sie sein.
„Sag mir, in welche Richtung müssen wir reiten, um dorthin zu gelangen und mit wem müssen wir dort das Gespräch suchen?"

„Gen Westen, Sir und fragt dort nach Charleen, Charles und Magna."

Askwin griff in seine Tasche, zog daraus einige Silbermünzen hervor und reichte sie dem Mädchen. „Kauft euch davon genügend Vorräte für die kalten Zeiten."

Die Augen der Beschenkten begannen zu leuchten. Sie schloss die Hände fest um die Gabe und knickste vor dem Lord. „Habt Dank, Sir!"

„Ich habe zu danken, Miss", entgegnete Askwin, ehe er sein Pferd antrieb und in die besagte Richtung führte.

Henry holte zu ihm auf, führte seinen Schecken im gleichen zügigen Tempo neben dem Rappen seines Herrn her. „Großartige Neuigkeiten!", jauchzte er. Die Worte sprühten nur so vor Erleichterung und schriller Freude.
Vermutlich da die Hoffnung in ihm aufkam, die Schuldgefühle die ihn plagten loszuwerden, für Cajas Verschwinden verantwortlich zu sein.

„Ich glaube erst daran, wenn ich sie mit eigenen Augen sehe", brummte Askwin und gab seinem Tier die Sporen, bis er über die freien Felder galoppierte. Alva, Cajas Stute, führte er hinter sich her.

Dabei löste sich der Zopf, mit dem er sein schulterlanges Haar im Nacken zusammengebunden hatte. Die losen Strähnen umwehten sein Gesicht, streichelten seine Wangen.
Beinahe schon fühlte es sich so an, als flöge er, so schnell wie er ritt. Keine weitere Sekunde wollte er mehr vergeuden. Er musste einfach wissen, ob die geheimnisvolle Fremde wirklich Caja war. Nach nichts sehnte er sich mehr, als sie wieder in Sicherheit zu wissen. In Sicherheit bei ihm.

Henry hatte Mühe auf seinem Pony hinterherzukommen, hinkte stets etwas nach.

Irgendwann tauchte das Dorf, von dem das Mädchen gesprochen haben musste am Horizont auf.
Erst dann drosselte Askwin das Tempo wieder.

Er stieg vom Rücken des Rappen und führte ihn und Cajas Pferd zu Fuß in die Siedlung, der Knappe dicht hinter ihm.
Wie immer dauerte es auch diesmal nicht lange, bis sich die neugierigen Bewohner um sie scharten.
Und wie jedes Mal erhob Askwin seine Stimme und rief: „Wir sind auf der Suche nach einer Frau, die unsere Sprache nicht spricht! Sie hat blondes Haar, ist schlank und groß und besitzt ein auffallendes Feuermal unter einem Auge!"

„Was wollt ihr von ihr?", drang sogleich eine weibliche Stimme an sein Ohr.

Er wandte ihr sein Gesicht zu, musterte das glanzlose Rot ihrer Haare, die schmalen Wangen und die alarmiert funkelnden, braunen Iriden.

„Sie gehört zu mir", erklärte er in ruhigem Ton.

Misstrauisch reckte sie ihr Kinn nach oben, drückte einen Korb mit Wäsche eng an ihre Brust. „Wie lautet Euer Name?"

„Verzeiht mir, dass ich ihn nicht sofort genannt habe. Ich bin Sir Askwin Seymour, Lord der Wasserlande und Heerführer des Königs. Und das ist mein Knappe, Henry Shepton."

Etwas Undefinierbares blitzte in ihren Augen auf, ehe sie nickte und die anderen die umherstanden mit einer scheuchenden Handbewegung davonjagte. „Hier gibts nichts mehr zu sehen!", rief sie, bevor sie Askwin und Henry deutete ihr zu folgen.

