Keine Fische, keine Liebe

Askwin

Er beobachtete wie ihr für einen Moment sämtliche Gesichtszüge entglitten, doch nur kurz darauf fasste sie sich wieder und stellte eine undefinierbare Miene zur Schau.

Es widerstrebte ihm sich in sie hineinzuversetzen, aber er tat es dennoch unterbewusst. Wie schrecklich es doch für jemanden sein musste, von seinem Volk einfach zurückgelassen zu werden. Wie verloren und enttäuscht man sich fühlen musste.
Aber für Caja war es weitaus mehr als das. Es war ihr eigener Vater gewesen, der eingewilligt und sie dem Feind überlassen hatte, wenn auch nicht ganz freiwillig.
Er hatte ihre Axt, die Askwin ihm gegeben hatte, als einziges Indiz dafür hernehmen müssen, dass der Lord die Wahrheit sprach und sein Kind noch am Leben war.
Nur zögerlich war er auf den Handel eingegangen, war mit seinen Männern zurück in die Heimat gekehrt, um das Leben seiner Tochter zu retten.
Und auch wenn Askwin sich sicher war, dass sie erneut nach Angelland kommen würden, so wog er sich doch in Sicherheit, so lange er Caja an seiner Seite hatte.

Während er sie dabei beobachtete, wie sie sich auf der Pritsche niederlegte ohne ein weiteres Wort an ihn oder Adalar zu richten, tat sich ihm die Frage auf, ob er sie wirklich getötet hätte, hätte der Anführer der Barbaren seinen Handel ausgeschlagen.
Es wäre seine Pflicht gewesen, seinen Schwur zu halten und doch ... hätte er gezögert?

Er erinnerte sich an ihren Anblick, als das Blut seiner Soldaten an ihr gehaftet hatte, aber dennoch sah er in ihr nicht wirklich eine Gefahr.
Sie war wie ein Wolf, den man von seinem Rudel getrennt hatte - sie versuchte keine Angst zu zeigen, aber war trotzdem unsicher ohne die Stärke ihrer Truppe in ihrem Rücken und hielt sich daher klugerweise lieber zurück.

„Ich werde noch etwas schlafen", verkündete sie noch, ehe sie die Augen schloss.
So lange hatte sie sich der Welt der Träume hingegeben und doch war sie müde und erschöpft.
Sie brauchte etwas Ordentliches zu essen, um wieder zu Kräften zu kommen.

Askwins Blick glitt hinüber zu Adalar, der nickte, als hätte er lediglich anhand der Art wie ihn der Lord angesehen hatte begriffen, was er von ihm wollte.
So setzte sich der junge Mönch auf die Teppiche, bereit der schlafenden Wilden Gesellschaft zu leisten und auf sie Acht zu geben.
Nicht nur um sicherzugehen, dass sie nicht doch auf die Idee kam zu fliehen, sondern auch um zu verhindern, dass einer der Soldaten auf dumme Gedanken kam.
Sie war noch immer der Feind und viele verstanden nicht, weshalb der Heerführer sie nun unter seine Fittiche nahm, anstatt sie ihrer gerechten Strafe - dem Tod - zuzuführen.

Der Lord winkte seinem Knappen ihm zu folgen, welcher seiner Aufforderung nachkam.
„Sir, wenn Ihr erlaubt, dann postiere ich mich hier und passe auf, dass niemand ohne Eure Erlaubnis das Zelt betritt."

„Du siehst doch kaum, Junge", antwortete Askwin, klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter, da er ihn dadurch keineswegs kränken wollte. „Nein, du kommst mit mir."
Bevor sie sich zwei Pferde nahmen und das Lager verließen, gab er zwei anderen Männern, denen er vertraute die Aufgabe, die Henry hatte übernehmen wollen.

Gemeinsam ritten sie ein Stück durch den Wald.
Askwin hatte seinen Bogen mitgenommen, sollten sie unterwegs auf brauchbare Beute stoßen. Ein Reh oder gar eine Wildsau wären etwas wunderbares gewesen.
Doch die Jagd war in diesem Moment nur zweitrangig für ihn. Er hatte mit Henry reden wollen. Allein.

„Noch ein weiterer Tag und wir werden in Wessex eintreffen", begann er das Gespräch.

Der Knappe öffnete den Mund um zu antworten, schloss ihn aber wieder, bevor auch nur ein Wort seine Lippen überkommen konnte.
So redete Askwin einfach weiter: „Auch wenn ich mit dir um dein eines Auge trauere, so glaube ich doch fest daran, dass dich diese Erfahrung zum Mann gemacht hat. Vielleicht begreifst du nun doch endlich den Ernst der Welt. Dass nicht alles wie im Traum abläuft - wie man es sich wünscht und es gerne hätte."

