Götter in Bärenfell und Menschenhaut
Caja
Kalt.
Ihr war bitterlich kalt.
Und ihr Schädel schmerzte so sehr, als wäre ein Pferd darauf gestiegen.
Zitternd schlug sie die Lider auf, blickte in einen grenzenlos blauen Himmel. Keine einzige weiße Wolke war zu sehen.
Sollte das Valhalla sein?
Wenn dem so war, wo waren dann das Jubeln, das Geräusch von anstoßenden Hörnern, das Lachen und Singen, die Musik?
Und weshalb starrte sie in dieses unendliche Blau, anstatt an eine imposante Decke aus geschlagenem Marmor?
Entfernt hörte sie das Rauschen eines Gewässers.
Mit jedem Atemzug, den sie tätige, sickerten nach und nach mehr Erinnerungsfetzen in ihr Bewusstsein.
Gregory. Sie hatte mit ihm gekämpft, war mit ihm einen Abhang hinuntergestürzt.
Da war rote Flüssigkeit gewesen.
Blut?
Nein, Wein.
Und der Soldat war nicht tot gewesen, wie sie es zunächst befürchtet hatte.
Er hatte sie in den Fluss gedrückt. Sie hatte keine Luft mehr bekommen, hatte versucht sich zu wehren, es dann aber doch aufgegeben. Es eingesehen, dass es sinnlos war nach jemandem zu treten und zu schlagen, den sie nicht vor Augen hatte.
Irgendwann hatte sie nur noch still und regungslos in das Wasser gestarrt, hatte Luftblasen zu ihrer Rechten und Linken aufsteigen sehen. Ihre Lungen hatten wie Feuer gebrannt, während schwarze Punkte ihr Sichtfeld eingenommen und sich schließlich zu einer einheitlichen Fläche vereint hatten.
Dann war da nichts mehr gewesen. Nur nur Dunkelheit.
Hustend wurde sie sich darüber klar, dass sie noch am Leben sein musste.
Sie fasste sich an die Brust, die sich beständig hob und wieder absenkte.
Sie atmete.
Sie bekam wieder Luft.
Das Wasser hatte sie nicht umgebracht.
Aber wieso nicht?
Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, dass Gregory es sich doch noch anders überlegt hatte.
Da war diese Flammen gewesen, die durch seine Iriden gezüngelt waren und Caja verraten hatten, dass er sie töten würde. Komme was da wolle.
Noch ehe sie sich aufsetzte, mischte sich das Rauschen des Flusses mit einem weiteren Geräusch. Einem schmatzenden.
Mit zittrigen Armen stützte sich Caja auf.
Ihr nasses blondes Haar fiel ihr in Strähnen ins Gesicht, blaue Flecken zierten ihren ganzen Körper an den unterschiedlichsten Stellen.
Noch immer lag sie auf dem feuchten Kies am Ufer.
Ein Schmerz durchzuckte ihren Kopf, als sie ihn drehte, um ihre Situation besser einzuschätzen zu können.
Sie fasste sich an die Schläfe, massierte sie leicht, verharrte dann in ihrer Bewegung, als sie sich dem Ursprung der Schmatzgeräusche gewahr wurde.
Ein Bär stand unweit von ihr seichten Wasser.
Sein braunes Fell glänzte im Schein der Sonne, während er sich über etwas hermachte, das unter seinen schweren Pranken lag.
Stück für Stück riss er aus dem toten Fleisch. Blut klebte ihm an der schwarzen Schnauze, besudelte auch die sonst weißen Zähne.
Cajas Herz begann heftig gegen ihre Brust zu schlagen, während sie langsam aufstand, darauf bedacht keinen Lärm zu verursachen. Sie wusste wie sensibel die Ohren dieser Raubtiere waren.
Es war nicht das erste Mal, dass sie einen Bären zu Gesicht bekam, aber das erste Mal, dass sie ihm so nahe war.
Ihn nicht aus den Augen lassend taumelte sie auf schwankenden Beinen vorsichtig rückwärts.
Da erst wurde ihr bewusst, was es war, das zur Beute des Jägers geworden war. Ein Mensch.
Finger ragten in das Wasser.
Graues, mit Blut beflecktes Haar wurde von den Strahlen der Sonne berührt.
Gregory hatte doch noch seinen Tod gefunden, wenn auch nicht durch ihre Hände.
So auf das große Tier konzentriert, bemerkte Caja den größeren, glatten Stein nicht rechtzeitig, der nun unter ihren nassen Schuh geriet.
Sie erstickte einen Schrei, aber der Bär bemerkte sie trotzdem.
Kleine schwarze Augen funkelten die Blonde an und er leckte sich die dunklen Lefzen.
Caja war sich sicher, dass dies nun auch ihr Ende bedeuten würde, aber der Waldbewohner rührte sich nicht.
Beinahe schon gleichgültig musterte er sie, wie sie dort auf dem Kies herumkroch und sich unter größter Anstrengung wieder auf die Beine hievte.
Caja erwiderte seinen Blick. Eine Weile starrten sie sich einfach nur gegenseitig an. Sie ihn mit wild pochendem Herzen und er sie mit ungewöhnlicher Ruhe.