Ein Mann schloss sich ihnen an, lief in ihrem Rücken. Askwin konnte den misstrauischen Blick ständig in seinem Nacken brennen spüren. Er kämpfte gegen den Drang an, seine Hand an den Griff seines Schwertes zu legen, so unsicher machte ihn die gesamte Situation. 
Selbst der Rappe des Lords und der Schecke des Knappen schnaubten nervös bei der Spannung, die in der Luft lag. Nur Alva wirkte entspannt, als wüsste sie, dass sie ihre Herrin bald wiedersehen würde.
Askwin versuchte sich an ihre Ruhe anzupassen, denn ihm war bewusst, dass er das Vertrauen, das die Siedler ihm entgegenbrachten nicht gefährden durfte, wenn er erfahren wollte was mit Caja geschehen war.

Sie wurden zu einer Hütte geführt und ihnen wurde gezeigt, wo sie die Reittiere während ihres Aufenthalts anbinden konnten, bevor sie das kleine Heim gemeinsam betraten.

Der Geruch von Ziegen und frischer Milch kroch Askwin in die Nase. Unterdessen ließ er seine Augen aufmerksam durch die überschaubare Räumlichkeit gleiten.
Ein runder Esstisch mit drei Stühlen und einem Schemel, ein prasselnder Kamin, eine Ecke, in der gekocht wurde, gegerbtes Ziegenfell, das auf dem knarrenden Boden lag und als Teppich diente.

Der Herr des Hauses lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Eingangstür, verfolgte jede noch so kleine Bewegung von Askwin und Henry.
Der Knappe begann indes nervös an den Ärmeln seiner Tunika zu nesteln, richtete seine Aufmerksamkeit auf die lodernden Flammen.

„Sie hat von Euch gesprochen", erhob die Frau schließlich ihre leicht kratzige Stimme, stellte ihren Wäschekorb auf dem Esstisch ab. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften. „Von einem Lord, dem sie untersteht und zu dem sie dringend zurückkehren muss."

Askwin nickte bedächtig, brummte ein leises: „So ist es." Dabei fühlte er sein so Herz heftig gegen seine Brust trommeln, als versuchte es auszubrechen. „Ist sie noch hier?" Still betete er.

„Das kommt darauf an", meldete sich nun der Mann zu Wort, ließ das Gesagte wie eine Drohung klingen.

Der Lord wandte sich ihm zu, musterte ihn ohne eine Gefühlsregung auf seinem Gesicht zu zeigen. „Worauf?"

„Ist sie Eure Sklavin? Sie sprach davon, dass sie von einem Sklavenhändler geflohen wäre. Wenn dem so ist, dann wird sie nicht wieder mit Euch gehen. Dann werdet Ihr Verschwinden und sie wird niemals hiervon erfahren. Bei uns lebt sie als freie Frau." Gefährlich funkelten die Augen des Mannes, der den Ausgang versperrte.

Askwin stutzte. Das hatte sie ihnen erzählt? Vermutlich besser als die Wahrheit, dennoch brachte ihn ihre Geschichte nun in die Bredouille. „Sie ist mein Gast", antwortete er ruhig.

„Eine Sklavin, die ein Gast sein soll?" Die Rothaarige klang wenig überzeugt.

„Der Lord rettet die Sklavinnen und Sklaven", mischte sich Henry mit ein, bevor Askwin etwas darauf erwidern konnte. „Er kauft sie frei und überlässt es ihnen dann, ob sie zum Dank freiwillig auf seiner Festung arbeiten wollen. Und Caja wollte es. Aber der Händler versuchte uns über den Tisch zu ziehen, wollte während Nacht und Nebel davonziehen mit dem Geld und der eigentlich versprochenen Gegenleistung. Also floh sie. Das war es, was sie vermutlich hatte erzählen wollen, aber wie Ihr sicher festgestellt habt, ist sie der angelsächsischen Sprache nicht mächtig und kann sich daher nicht ausdrücken wie einer von uns."

Beinahe schon beeindruckt musterte Askwin seinen Knappen. So gut hatte er den Burschen noch nie lügen gehört. Er glaubte es ihm schon fast selbst.

„Sie war ihrer nicht mächtig", widersprach der Mann. „Unsere Tochter, Magna, hat sich die Zeit genommen, sie ihr beizubringen."
Er klang besänftigt durch Henrys Schilderung.