Ein tiefes Seufzen drang an die Ohren des Heerführers, dann folgte doch Entgegnung: „Hrodwyn ... sie wird mich abstoßend finden, mit der Narbe. Sie entstellt mein Gesicht." Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

„Und das ist auch besser so, verstehst du? Sie ist eine Prinzessin. Du bist ein Knappe. Möglicherweise wirst du später einmal zum Ritter geschlagen, aber du wirst niemals blaues Blut in deinen Adern tragen."
Sie erreichten ein Gewässer, an dem sie die Pferde Halt machen ließen.

„Aber ich liebe sie, Sir Seymour. Mein Herz wird bluten ...", murmelte Henry, ehe er abstieg und sich zum Fluss hinabbeugte, um sein Trinkgefäß aufzufüllen und sich ein paar Hände voll frischem Wasser in den Mund zu schaufeln.

„Und die Wunde wird gestillt werden durch das Pflaster der Zeit", antwortete ihm Askwin, sank neben ihm auf die Knie und tat es ihm gleich.
In ihren Rücken erklang immer wieder in regelmäßigen Abständen das ruhige Schnauben der Pferde.

„Wart Ihr je verliebt, Sir?"  Der Knappe starrte auf die Strömung, betrachtete sein verschwommenes Abbild in den seichten Wellen.

Askwin zögerte, dachte über die Frage nach, während er versuchte unter der Oberfläche Bewegungen von Fischen zu erkennen.
Wie lange hatte er schon keinen Barsch und keinen Wels mehr gegessen?
Ein Reh würde mehrere Personen ernähren, was selbsterklärend von Vorteil war, aber er sehnte sich nach dem zarten Fleisch eines Wasserbewohners.
Doch in diesem Gewässer schien es ebenso wenig Leben zu geben, wie es in seinem Herzen Liebe gab.
„Nein. Aber das ist nicht schlimm."

„Verzeiht mir meine Worte, aber dann wisst Ihr auch nichts davon."
Henry richtete sich wieder auf, blickte seinen Begleiter entschuldigend an.

„Vielleicht nicht davon, aber darüber wie es ist, einen für mich wichtigen Menschen zu verlieren und ihn auch wirklich loszulassen."
Der Lord gab die Suche nach Fischen auf, erhob sich ebenfalls wieder, wischte sich feuchte Erde von den Beinen.

„Bei aller Bewunderung, die ich für Euch empfinde, aber den Tod einer Mutter kann man nicht mit dem Verlust der Liebe seines Lebens vergleichen." Der Blonde ging zurück zum Pferd, stieg wieder auf.

Askwin musterte sein Gesicht. „Wieso nicht?"
War es dieses Mal womöglich er, der etwas dazu lernen konnte? Von einem Jüngling, der zehn Jahre weniger Erfahrung besaß als er?

„Nun ...", setzte Henry an, wartete bis auch der Lord erneut den Rücken seines Tieres erklommen hatte.
„Natürlich liebt man die eigene Mutter auch, aber niemals so. Was ich für Hrodwyn empfinde ist so viel mehr. Es ist eine schicksalhafte Bestimmung zweier Seelenverwandter füreinander ... ich vergöttere sie, verehre sie, begehre sie."
Während sie weiter nebeneinander her ritten, kreuzten sich ihre Blicke und ein schelmisches Grinsen schlich sich auf die Lippen des Knappen. „Ich meine, Ihr würdet doch niemals mit Eurer Mutter das Bett teilen, mit ihr Kinder bekommen und eine neue Familie gründen, ihr ein Anwesen erbauen und die Welt zu Füßen legen wollen, oder etwa doch?"

Askwin schüttelte mit angeekeltem Ausdruck auf dem Gesicht den Kopf. „Natürlich nicht! Allein der Gedanke ... man kehrt nicht in den gleichen Schoß ein, aus dem man geboren wurde."
Die Vögel trällerten ihr Morgenlied, während sich die Sonne ihrem höchsten Punkt näherte. Trotz der Kraft, mit der sie schien, schwebte eine gewisse Schwüle in der Luft und kündigte im Laufe des Tages Regen, oder gar ein Gewitter an.
„Das erklärt vielleicht den Unterschied der Art der Liebe, aber nicht die des Schmerzes des Verlusts."