Dann wandte er sich einfach ab. Ließ den toten Mann am Flussbett liegen und verschwand zwischen den Blumen.
Die junge Frau konnte es kaum glauben, als ihn mit den Schatten der Birken und Eichen verschwimmen sah.
War er so gesättigt von dem halbgefressenen Mann gewesen, dass er sich nicht für sie interessiert hatte?
Mit den Armen um den bebenden Leib geschlungen beeilte sie sich in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden, bevor es sich der Bär womöglich doch noch anders überlegte.
Ohne jegliche Orientierung stolperte sie durch das Dickicht.
Wie sollte sie jemals wieder zurück zum Lager finden? Zurück zu Askwin?
Sie musste sich darauf verlassen, dass er sie aufspüren würde.
Und so lange galt es in ihr unbekanntem Gefilde zu überleben.
Darin war sie gut.
Sie kannte die Natur, wusste wie man jagte, wie man sichere Plätze fand, um zu schlafen.
Dennoch hoffte sie, dass sie nicht zu lange auf sich selbst gestellt sein würde und vor allem, dass sich während dieser Zeit niemandem über den Weg lief.
Erneut verfluchte sie sich dafür, dass sie die Sprache der Angelsachsen noch immer nicht gelernt hatte.
So hätte sie vielleicht auch Gregory von seinem wahnwitzigen Vorhaben abbringen können.
Schlussendlich hatte sich der Mann sein eigenes Grab geschaufelt.
Auch wenn sie es zu gerne selbst gewesen wäre, die ihm das Leben genommen hätte, war sie dankbar, dass es der Bär getan hatte.
Denn wenn man Gregory nun finden würde, dann würde man ganz genau erkennen, wer der Mörder gewesen war.
Die tiefen Furchen, die die Klauen eines Bären in Fleisch hinterließen, waren mit nichts anderem zu vergleichen.
Selbst ein Blinder hätte sie durch einfaches Betasten des Leichnams erkannt.
Die feinen Äste zerrten an Cajas nasser Kleidung, die Wurzeln schienen sich ihr absichtlich in den Weg zu stellen und sie wieder und wieder zum Stolpern zu bringen.
Erschöpft wie jetzt hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Nicht einmal nach der Schlacht, als sie die schwere Verletzung am Bauch getragen hatte.
Das Bedürfnis sich einfach irgendwo zu setzen kam in ihr auf, aber sie kämpfte dagegen an.
Solange sie nicht wusste, wo es sicher war, sich Ruhe zu gönnen, konnte sie keinen Halt einlegen.
Die Sonne erreichte ihren höchsten Punkt, schickte ihre Strahlen durch das Blätterdach und trocknete Cajas Kleidung und Haar, während die junge Frau sich immer weiterkämpfte.
Der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen.
Ihre Kehle war trocken, ihr Magen leer und ihre Beine zitterten schlimmer als Gras, das vom Wind eines Sturms geküsst wurde.
Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Seiten.
Aber sie hielt nicht an. Machte einen Schritt nach dem anderen und ließ ihren Blick dabei so aufmerksam wie es ihr in ihrem Zustand noch möglich war, stetig die Umgebung abwandern.
Ihr Geist war willig, aber der Körper wollte Stunden nach ihrem Aufbruch vom Fluss nicht mehr.
Als der große Feuerball sich zum Schlafen niederlegte und die Dämmerung durch den Wald schickte, sackten Cajas Beine unter ihrem Leib weg und ließen sie auf den Waldboden krachen.
Sie war sich bewusst darüber, dass es den Tod bedeuten konnte einfach auf ungeschütztem Terrain liegenzubleiben, rührte sie sich dennoch nicht.
Sie starrte reglos auf die Äste über ihrem Kopf, die sanft hin und her wogten.
Ihre Lider flatterten aufgrund der Erschöpfung und auch gegen das Verlangen sie einfach zu schließen kam Caja irgendwann nicht mehr an.
Mit zitternden Fingern umschloss sie den Anhänger, der um ihren Hals baumelte, befühlte den hölzernen Talisman.
Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als ihr etwas bewusst wurde.
Das Tier, das Gregory getötet und ihr eine weitere Chance auf das Leben geschenkt hatte, war ein Gott im Bärenfell gewesen.
Beruhigt von diesem Gedanken ließ sie sich auf den Schwingen des Windes in das Land der Träume tragen.
Wenn die Götter sie einmal beschützt hatten, dann würden sie es auch ein weiteres Mal tun.
Ihre Geschichte war noch nicht zu Ende geschrieben, ihr Schicksal auf dieser Erde noch nicht erfüllt.
Die aufgeregten Schreie eines Kindes ließen Caja die Augen aufschlagen.
Sie meinte die Worte entziffern so können, so hatte sie sie schon einmal bei den Angelsachen gehört.
„Sie lebt! Mutter, sie lebt!"
Stöhnend drehte Caja ihren Kopf, um sehen zu können, was vor sich ging und blickte in das rundliche Gesicht eines kleinen Mädchens.