Und auch seine Gattin wirkte nun ruhiger. Sie ließ die Arme sinken, atmete geräuschvoll aus. „Wenn dem wirklich so ist, dann wird sie erfreut sein, Euch wiederzusehen. Und dann kann ich auch verstehen, weshalb sie so unbedingt in Eure Heimat in die Wasserlande wollte. Ihr könnt von Glück reden, dass sie nicht bereits losgezogen ist, denn das wollte sie. Sie befindet sich bei Magna hinter dem Haus, im Stall bei den Ziegen."

„Darf ich zu ihr?" Immer kräftiger schlug das Organ in seiner Brust, drohte ihm die Rippen zu brechen.

Wortlos rückte der Hausbesitzer von der Tür weg, trat nach draußen und deutete im Gehen, dass Askwin ihm folgen sollte.

„Warte hier auf mich und hilf der guten Frau zum Dank bei ihrer Arbeit", wies der Lord Henry an, ehe er ebenfalls das Heim verließ.

Er lief dem gut anderthalb Köpfe Größeren nach, der ihn zu den Stallungen hinter dem Gebäude führte. Der Geruch der Ziegen war hier noch penetranter, sodass Askwin die Nase rümpfen musste. Seiner Empfindung nach stanken diese Wiederkäuer noch mehr als Schweine.

„Magna!", rief der Vater seine Tochter. „Wir haben Besuch!" Dann trat er gemeinsam mit dem Lord ein.
Das Stroh raschelte unter ihren Füßen, die Ziegen hoben neugierig die Köpfe, kauten dabei genüsslich weiter auf Heu herum.

Ein kleiner Rotschopf tauchte aus einer hinteren Ecke auf, blieb stehen, sobald Askwin ins Sichtfeld trat. Magna sah aus wie ihre Mutter.
„Wer ... wer ist das?", stammelte sie an ihren Vater gerichtet, ließ den Lord dabei aber nicht aus den Augen. Sie leuchteten grün im Schatten des Stalls, beinahe wie kleine Glühwürmchen.

Hinter dem Mädchen folgte eine weitere Person.

Sobald Askwin das Feuermal erkannte, konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
Flinken Schrittes lief er auf sie zu und presste sie wortlos gegen seine Brust.
Es war der erste Moment seit langem, in dem er seine Emotionen für jeden erkennbar zuließ. Die Erleichterung, die er in dieser Sekunde spürte, war zu überwältigend.

Caja lebte. Sie lebte und es ging ihr gut.

Völlig überrumpelt ließ sie seine Umarmung zu und nur kurz darauf legte sich einer ihrer Arme um seinen Rücken. Vermutlich fühlte sie das gleiche.

Eine gute Minute verharrten sie so, ehe sie sich voneinander lösten. Cajas Lippen zierte ein Lächeln und er erwiderte es. „Ich bin froh, dich gefunden zu haben", sagte er auf der Sprache der Nordstämmigen.

„Denke darüber wie du möchtest", erwiderte sie. „Aber allein die Götter haben das möglich gemacht. Ohne deren Hilfe wäre ich gestorben."

Ob nun ihren Göttern, dem Glück, oder dem Schicksal geschuldet, Askwin war einfach nur froh darüber, sie wiedergefunden zu haben. Kaum merklich atmete er auf. Nun war auch er wieder in Sicherheit, hatte nichts mehr von Seiten des Königs zu befürchten.

Unterbewusst zwang sich ihm die Frage auf, ob wirklich nur die Erleichterung darüber für sein rasendes Herz verantwortlich war. Bilder der Erinnerung blitzten vor seinem geistigen Auge auf. Bilder über den Traum. Cajas nackte Haut. Ihre vor Lust bebende Stimme. Wie weich sich ihre Lippen angefühlt hatten.

„Es wird Zeit, dass wir endlich in meine Heimat einkehren", brummte er sich aus seinen Gedanken befreiend, zog Silbermünzen aus seiner Tasche und drückte sie Magnas Vater in die Hand. „Für Eure Hilfe." Dann sah er wieder zu Caja. „Verabschiede dich und dann stoße zu mir und Henry. Wir werden vor dem Haus bei den Pferden warten."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top