Henry dachte darüber nach, wie er dem Lord begreiflich machen konnte, dass es in diesem Bereich auch Differenzen gab, öffnete schließlich wieder den Mund: „Was bin ich für Euch Sir?"

Der Knappe war sich ebenso gewahr darüber wie Askwin, dass er mehr als nur ein Handlanger für ihn war.
Mit beinahe schon verträumtem Ausdruck auf den sonst so harten Gesichtszügen dachte der Heerführer an den Tag zurück, an dem er sich dazu entschieden hatte, sich Henrys Person anzunehmen.
Er war dessen Vater einst sehr nahegestanden, einem Mann, der aus Askwins Ländereien entstammt war.
Als er eines Tages den Pocken erlegen war, nachdem er wochenlang versucht hatte gegen sie anzukämpfen, bat seine Frau den Lord darum, ihren Sohn mit sich zu nehmen, da sie nicht die Möglichkeit besaß ihn und sich selbst nach dem Ableben ihres Gatten durchzufüttern.

Ohne Umschweife kam Askwin der Bitte nach, schwor sich und Henrys Mutter, dass er sich um den Burschen kümmern würde.
Das war mittlerweile drei Jahre her und aus dem Dreizehnjährigen war ein junger Mann geworden.
Er hatte ihm den Schwertkampf beigebracht, so wie das Lesen und das Schreiben und auch wie er sich unter Adligen zu benehmen hatte.
Und in all dieser Zeit war Henry ihm ans Herz gewachsen. So sehr, dass es gebrochen wäre, wäre der Knappe durch die Hände der Barbaren umgekommen.

„Du bist wie ein Sohn für mich", antwortete er ihm also ohne wirklich zu zögern.

„Hätte es auf andere Weise geschmerzt mich zu verlieren? Auf andere Art, als es damals wehgetan hat, als Eure Mutter gestorben ist?"

Askwin begegnete Henrys neugierig funkelnde Augen, dachte über seine Frage nach und nickte dann. „Das hätte es wohl."

„Seht Ihr. Und deshalb könnt Ihr auch nichts damit vergleichen wie es für mich sein wird, Hrodwyn loszulassen." Tief seufzte der Knappe, der sein Schicksal trotz des Kummers, der ihn heimzusuchen begann, zu akzeptieren schien.

Der Heerführer musste sich geschlagen geben und dem Jungen sein Recht zugestehen. „Gut ...", meinte er und räusperte sich leicht. „Dann ist es eben etwas anderes. Aber dennoch bin ich mir sicher, dass der Schmerz vergehen wird und irgendwann, ja, da bin ich mir ebenfalls sicher, wirst du eine Frau finden, die zu dir passt und die dich trotz, oder sogar um deiner Narben Willen lieben wird."

Henrys Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und er schüttelte ungläubig den Kopf, doch bevor er seinem Lord auf höfliche Weise widersprechen konnte, raschelte es unweit von ihnen im Gebüsch.
Askwin bremste das Pferd, stieg von ihm ab und reichte seinem Knappen, der ebenfalls die Füße auf den Erdboden setzte, die Zügel.
Dann nahm er den Bogen, spannte gekonnt einen Pfeil in die Sehne ein und näherte sich der Richtung, aus der wieder und wieder Geräusche zu ihnen drangen.

Vorsichtig schob er mit den Ellenbogen das Blätterdach der Sträucher ein wenig zur Seite um besser sehen zu können und erspähte dann unweit von ihnen einen recht großen Auerhahn.
Zwar kein Reh und auch kein Wildschwein, aber dennoch ein Tier, das groß genug war, von dem mehr als nur zwei Männer satt werden konnten.

Askwin schloss sein linkes Augen, um besser zielen zu können, atmete tief durch und ließ dann von der gespannten Sehne ab.
In einer geraden Bahn schoss der Pfeil durch die Luft, erzeugte dabei ein surrendes Geräusch.
Das gefiederte Tier hörte sein Unglück auf sich zurasen, doch es blieb ihn keine Zeit mehr, seinem Schicksal zu entfliehen.
In dem Moment, in dem es begann mit den Flügeln zu schlagen, um auf den nächstgelegenen Baum zu hüpfen, grub sich die Spitze des Geschosses auch schon in seine Brust und sorgte für den Stillstand seines Herzens.

Leblos ging der Auerhahn zu Boden, zuckte noch für die Dauer von ein paar Wimpernschlägen, ehe er sich gar nicht mehr rührte.

Zufrieden über seine Beute, stapfte Askwin auf das tote Tier zu, zog den Pfeil aus seiner Brust und hob es dann an den Klauen hoch.
Es war schwer, was den Lord nur noch glücklicher stimmte, denn das bedeutete ein kräftigendes Mahl.