Rotes Haar umrahmte die weißen, mit Sommersprossen benetzten Wangen und strahlende Augen, die an das Gefieder eines Grünspechts erinnerten, starrten direkt in Cajas.
Erschrocken wich die Kleine zurück, als Caja sich aufsetzte. Sie machte ein paar tapsige Schritte zurück, wandte sich dann einer hageren langen Frau zu und griff nach deren Hand.
Mit Argwohn musterte die Ältere die auf dem Boden Liegende.
Ihre braunen Iriden überflogen all die Verletzungen, die Cajas Körper schmückten, betrachteten das verknotete blonde Chaos auf ihrem Kopf und die müden blaugrauen Seelenfenster.
Schließlich beugte sie sich zu Caja hinab, nachdem sie ihre vermeintliche Tochter losgelassen hatte.
Das weiße Tuch, das das glanzlose rote Haar zurückgehalten hatte, rutschte ihr in die Stirn, als sie ohne zu zögern den Bären berührte, der Cajas Hals zierte.
Dann, wortlos als würde sie verstehen, dass Gerede nichts bringen würde, richtete sie sich wieder auf und hielt Caja die Hand entgegen.
Die Tatsache, dass die Frau den Talisman angefasst hatte, entfachte sofort Vertrauen in Caja.
Sicher hatten die Götter auch sie geschickt, um ihr zu helfen.
So ließ sie sich von der eigentlich Fremden auf die Beine helfen und sich danach vor Erschöpfung wankend von ihr und dem kleinen Mädchen durch den Wald führen.
Schon bald nahm der Forst ein Ende und gab den Blick auf ein kleines Dorf am Fuße eines grasbewachsenen Hügels frei.
Das Kind stürmte ihn hinab, rannte auf ein offenes Feld, direkt in die Arme eines dort arbeitenden Mannes.
Sicherlich musste das der Vater sein. Das Oberhaupt der kleinen Familie.
Die Mutter rief der Tochter etwas hinterher, das wie ein Name klang.
Magna.
Caja und die Ältere folgten nicht auf den Acker, worüber Erstere mehr als nur froh war.
Sie konnte sich ja kaum noch auf den Beinen halten.
Stattdessen betraten sie eine der Hütten, gefolgt von vielen misstrauischen Blicken der Bewohner, die die Gastgeberin aber nicht zu kümmern schienen.
Die von den Göttern Gesandte half Caja auf einen Stuhl, reichte ihr dann einen Tonbecher mit frischem Wasser.
Caja trank gierig davon, leerte ihn bis auf den letzten Tropfen und musterte dann ihre Retterin, die sich ihr gegenüber niedergelassen hatte.
Ihre leicht eingefallenen Wangen zeugten davon, dass sie nicht ausreichend aß und die dunklen Ringe unter den Lidern von einem Mangel an Schlaf.
Dennoch lag ihren Zügen eine natürliche Schönheit inne.
Sie tippte sich an die Brust. „Charleen."
Das musste ihr Name sein.
„Caja."
Ein erschöpftes Lächeln schlich sich auf die Lippen der Jüngeren.
Charleen deutete auf die Arme ihres Gegenübers.
Henrys Tunika war an vielen Stellen durchlöchert. Darunter zogen sich Schnitte über Cajas Haut, die sie sich beim Stürzen zugezogen hatte.
Um die geröteten Wunden hatten sich blaue, lilane und grüne Blutergüsse gebildet.
„Das wird schon wieder", flüsterte Caja, betrachtete die hässlichen Blessuren nicht länger.
Stattdessen musterte sie erneut Charleen, die sich erhoben hatte, um einen Eimer mit sauberem Wasser und ein Leinen zu holen.
Mit den Utensilien kniete sie sich vor Caja.
In dieser Haltung erinnerte die Frau sie schon beinahe an eine Sklavin ihrer Mutter.
Erneut breitete sich Schweigen in dem wenig beleuchteten Raum aus.
Charleen begann ungebeten die Verletzungen ihres Gasts zu säubern und sie mehr oder weniger gut zu verbinden.
Währenddessen wanderte Cajas Blick durch das kleine Haus. Sie war überfordert mit der Menge an Gastfreundschaft, die ihr hier entgegengebracht wurde.
Sie betrachtete die schlecht verarbeiteten Möbel aus Holz, die Kräuter die über einer Arbeitsfläche hingen und den Geruch von Salbei und Thymian verbreiteten und die aufgeschichteten Scheite neben dem offenen Kamin.
Alles in allem erinnerte dieses einfache Heim Caja an ihr eigenes.
Schmerzhaft zog sich ihre Brust zusammen.
Aber sie hatte keine Zeit in Gedanken zu versinken.
Auch wenn Charleen sicher von Odin gesandt worden war, musste Caja wieder von hier verschwinden, ehe sie und die anderen Bewohner begriffen, dass sie zu den Nordstämmigen gehörte.
„Askwin Seymour", warf sie also den Namen des einzigen Mannes in den Raum, bei dem sie wirklich sicher war. „Lord der Wasserlande." Dabei bemühte sie sich, so akzentfrei wie möglich zu klingen.
Charleen hob den Blick und schüttelte den Kopf.
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