„Was für ein Schuss, Sir!", jubelte Henry, der alles beobachtet hatte.
Er folgte seinem Herrn mit dem Blick, als dieser den Auerhahn mit einem Strick am Sattel seines Pferdes befestigte.

„Wenn wir wieder in Wessex sind, dann nehme ich dich mit auf die Jagd", versprach Askwin dem Burschen. „Und dann wirst du deine erste Wildsau erlegen."
Nachdem er sich sicher war, dass die Knoten um die Stelzen des Vogels fest genug gezogen waren, stieg er auf und schlug den Rückweg ein.

Henry trabte ihm hinterher. „Wenn wir wieder in Wessex sind ...", setzte er leise an. „Was wird dann mit der Wilden geschehen? Der König schrieb zwar davon, dass sie sein Gast sein wird, aber ..."

„Ich weiß es nicht. Aber es ist nicht mehr meine Angelegenheit. Ich habe wie verlangt den Frieden wieder hergestellt und die Barbaren aus Angelland vertrieben. Alles andere geht mich nichts mehr an", fiel Askwin ihm ins Wort.

„Sie ist nicht wie die anderen, Sir."
Der Blick des Knappen bohrte sich in Askwins Haut, bis dieser ihm das Gesicht zuwandte. „Weshalb nicht? Wie kommst du darauf?"

„Während der Schlacht um Haversbrook, ehe ich zu Boden gerissen wurde und ehe Gregory sie greifen konnte, da sah ich sie, wie sie versuchte sich an einer Hauswand vor den Soldaten zu verstecken. Ich habe einst gehört, die Augen sind die Fenster zur Seele eines Menschen. In denen der anderen Barbaren sah ich nichts als Brutalität und wie sehr sie nach Blut lechzten, aber in Cajas, da meinte ich Reue erkennen zu können."
Er machte eine kurze Pause, fuhr sich dabei durch sein blondes Haar. „Was ich damit sagen will ist, ich verstehe, dass sie eine Feindin unseres Landes ist, aber sie verdient es nicht, dass man sie wie einen Hund an Ketten legt und in den Kerker wirft."

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich werde nicht in Wessex bleiben und für sie bürgen. Mein Weg führt mich zurück in die Wasserlande, zurück in meine Heimat", brummte Askwin, der sich der Wahrheit bewusst war, die in den Worten des Knappen lag.
Nein, seine Gefangene verdiente es nicht, in einer kalten Zelle zu verrotten, bis sie das nächste Mal gebraucht wurde.
Sie mochte feurig sein, selbstbewusst, aber nicht böse.

„Das verstehe ich, Sir, denn auch mich zieht es zurück in die Heimat." In dem Gesagten schwang Sehnsucht mit. Sehnsucht danach, seine Mutter wiederzusehen und Hoffnung darauf, in den Wasserlanden den Gedanken an die Prinzessin, die er niemals bekommen würde, zu entfliehen.
„Aber habt Ihr euch ihrer nicht angenommen, als Ihr ihrem Vater versichert habt, dass es ihr gut ergehen wird? So gesehen seid Ihr es, der für sie verantwortlich ist, so wie Ihr für mich verantwortlich seid. Sagt dem König das und bittet ihn darum, sie mit Euch in die Wasserlande nehmen zu dürfen."

„Das ist ...", setzte Askwin an, unterbrach sich selbst und endete in einem heiseren Gelächter, dabei den Kopf schüttelnd.
Verrückt. Das hatte er sagen wollen. Doch war es das?
Bei ihm wäre sie sicher.
Sollte der Anführer der Barbaren zurückkehren und sehen, dass seine Tochter abgemagert war und Blessuren am ganzen Körper trug, dann war der Handel dahin.
Und war Askwin nicht ein ehrlicher Mann? Hatte er sich nicht stets geschworen, immer sein Wort zu halten?
Wenn er Caja den Händen König Harold überlassen würde, dann würde er sein Versprechen brechen.

Er knirschte mit den Zähnen, sagte nichts mehr dazu, doch das war auch gar nicht nötig. Man sah ihm an den zuckenden Mundwinkeln an, dass er mit sich rang und mit der Wahrheit, mit der Henry ihn konfrontiert hatte.

Was würde man von ihm denken, wenn er sie mit sich in die Wasserlande nahm? Eine Fremde? Eine Feindin? Eine Barbarin?
Aber auch wenn ihm alles daran missfiel, so war ihm doch bewusst, dass es das einzig Richtige war.

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